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Venedig 2005 08.09.2005
 
 
Tagebuchnotitzen, 5. Folge
Bingo im Casino
WHERE THE TRUTH LIES
Ehedrama aus der Belle Epoque - GABRILLE von Patrice Chereau
 
 
 
 

"Human beeings are not made to be monogamous", erzählt Susan Sarandon. Endlich sagt es mal jemand.

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Gestern zum Beispiel haben wir Valentina kennen gelernt, eine überraschend groß gewachsene, hübsche Chinesin aus Shanghai, die in Rom Filmregie studiert. Die hat allerlei interessante Dinge über die chinesische Gesellschaft berichtet und nebenbei ganz schön viel Mist geredet, zum Beispiel, sie sei "wie Samantha aus ‚Sex in the City'". Dann erzählte sie von ihrem Freund, einem 55-Jährigen - sie ist 22 - Künstler, und auf die Frage, was eigentlich hübsche junge Mädchen daran finden, mit Männern liiert zu sein, die ihr Vater sein könnten, erzählte sie nicht nur, dass er gut verdiene, sondern auch wie glücklich sie mit ihm sei, und wie gern sie für ihn koche und die Hemden bügle und so weiter. Sie sei gerne "a typical chinese woman". Bevor wir nun ganz neidisch auf den alten Sack wurden, erzählte Valentina auch noch, dass sie ihn auf dem Festival mit einem der Darsteller von SEVEN SWORDS betrogen habe - "I felt so lonely". So kann's gehen auf einem Filmfestival. Gelobt seien die Klugheit von Susan Sarandon, und die Modernität der chinesischen Frauen. Und hoffentlich liest der Herr aus Rom nicht unser Tagebuch.

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Den Film, aus dessen Anlass Sarandon eine Pressekonferenz gab, John Tuturros ROMANCE AND CIGARETTES, haben wir leider, leider verpasst. Hoffentlich gewinnt er nicht gerade den Hauptpreis. Könnte aber sein, denn viele Kollegen mochten ihn, verglichen ihn mit Jacques Demy, und wir wurden ganz grün im Gesicht.

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Kirsten Dunst, Orlando Bloom, Heath Ledger und Matt Damon - wie immer sind es am Lido von Venedig vor allem US-Stars, die sich auf dem roten Teppich des Filmfestivals tummeln. Den meisten Applaus bekamen bisher allerdings zwei Stars aus Europa: Mit stehenden Ovationen feierte man die französische Schauspielerin Isabelle Huppert und ihren Regisseur Patrice Chereau. Mit GABRIELLE, der Adaption der Joseph-Conrad-Novelle "The Return", wurde Chereau im Nu zum Favoriten im Wettbewerb um den Goldenen Löwen - und kehrt zugleich zum Genre des Kostümfilms zurück, in dem der berühmte Opernregisseur zuletzt 1994 mit LA REINE MARGOT (dt. BARTHOLOMÄUSNACHT) brillierte. Die Begeisterung mit der hier nahezu alle den Film begrüßen, speist sich schon aus der tollen Kamera Eric Gautiers (der einem ja schon im letzten Jahr mit ROI ET REINE auffallen konnte). Auch Chereaus Spiel mit dem Wechsel von Schwarzweiß zu Farbe beeindruckt - die Farbe schießt ins Bild, wie das Blut ins Hirn, die Leidenschaft ins müde Gemüt eines Mannes, der nach Hause kommt, und von seiner Frau verlassen wurde. Der schönste Moment war sein Gang kurz zuvor durch sein Haus, einen großbürgerlichen, mit allerlei Kunst verstellten Eispalast. Chereau und Gautier erwecken alte Photographien zum Leben, spielen auf der Klaviatur unserer Hirnfilme, der inneren Assoziationsketten, für die man kein Filmkritiker sein muss: An Raul Ruiz Proust-Verfilmung und Altmans GOSFORD PARK denkt man hier ebenso, wie an Jonathan Glazers BIRTH, der hier vor einem Jahr lief.

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Nur Kollege Wolfgang Höbel findet den Film "theaterhaft" und ansatzweise affektiert - was man eigentlich doch viel eher über INTIMACY und SON FRERE sagen kann, Chereaus letzte, zweifellos etwas überschätzte Filme. Aber GABRIELLE gelingt genau, was die anderen Filme vermissen ließen: Eine Welt aus einem Guss, Entsprechung von Form und Inhalt. Wer das als verfilmtes Theater empfindet, übersieht damit unserer Ansicht nach, was die Kamera dem Spiel der Schauspieler hinzufügt. Unglaublich dicht erzählt GABRIELLE ein Ehedrama aus der Belle Epoque mit einer perversen Angstlust an diesem System von Zwängen und Formen, von zwanghaftem Verhalten auch noch in intimsten Situationen - bürgerliche Gesellschaft als Horrorszenario, mit Anspielungen an Murnaus NOSFERATU und Dreyers Sozialdramen. Venedig, schrieb Patricia Highsmith, kann sehr kalt sein. Die Liebe aber nicht minder.

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Die Eiseskälte der Gesellschaft und ihrer Geschlechterverhältnisse, diesmal der zeitgenössischen, ist auch das Thema des neben Chereau bisher besten Wettbewerbsfilms: SYMPATHY FOR LADY VENGEANCE vom Koreaner Park Chan-wook. Nach SYMPATHY FOR MR VENGEANCE, der in Berlin lief, und OLD BOY, der in Cannes den zweitwichtigsten Preis gewann, ist dies ein großer Abschluss von Parks "Rachetrilogie", beeindruckend und voller visueller Kraft - ohne dass sich der Regisseur auch nur ein fingerbreit wiederholen würde. Eine junge Frau wird erpresst, einen Mord zu gestehen, den sie nicht beging, und will sich nach 13 Jahren an dem Schuldigen rächen. Doch dann kann sie es nicht tun, und findet einen anderen, subtileren Weg. Ein pathethisch-ironisches Drama, große Oper mit subtilen politischen und historischen Bezügen - Kino, das auch nach Tagen nicht an Kraft verliert.

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Pflichtschuldige Mail eines Redakteurs: "Der Feuilleton-Chef war eben hier und hat zum Venedig-Artikel einen Wunsch geäußert: Ob Du nicht mit dem Casanova-Auftritt auf dem Markus-Platz beginnen könntest; muss wohl irgendein Spektakel gewesen sein, und ob Du auch etwa über's Drumherum schreiben könntest, Lokalbezug, Stimmung, Trallala.. also, nicht nur harte Filmkritik und Wettbewerb". Dies nur mal als Beispiel für den Leser, womit man es hier in Venedig auch noch so zu tun hat.

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Jedes Jahr aufs Neue beschert einem das Festival von Venedig aufregende, praktische Erlebnisse. Diesmal sind es die Zahlenspiele. Wer als Journalist im Presseraum im Casino einen der überaus begehrten Computerplätze ergattern will, muss nämlich ein kleines dünnes Papier mit einer Lauf-Nummer aus einem Automaten ziehen. Nacheinander werden diese Nummern dann, wie beim Behördenbesuch, aufgerufen, und man bekommt einen Platz. In der Praxis hat die Sache allerdings erhebliche Nachteile, zugleich bietet sie höchst interessantes Studienmaterial für soziales Lernen.

Denn was macht der chronisch in Zeitnot befindliche Festivalbesucher? Weil fast immer viele Nummern zwischen einem selber und dem nächsten Computer liegen, hat er spätestens am dritten Festival-Tag gelernt, immer im Vorbeigehen eine Nummer zu ziehen, auch wenn er jetzt im Augenblick gar keinen Platz braucht. Denn jetzt bekommt man ja sowieso keinen. Manchmal kann man einen ganzen Film sehen, bis die nächsten 20 Nummern aufgerufen wurden. Vielleicht ist aber später, nach einer Pressekonferenz, dem Leeren des Pressefachs, oder einem Kaffee mit den lieben Kollegen die jetzige Nummer gerade dran, und man muss gar nicht warten. Wenn es zu lang dauert, kann man die Nummer immer noch einem Bekannten schenken - oder tauschen, wenn man lieber etwas später erst wiederkommen möchte. Weil das aber jeder, oder jeder zweite macht, und weil man beim mehrfachen Vorbeigehen auch vorsichtshalber - vielleicht ist man ja gerade auf dem Klo, wenn die eigene Nummer dran ist, oder plaudert mit George Clooney (das war jetzt ein Scherz, leider plaudert hier niemand mit George Clooney) - eine zweite, dritte, ja: vierte und fünfte Nummer zieht, kann man von der gerade laufenden Zahl überhaupt nicht mehr auf die Zahl der Menschen schließen, die vor einem dran sind. Weil zudem andere Nummerträger inzwischen frustriert aufgegeben haben, und woanders schreiben, kann es passieren, dass plötzlich in einer Minute 10 bis 15 Zahlen aufgerufen werden, ohne das sich ein Nummernträger meldet. Und dann ist im Nu die eigene Nummer verfallen, weil eben nicht vor einem noch 15 Leute dran waren. Wer zu spät kommt, den bestraft auch hier das Leben - mit einem "Äh, meine Nummer war vor einer Minute dran" erntet man hier nur ein bedauerndes "Sorry Sir, you have to take a new number."

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Die nächsthöhere Stufe des Zahlenspiels besteht dann im Sammeln von Nummern. Wenn eine dran ist, werden die kleinen Zettel nämlich nicht etwa eingesammelt, sondern verbleiben beim Besitzer. Manche lassen die Zettel arglos auf den Computertischen herumliegen; der vorausdenkende Zeitgenosse sammelt die dann ein. Nummern werden hier von 1-99 vergeben, um die Lotterie komplizierter zu gestalten, stehen vor den Nummern noch die Buchstaben A-E. Es gibt also 495 verschiedene Nummern. Ich kenne Kollegen, die haben schon knapp 50 gesammelt - keine Namen bitte!

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In Cannes und Berlin funktioniert das alles anders, da gibt es, wie im letzten Jahr auch noch in Venedig, eine Namensliste, die den Vorteil hat, das jeder nur einmal draufstehen kann, und das einer, der gerade auf dem Klo ist, drauf bleibt, und dann, wenn er zurück ist, eben als nächster drankommt. Aber das wäre ja zu einfach und auch viel weniger lustig und ist eben der Unterschied zwischen Chaos und Ordnung, oder, freundlicher gesagt: der Charme von Italien. Aber wir sind uns schon lange sicher: Die ganze Organisation im Presseraum ist in Wahrheit ein heimliches soziales Experiment.

Rüdiger Suchsland

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