06.04.2023

Wo Pommes???

Olaf Jagger
Auf der Suche nach der fiktionalen Wahrheit...
(Foto: Neue Visionen)

Dokumentarfilme im April – der fiktionale Dokumentarfilme [sic]: Zu Olaf Jagger von Heike Fink, Sorry Genosse von Vera Brückner, KRAI von Aleksey Lapin und Brüder der Nacht von Patric Chiha

Von Nora Moschuering

Jetzt mach ich ein schon zahl­reiche Male geöff­netes Fass auf und das wegen eines Filmes, der es eigent­lich nicht so ernst meint: Olaf Jagger. Eine Mischung aus Olaf Schubert und Mick Jagger, wobei Letzterer nur Impuls­geber ist, also wenn dann, imaginär vorkommt. Der Film­ver­leih Neue Visionen stellt Olaf Jagger als »fiktio­nalen Doku­men­tar­film« vor (das Wort hybrid haben wir ja ohnehin nie so recht in unsere Herzen schließen mögen). »Fiktio­naler Doku­men­tar­film« ist ein Oxymoron, also ein Zusam­men­schluss zweier gegen­sätz­li­cher Begriffe und damit, wenn auch nicht wahn­sinnig originell, gar nicht mal so schlecht.
Im Haus der Kunst in München läuft gerade eine Ausstel­lung des Karrabing Film Coll­ec­tives aus Austra­lien. 50 Mitglieder fasst die Gruppe und es ist die erste umfas­sende Einzel­aus­stel­lung einer indigenen Künstler:innen­gruppe aus Austra­lien, in der Pres­se­mappe steht außerdem dazu: »Ihre häufig als 'impro­vi­sierter Realismus' beschrie­benen Arbeiten öffnen einen Raum jenseits des klas­si­schen, binären Konzepts von Spielfilm und Doku­men­tar­film.« Ich empfehle den Besuch der Ausstel­lung, habe mich aber über dieses angeblich »klas­si­sche« Konzept geärgert, denn das mit der Binarität ist ja schon lange nicht mehr haltbar und war es wahr­schein­lich noch nie, weder im Kino- noch im Kunst­be­reich. Trotzdem war es immer schon ein Ausgangs­punkt für zahl­reiche wichtige Diskurse. Ich bin nicht dafür, die beiden Begriffe: Fiktio­naler Film/Spielfilm und Doku­men­tar­film aufzu­geben, schon alleine um sich an etwas reiben, um über etwas disku­tieren und nach­denken zu können und das muss man besonders über all das »Dazwi­schen« (siehe auch G_GESCHICHTEN und Lovemobil: Wo im Dunkeln konstru­iert wird).

Dieses Mal also anhand von Olaf Jagger, der am 06.04. in den Kinos startet. Nichts gegen Olaf Jagger, aber ich hatte mir, als ich mit dieser Reihe anfing, doch erhofft, dass ich eine etwas größere, monat­liche Doku­men­tar­film­aus­wahl hätte. Leider finde ich in der Liste, in der ich Film­starts recher­chiere, wöchent­lich etwa 8-11 Starts von fiktio­nalen Filmen und in jeder Woche nur 1 Doku­men­tar­film­start. Das ist drama­tisch, selbst wenn ich den ein oder anderen übersehen habe. Was ist denn da los?! Und das jetzt, wo Nicolas Phili­berts Sur l’Adamant den Goldenen Bären bekommen hat!?! Der einzige Doku­men­tar­film im Wett­be­werb der dies­jäh­rigen Berlinale! Wollen wir uns nicht mehr mit der Gegenwart beschäf­tigen? Und wenn, nur in kleinen Häppchen in den Media­theken? Ich meine, ich schaue auch regel­mäßig »Zu Tisch« auf Arte, esse Kaffee und Kuchen im Garten­center und höre den »Drei???-Fall der Woche«, zum Runter­kommen, aber will ich das im Kino? Unter dem Aspekt finde ich die Entschei­dung für Sur l’Adamant, den ich nicht gesehen habe, aber in dem es anschei­nend um Mensch­lich­keit, Empathie und Vers­tändnis geht, der es schafft, Probleme zu zeigen, aber auch Lösungen, die in uns liegen, sehr gut.

Ist Olaf Jagger mensch­lich? Na, zumindest ist er manchmal lustig und fällt im Großen und Ganzen in die Ablen­kungs­sek­tion, was ihm viel­leicht zu vielen Zuschauer:innen verhelfen wird. Immerhin macht er ja schon mal eins richtig: Er hantiert mit großen Namen.

Olaf Jagger
Der Vorname bezieht sich auf Olaf Schubert (eigent­lich Michael Haubold), der mit Karo­pul­lunder in der heute-Show sitzt und mit ziemlich über­zeu­gender Miene, scheinbar ziemlich plausibel, unplau­sible Dinge erzählt. Hier ist der erste, quasi doppelt-fiktio­nale Moment: Michael Haubold aka Olaf Schubert aka Olaf Jagger. Ist Michael Haubold jetzt eigent­lich ein Schau­spieler? Oder Klein­künstler? Performer? Michael Kirby, ein Thea­ter­theo­re­tiker, würde das, was er macht wohl als »simple acting« bezeichnen und das ist nicht so despek­tier­lich gemeint, wie es viel­leicht klingt (Sacha Baron Cohen als Borat »simple overacted« dagegen), und es passt für diesen Film. Mit uns macht sich Olaf auf die Suche nach seinem möglichen Vater: Mick Jagger. Diese Suche bildet die fiktio­nale Linie, die durch die reale Welt führt. Am 11. September 1965 gaben die Rolling Stones ihr aller­erstes Deutsch­land­kon­zert in Münster. Das stimmt. Olaf Schubert äh Haubold ist ein bisschen zu spät geboren, nämlich 1967, aber das ist mir jetzt auch zu spitz­findig, ich nehme die Prämisse einfach mal an und die heißt: Olaf Schubert! macht sich auf die Suche nach der fiktio­nalen Wahrheit [sic].

Was kann man, außer recher­chier­baren Fakten, noch in einem Film tun, um ihn zu einem Doku­men­tar­film zu machen? Ganz genau: Man nutzt eine bewegte Hand­ka­mera, die manchmal nicht hinter­her­kommt und die man in sensiblen Momenten um Privat­sphäre bittet, Super 8-Familien-Aufnahmen, das Durch­bre­chen der vierten Wand, Bauch­binden und wenn man es sehr echt will, dann nimmt man auch noch Diskus­sionen über Bild­rechte mit rein.

Olaf Schubert macht sich mit all dem auf und reist in die Musik­ge­schichte der DDR und befragt Zeit­zeugen und Zeit­zeu­ginnen nach den damaligen Umständen. Eine davon ist Christine Dehn, die beim DDR-Jugend­hör­funk­sender DT 64 Mode­ra­torin war und mit der Olaf Schuberts Mutter gear­beitet hat (oder nicht?). Die beiden laufen während ihres Gesprächs durch aufge­las­sene Teile des ehema­ligen Rund­funk­ge­bäudes, quasi on location. Dann sind da noch Toni Krahl, der Sänger der Rock-Band »City«, als Gegensatz dazu Hartmut König, ehema­liger Lieder­ma­cher und Sekretär des Zentral­rates der FDJ, dann SED-Funk­ti­onär und ab 1989 stell­ver­tre­tender Kultur­mi­nister ... und noch viele weitere. Leider dürfen Krahl und alle anderen nicht lange erzählen, denn sie müssen ja die fiktive Geschichte weiter­treiben. Das ist sehr schade, denn sie erzählen schon in den wenigen Minuten so viel Inter­es­santes über die ostdeut­sche Rockmusik und Kultur­po­litik, dass man gerne mehr erfahren würde. Aber Olaf muss weiter, er recher­chiert auch in West­deutsch­land und landet schließ­lich in Frank­reich vor Jaggers Feri­en­haus, äh Château. Das macht schon auch Spaß, aber dazu muss man den Stil von Olaf Schubert mögen. Er kann impro­vi­sieren und hat eine gute Art, entspannt auf sein Gegenüber einzu­wirken, so dass sie gerne erzählen. Nach etwa 40 Minuten gibt es dann eine »Auflösung«, das bedeutet aber leider auch, dass der Film in den privaten Bereich abkippt. Jetzt wird es ein bisschen schwierig, denn diese persön­liche, mit starken Emotionen verbun­dene Geschichte muss jetzt von Haubold getragen werden, der zwar gut inter­agieren und impro­vi­sieren kann, aber der jetzt doch ein bisschen allein gelassen wirkt.
In Olaf Jagger wird leider vieles, was inter­es­sant wäre – und das ist eben nicht die fiktive Geschichte, die ist ja relativ simpel – nur anerzählt, und das ist schade, trotzdem ist es ein sympa­thi­scher Film und in jedem Fall einer, in dem man sich entspannen kann.

Sorry Genosse
Zu einem anderen Doku­men­tar­film, der auch in der DDR ange­sie­delt ist und Anfang des Jahres in den Kinos lief: Sorry Genosse von Vera Brückner. Er erzählt die Liebes­ge­schichte von Hedi und Karl-Heinz, die in Hedis Flucht aus der DDR mündet. Es ist so schön, wie schwer Liebes­ge­schichten im Doku­men­tar­film zu erzählen, was hier aber funk­tio­niert, denn obwohl die beiden nicht mehr zusammen sind, spürt man doch die Energie zwischen ihnen: In den Briefen, die sie vorlesen, in den Blicken die sie sich zuwerfen, dem gemein­samen Erinnern an das Zusam­men­sein und sich nach dem Anderen sehnen. Wir erinnern uns mit ihnen aber auch an die poli­ti­schen Umstände Ende der 60er-Jahre, die die Beiden mal als Aufbruch sehen, als Chance und Heraus­for­de­rung, die sich aber oft als Hürde heraus­stellen. Vera Brückner hat nach Orten gesucht, die aus den 70ern stammen könnten, und die beiden in diese Settings gesetzt. Daneben wird auch hier mit Footage aus der Zeit gear­beitet, dieses Mal aber vor allen Dingen, um die persön­liche Geschichte auch histo­risch einzu­betten und nicht, wie bei Olaf Jagger, rein emotional. So zeigt der Film, wie bedeutsam und fesselnd es ist, wenn Menschen ihre eigene Geschichte erzählen, wie es ja auch bei Olaf Jagger anklingt. Im zweiten Teil von Sorry Genosse wird dann mit vollem Einsatz und mit aller Absur­dität Hedis Flucht aus der DDR als Krimi­nal­spiel nach­ge­stellt. Mit dabei: Settings, Requisite, Licht, Farben, durch­dachte Texte, die Spannung erzeugen. Wir gehen mit den Beiden in diesen Genre­bruch, denn das Leben ähnelt eben manchmal auf absurde Weise dem Spielfilm.
So ein Spiel­film­dreh kann auch eine Moti­va­tion sein, anhand derer man die Realität erkundet, so macht es KRAI.

KRAI (2021)
»Wann fahren wir zurück nach Wien?« – »Wenn das Projekt beendet ist.« Der Regisseur Aleksey Lapin dreht einen histo­ri­schen Spielfilm über ein Dorf an der russisch-ukrai­ni­schen Grenze. Und der Filmdreh ist fiktiv, oder doch nicht? Die Bewohner*innen, unter ihnen auch einige von Lapins Fami­li­en­mit­glie­dern, bewerben sich als Schau­spieler:innen. Aber sind die Casting­szenen Vorarbeit oder schon Teil des Films? Und was ist mit dem ein bisschen eitlen Auftreten der Filmcrew, die bei einem Stadtfest in einer sehr schönen Szene vorge­stellt wird? Mögli­cher­weise ist das aber auch egal, mir zumindest ging es nach einer Zeit so, dass ich es gar nicht mehr ausein­an­der­halten wollte, weil die Mischung so merk­würdig, inter­es­sant und auch befremd­lich ist, dass keine Kategorie mehr Halt fand. Fragmente fädeln sich auf: Begeg­nungen, Zufälle, Insze­nie­rungen, Rätsel­haftes. Ein Auto bleibt liegen, der Strom fällt aus. Ein mäan­derndes, magisches Making-off das, anders als Olaf Jagger oder Sorry Genosse, so gut wie nicht mehr narrativ ist, man kann nur noch einzelne Fäden zu kleinen Geschichten spinnen. Doku­men­tar­film war eigent­lich schon immer Film »nach dem Drama«, nur leider scheint das in letzter Zeit immer mehr vergessen zu werden, was sicher auch daran liegt, dass das Drama sich als Erwartung des Publikums durch­ge­setzt hat, weswegen wir es auch im Doku­men­tar­film suchen. Dabei ist der Doku­men­tar­film etwas ganz was Kniff­liges, viel­leicht spielt er deshalb in der bildenden Kunst so eine große Rolle. Also suchen wir auch in KRAI: Wovon soll der Film handeln? Man erfährt es nicht, aber man könnte es in ein paar Szenen erahnen: Irgendwie geht es um eine Liebe oder doch nicht? Dann wieder gibt es Szenen, in denen sie einen Kame­ra­mann zeigen, der in einer ortho­doxen Kirche filmt und über seine Leiden­schaft für das Filmen spricht, das scheint sehr doku­men­ta­risch, ebenso wie die Tableaux in denen Situa­tionen entstehen, die ihre Zeit brauchen, um sich zu entfalten, wie die pensio­nierte Lehrerin, die vor einer Blumen­ta­pete und Kissen mit Spit­zen­bezug sitzt, in einem Blumen­kleid. Es werden ein paar Fragen nach ihrer Vergan­gen­heit gestellt. Sie antwortet, erzählt über ihre Arbeit, über ihren Mann. Oder eine Gruppe, die sich über das Vergehen der Zeit unterhält, den Sozia­lismus, sie spielen Gitarre, singen und befinden sich dabei in einem abend­li­chen Dämmer­zu­stand. Es ist ein Film über einen Film, in dessen Rahmen ein Film über einen Ort entstanden ist und das alles gehört zusammen.

Brüder der Nacht (2016)
Patric Chihas Film erzählt von bulga­ri­schen Burschen in Wien, die wissen, wann sie am Film teil­nehmen und wann nicht. So können sie sich in das orange-blaue Licht stellen, in den Spot, an eine Bar, an den Fluss, mit Nebel, mit Kostüm, mit Bezahlung und (ihre) Geschichten erzählen. Die Absprache war, anders als bei KRAI, klar, auch für uns Zuschauer:innen, weil die Künst­lich­keit schön und sehr offen­sicht­lich ist. Ähnlich auch wie bei Sorry Genosse, nur das hier das populäre Kino (wenn man es so nennen möchte) bedient wird und nicht das Arthaus-Kino (falls man es so nennen möchte), Chiha insze­niert sie im Stil von Fass­bin­ders Querelle.
Dann sehen wir die Burschen im »Rüdiger«, einer Wiener Kneipe, in der sie auf ihre Freier warten, posieren, Billard spielen, Bier trinken oder in ihre Handys gucken und sich gegen­seitig Bilder und Filme zeigen und von ihren Familien in Bulgarien erzählen. Kurz kommen wir auch in ihre Zimmer, die schäbig und über­teuert sind, wo sich der eine auf seinem Bett zusam­men­rollt und sagt: Er komme gleich mit zu einer Prosti­tu­ierten und man meint – aber man meint es natürlich nur – seine Erschöp­fung zu sehen, auf dem ausge­le­genem Bettlaken. Momente der Beob­ach­tung, die sie Chiha vertrau­ens­voll geben.
Dabei ist es auch weniger wichtig, was sie genau sagen, sondern wie sie es sagen und wie sie sich dabei bewegen. So ist Brüder der Nacht auch ein Film der Körper, der Blicke, der Gesten: Bewe­gungen, Provo­ka­tionen und Annähe­rungen. Die letzte Szene ist dabei nicht die einzige, aber die offen­sicht­lichste: eine bulga­ri­sche Party, auf der die Burschen alleine und mitein­ander tanzen. Ohne Worte erfährt man dabei etwas über Sehnsucht, Schmerz, Freude, Zärt­lich­keit, Aggres­sion, Einsam­keit, Nähe und Zusam­men­gehö­rig­keit. Das ist sinnliche, körper­liche Spannung anstelle einer drama­ti­schen.

»Was für ein Film ist das nun, fragt Alejandro Bachmann, ein Doku­men­tar­film oder nicht vielmehr ein Spielfilm mit Laien­dar­stel­lern? Für Chiha: Eine Reise vom Doku­mentar- zum Spiel- zum Doku­men­tar­film.«.

Klare Grenzen sind schwierig, aber wie ich schon zu Beginn geschrieben habe, denke ich nicht, dass deswegen alles beliebig werden sollte und man keine Begriffe wie Spiel- und Doku­men­tar­film mehr bräuchte, im Gegenteil, man sollte die Chance haben, beides zu erkennen, so dass man zur Miter­schaf­fenden der Filme wird. Dabei sollte man aber eben nicht miss­trau­isch werden, sondern kompetent und neugierig sein, auch darin, Ambi­va­lenzen zuzu­lassen.