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"Human beeings are not made to be monogamous",
erzählt Susan Sarandon. Endlich sagt es mal jemand.
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Gestern zum Beispiel haben wir Valentina kennen gelernt,
eine überraschend groß gewachsene, hübsche
Chinesin aus Shanghai, die in Rom Filmregie studiert. Die
hat allerlei interessante Dinge über die chinesische
Gesellschaft berichtet und nebenbei ganz schön viel Mist
geredet, zum Beispiel, sie sei "wie Samantha aus Sex
in the City'". Dann erzählte sie von ihrem Freund,
einem 55-Jährigen - sie ist 22 - Künstler, und auf
die Frage, was eigentlich hübsche junge Mädchen
daran finden, mit Männern liiert zu sein, die ihr Vater
sein könnten, erzählte sie nicht nur, dass er gut
verdiene, sondern auch wie glücklich sie mit ihm sei,
und wie gern sie für ihn koche und die Hemden bügle
und so weiter. Sie sei gerne "a typical chinese woman".
Bevor wir nun ganz neidisch auf den alten Sack wurden, erzählte
Valentina auch noch, dass sie ihn auf dem Festival mit einem
der Darsteller von SEVEN SWORDS betrogen habe - "I felt
so lonely". So kann's gehen auf einem Filmfestival. Gelobt
seien die Klugheit von Susan Sarandon, und die Modernität
der chinesischen Frauen. Und hoffentlich liest der Herr aus
Rom nicht unser Tagebuch.
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Den Film, aus dessen Anlass Sarandon eine Pressekonferenz
gab, John Tuturros ROMANCE AND CIGARETTES, haben wir leider,
leider verpasst. Hoffentlich gewinnt er nicht gerade den Hauptpreis.
Könnte aber sein, denn viele Kollegen mochten ihn, verglichen
ihn mit Jacques Demy, und wir wurden ganz grün im Gesicht.
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Kirsten Dunst, Orlando Bloom, Heath Ledger und Matt Damon
- wie immer sind es am Lido von Venedig vor allem US-Stars,
die sich auf dem roten Teppich des Filmfestivals tummeln.
Den meisten Applaus bekamen bisher allerdings zwei Stars aus
Europa: Mit stehenden Ovationen feierte man die französische
Schauspielerin Isabelle Huppert und ihren Regisseur Patrice
Chereau. Mit GABRIELLE, der Adaption der Joseph-Conrad-Novelle
"The Return", wurde Chereau im Nu zum Favoriten
im Wettbewerb um den Goldenen Löwen - und kehrt zugleich
zum Genre des Kostümfilms zurück, in dem der berühmte
Opernregisseur zuletzt 1994 mit LA REINE MARGOT (dt. BARTHOLOMÄUSNACHT)
brillierte. Die Begeisterung mit der hier nahezu alle den
Film begrüßen, speist sich schon aus der tollen
Kamera Eric Gautiers (der einem ja schon im letzten Jahr mit
ROI ET REINE auffallen konnte). Auch Chereaus Spiel mit dem
Wechsel von Schwarzweiß zu Farbe beeindruckt - die Farbe
schießt ins Bild, wie das Blut ins Hirn, die Leidenschaft
ins müde Gemüt eines Mannes, der nach Hause kommt,
und von seiner Frau verlassen wurde. Der schönste Moment
war sein Gang kurz zuvor durch sein Haus, einen großbürgerlichen,
mit allerlei Kunst verstellten Eispalast. Chereau und Gautier
erwecken alte Photographien zum Leben, spielen auf der Klaviatur
unserer Hirnfilme, der inneren Assoziationsketten, für
die man kein Filmkritiker sein muss: An Raul Ruiz Proust-Verfilmung
und Altmans GOSFORD PARK denkt man hier ebenso, wie an Jonathan
Glazers BIRTH, der hier vor einem Jahr lief.
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Nur Kollege Wolfgang Höbel findet den Film "theaterhaft"
und ansatzweise affektiert - was man eigentlich doch viel
eher über INTIMACY und SON FRERE sagen kann, Chereaus
letzte, zweifellos etwas überschätzte Filme. Aber
GABRIELLE gelingt genau, was die anderen Filme vermissen ließen:
Eine Welt aus einem Guss, Entsprechung von Form und Inhalt.
Wer das als verfilmtes Theater empfindet, übersieht damit
unserer Ansicht nach, was die Kamera dem Spiel der Schauspieler
hinzufügt. Unglaublich dicht erzählt GABRIELLE ein
Ehedrama aus der Belle Epoque mit einer perversen Angstlust
an diesem System von Zwängen und Formen, von zwanghaftem
Verhalten auch noch in intimsten Situationen - bürgerliche
Gesellschaft als Horrorszenario, mit Anspielungen an Murnaus
NOSFERATU und Dreyers Sozialdramen. Venedig, schrieb Patricia
Highsmith, kann sehr kalt sein. Die Liebe aber nicht minder.
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Die Eiseskälte der Gesellschaft und ihrer Geschlechterverhältnisse,
diesmal der zeitgenössischen, ist auch das Thema des
neben Chereau bisher besten Wettbewerbsfilms: SYMPATHY FOR
LADY VENGEANCE vom Koreaner Park Chan-wook. Nach SYMPATHY
FOR MR VENGEANCE, der in Berlin lief, und OLD BOY, der in
Cannes den zweitwichtigsten Preis gewann, ist dies ein großer
Abschluss von Parks "Rachetrilogie", beeindruckend
und voller visueller Kraft - ohne dass sich der Regisseur
auch nur ein fingerbreit wiederholen würde. Eine junge
Frau wird erpresst, einen Mord zu gestehen, den sie nicht
beging, und will sich nach 13 Jahren an dem Schuldigen rächen.
Doch dann kann sie es nicht tun, und findet einen anderen,
subtileren Weg. Ein pathethisch-ironisches Drama, große
Oper mit subtilen politischen und historischen Bezügen
- Kino, das auch nach Tagen nicht an Kraft verliert.
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Pflichtschuldige Mail eines Redakteurs: "Der Feuilleton-Chef
war eben hier und hat zum Venedig-Artikel einen Wunsch geäußert:
Ob Du nicht mit dem Casanova-Auftritt auf dem Markus-Platz
beginnen könntest; muss wohl irgendein Spektakel gewesen
sein, und ob Du auch etwa über's Drumherum schreiben
könntest, Lokalbezug, Stimmung, Trallala.. also, nicht
nur harte Filmkritik und Wettbewerb". Dies nur mal als
Beispiel für den Leser, womit man es hier in Venedig
auch noch so zu tun hat.
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Jedes Jahr aufs Neue beschert einem das Festival von Venedig
aufregende, praktische Erlebnisse. Diesmal sind es die Zahlenspiele.
Wer als Journalist im Presseraum im Casino einen der überaus
begehrten Computerplätze ergattern will, muss nämlich
ein kleines dünnes Papier mit einer Lauf-Nummer aus einem
Automaten ziehen. Nacheinander werden diese Nummern dann,
wie beim Behördenbesuch, aufgerufen, und man bekommt
einen Platz. In der Praxis hat die Sache allerdings erhebliche
Nachteile, zugleich bietet sie höchst interessantes Studienmaterial
für soziales Lernen.
Denn was macht der chronisch in Zeitnot befindliche Festivalbesucher?
Weil fast immer viele Nummern zwischen einem selber und dem
nächsten Computer liegen, hat er spätestens am dritten
Festival-Tag gelernt, immer im Vorbeigehen eine Nummer zu
ziehen, auch wenn er jetzt im Augenblick gar keinen Platz
braucht. Denn jetzt bekommt man ja sowieso keinen. Manchmal
kann man einen ganzen Film sehen, bis die nächsten 20
Nummern aufgerufen wurden. Vielleicht ist aber später,
nach einer Pressekonferenz, dem Leeren des Pressefachs, oder
einem Kaffee mit den lieben Kollegen die jetzige Nummer gerade
dran, und man muss gar nicht warten. Wenn es zu lang dauert,
kann man die Nummer immer noch einem Bekannten schenken -
oder tauschen, wenn man lieber etwas später erst wiederkommen
möchte. Weil das aber jeder, oder jeder zweite macht,
und weil man beim mehrfachen Vorbeigehen auch vorsichtshalber
- vielleicht ist man ja gerade auf dem Klo, wenn die eigene
Nummer dran ist, oder plaudert mit George Clooney (das war
jetzt ein Scherz, leider plaudert hier niemand mit George
Clooney) - eine zweite, dritte, ja: vierte und fünfte
Nummer zieht, kann man von der gerade laufenden Zahl überhaupt
nicht mehr auf die Zahl der Menschen schließen, die
vor einem dran sind. Weil zudem andere Nummerträger inzwischen
frustriert aufgegeben haben, und woanders schreiben, kann
es passieren, dass plötzlich in einer Minute 10 bis 15
Zahlen aufgerufen werden, ohne das sich ein Nummernträger
meldet. Und dann ist im Nu die eigene Nummer verfallen, weil
eben nicht vor einem noch 15 Leute dran waren. Wer zu spät
kommt, den bestraft auch hier das Leben - mit einem "Äh,
meine Nummer war vor einer Minute dran" erntet man hier
nur ein bedauerndes "Sorry Sir, you have to take a new
number."
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Die nächsthöhere Stufe des Zahlenspiels besteht
dann im Sammeln von Nummern. Wenn eine dran ist, werden die
kleinen Zettel nämlich nicht etwa eingesammelt, sondern
verbleiben beim Besitzer. Manche lassen die Zettel arglos
auf den Computertischen herumliegen; der vorausdenkende Zeitgenosse
sammelt die dann ein. Nummern werden hier von 1-99 vergeben,
um die Lotterie komplizierter zu gestalten, stehen vor den
Nummern noch die Buchstaben A-E. Es gibt also 495 verschiedene
Nummern. Ich kenne Kollegen, die haben schon knapp 50 gesammelt
- keine Namen bitte!
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In Cannes und Berlin funktioniert das alles anders, da gibt
es, wie im letzten Jahr auch noch in Venedig, eine Namensliste,
die den Vorteil hat, das jeder nur einmal draufstehen kann,
und das einer, der gerade auf dem Klo ist, drauf bleibt, und
dann, wenn er zurück ist, eben als nächster drankommt.
Aber das wäre ja zu einfach und auch viel weniger lustig
und ist eben der Unterschied zwischen Chaos und Ordnung, oder,
freundlicher gesagt: der Charme von Italien. Aber wir sind
uns schon lange sicher: Die ganze Organisation im Presseraum
ist in Wahrheit ein heimliches soziales Experiment.
Rüdiger Suchsland
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