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Cannes 2005 18.05.2005
 
 
Tagebuchnotizen, 2. Folge

Der letzte Tango von Mexico-City
Kleine Tode, große Tode

Nach DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI

Michael Hanekes CACHÉ

 
 
 
 

Mit bewundernswerter Konsequenz verfolgt das Filmfestival auch in diesem Jahr seine Linie: Autorenkino, Filmkunst ohne Kompromisse ist gewünscht, und genau das bietet die "offizielle Selektion" des Wettbewerbs und der Reihe "Un Certain Regard". Filme sind, wenn sie glücken, immer Tagträume, emotionale Reisen durch Zeit und Raum und jedenfalls ins eigene Ich. Diesmal zu sehen sind allerdings vor allem Alpträume, abgründige Filme die anhand privater Geschichten aufs Große, Ganze zielen.

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So wie BATALLA EN EL CIELO ("Schlacht im Himmel") vom Mexikaner Carlos Reygadas - dem mit viel Vorschußlorbeeren ausgestatteten erklärten Liebling der französischen Kritik. Wie schon zum Auftakt Gus van Sant erzählt auch dieser Film von letzten Tagen: Ein Chauffeur hat mit seiner Frau ein Kind entführt, jetzt ist es tot und der Mann kommt nicht darüber hinweg. Er will sich stellen, doch schafft er es nicht. Seine Frau bleibt ungerührt, ab und an betet sie und wartet auf ein Wunder. Er selbst gesteht alles zunächst der Tochter seines Chefs, sie schläft aus Mitleid mit ihm, und am Ende entlädt sich auch das in einem kruden Gewaltakt. Was Reygadas offenkundig erzählen will, ist genau diese Unverständlichkeit, das Chaos des Lebens mit seinen Zufällen und seinem Elend - wie vor 30 Jahren in Bertoluccis Paris Marlon Brando und Maria Schneider, tanzt Reygadas schräges Liebespaar in Mexico-City einen melancholischen letzten Tango, bevor nichts mehr so sein wird, wie zuvor. Zugleich würzt er die Geschichte mit etwas zu offenkundigen politisch-religiösen Anspielungen auf die Lage in seiner Heimat, auf Katholizismus und taucht sie in lange Einstellungen, sodass man den Verdacht nicht ganz los wird, hier wolle sich einer doch auch ein wenig interessant machen.

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Der im Prinzip sehr langsam, in statischen Einstellungen erzählte Film hat ein paar wilde, ungesehene und überdies sexuell explizite Einstellungen, die das Gespräch über ihn auch nicht gerade verringerten. Ein raunen und Zucken ging durch die Premieren-Menge, weil sich nach der großen Liebesszene offenbar alle die gleiche Frage stellten: Haben sie "es" getan? Gleich zu Beginn hat die Hauptdarstellerin den Schwanz des Hauptdarstellers im Mund. Die Folge: Die gesammelte Filmkritik diskutierte dann, ob er nun "echt" sei oder doch nicht? Wenn ja, dann stellt sich die Frage: wie schminkt man einen erigierten Penis weiß? Und ohne dass er zusammenschrumpelt. Also ist "er" nicht "echt". Nicht immer, das sei zugegeben, sind wir an Fragen der Filmtechnik so interessiert, wie diesmal.

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Und, ja: Ein bisschen arg macho ist BATALLA EN EL CIELO übrigens schon… Aber vergessenb kann man ihn nicht.

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Am meisten überzeugte bisher Michael Haneke. Der Österreicher hat wieder in Frankreich gedreht, mit Juliette Binoche und Daniel Auteuil. CACHÉ handelt von der Kultur der Angst: Zwei Pariser Intellektuelle erhalten anonyme Botschaften mit gewalttätigem Inhalt. Klar ist zudem: Jemand überwacht sie. Hanekes moralischer Thriller dreht sich um das Schuldgefühl, das auch entsteht, wenn man nicht schuldig ist, um die Rückkehr der Repression - unter dem Mantel der "Sicherheit" - in die Gesellschaften des Westens und um den Umgang mit schwierigen Erinnerungen. Ein aufregender Film, dessen Regisseur dem Zuschauer alle leichten Auswege verbaut. Zugleich ist CACHÉ hervorragend inszeniert, und besonders in der Schauspielführung einer der besten Filme Hanekes - Begeisterung bei Kritik und Publikum war die Folge.

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Ob diese sich auch bei Lars von Triers MANDERLAY einstellt, wird sich erst die nächsten Tage zeigen - man darf nach den eisigen Reaktionen auf der Pressekonferenz aber daran zweifeln. Auch diesmal gibt von Trier wieder den Quälgeist des Weltkinos, und die Attitüde, in der sich der Däne zum neuen Brecht stilisiert, kann einem schon auf die Nerven gehen, trotzdem will von Trier immerhin etwas, hat einiges zu sagen, und sollte auch jenen, die seine Filme nicht mögen, Nachdenken und Auseinandersetzung wert sein: MANDERLAY ist eine Fortsetzung von DOGVILLE, der hier vor zwei Jahren Premiere hatte: Ein Lehrstück der kärglichsten Art und stilistisch in jedem Fall ein "Deja Vue". Die Erlebnisse der jungen Grace - die diesmal hinreißend von der 24jährigen Bryce Dallas Howard gespielt wird - führen diesmal in die US-Südstaaten. Sklaven werden befreit, doch am Ende kommt heraus, dass sie die Gesetze einer "humane Sklaverei" den Gefahren der Freiheit vorziehen - wie Regisseur Lars von Trier, dem sein Film über weite Strecken zu einem antiliberalen Traktat gerät, das zwar im letzten Drittel spannend ist, bis dahin aber viel zu lange braucht.

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Zu einer echten Enttäuschung wurde nur L'ARC von Kim Ki-Duk, der zuletzt in Berlin und Venedig jeweils den Regiepreis gewann. Da hatte man es zunächst für eine subtile Bosheit der Franzosen gehalten, dass der Koreaner hier nur in der Sektion "Un certain regard" läuft. Nach Ansicht des Films ist verständlich, warum dies die künstlerisch richtige Entscheidung war. L'ARC erzählt von Kims alten Themen: Gefangenschaft, unterdrückte Gewalt, die Dialektik von Freiheit und Gebundensein, Innen und Außen. Eine Geschichte, die spannend sein könnte: Ein 16jähriges Mädchen wurde nach einem Schiffsunglück von einem älteren Fischer gerettet und auf dem Fischerboot aufgezogen. Zehn Jahre später will der Alte sie an ihrem 17jährigen Geburtstag heiraten. Doch die moderne Welt mit ihren Versuchungen in gestalt junger Männer und westlicher Popmusik lässt sich auch auf hoher See nicht fernhalten, und irgendwann muss sich das Mädchen aus den Klauen des besitzergreifenden Alten befreien. Vor fünf Jahren hätte Kim daraus einen atemberaubenden Film gemacht, und ungesehene Bilder gefunden. Heute, durch Preise verwöhnt und unkritisch geworden, ist sein Film verschmocktes Kunsthandwerk, risikoloses Biedermannkino, filmisch kitschig und langweilig, bestenfalls ein ausgeleiertes Selbstzitat.

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Von der Macht der Alpträume und den Alträumen der Macht erzählt einer der bemerkenswertesten Filme bisher, die außer Konkurrenz gezeigte Doku: THE POWER OF NIGHTMARES vom Briten Adam Curtis. Der Film erzählt parallel die Geschichte der US-amerikanischen Neokonservativen und der Islamisten seit beider Geburtsstunde im Kalten Krieg kurz nach 1945. In knapp drei Stunden behält der Regisseur die roten Fäden seiner Story in der Hand und spinnt doch ein feines Netz der verschiedenen Akteure des ideologischen Krieges zwischen Westlich-Östlicher Welt einerseits, muslimischer andererseits. Das verblüffende Fazit: Die Al-Quaida gibt es nicht! Die weltweit operierende Terrorgruppe sei - wie zuvor angebliche Pläne der Sowjetunion zum Angriff auf die NATO - nur ein Erfindung amerikanischer Rechtsaußen, die ihren eigenen Weltverschwörungsideen auf den Leim gingen. Bush und Co, so Curtis, glaubten also an ihre eigenen Lügen, ähnlich wie Bin Laden. Solchen Amokläufern des Idealismus stellt Curtis kühlen britischen Pragmatismus gegenüber. Seine mit vielen Fakten gestützte Darstellung sorgte an der Croisette für den meisten Gesprächsstoff.

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"Evil is everywhere"

Ach ja… das Böse ist immer und überall. Man glaubt es kaum, aber dieser Satz steht allen Ernstes ganz am Anfang von STAR WARS - EPISODE III.: DIE RACHE DER SITH. Wie schon beim allerersten STAR WARS-Film von 1977, den wir jetzt, nach der neuen Zeitrechnung des George Lucas, "Episode IV." nennen sollen. Noch einmal, zum sechsten Mal, kämpft also - "es war einmal in einer fernen Galaxis" - Gut gegen Böse, noch einmal geht es um alles. George Lucas, der Erfinder, Autor und Regisseur dieses epischen Weltraummärchens, kann nicht viel dafür, dass einem das heute, in Zeiten des "war against terror", beklemmend bekannt vorkommt - doch es bestätigt nur, das STAR WARS eben der wirkmächtigste Populärmythos der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts ist. Sogar die Politik lernte von seiner Rhetorik, und es war auch kein Zufall, dass der erste Teil der Geschichte in der Zeit ins Kino kam, in der die Träume von 1968 verblassten, in der des "deutschen Herbst" und des Regierungsantritts von Margret Thatcher, drei Jahre vor der Wahl Ronald Reagans…

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Mit dem sechsten und angeblich wirklich letzten Teil der Serie kehrt Lucas nun zu ihren Hippie-Ursprüngen zurück. DIE RACHE DER SITH ist, der beste STAR WARS -Film seit THE EMPIRE STRIKES BACK, also seit 1981. Nun waren alle drei Filme dazwischen auch echter Mist. Der Film ist gut inszeniert, er klotzt mit seinen Bildern und Tricks, ohne die Handlung zu vergessen - Populärkino auf der Höhe der Zeit. Die Handlung mag den STAR WARS -Verächtern unter den Gebildeten so albern vorkommen, wie immer - aber immerhin gibt es eine. Im Gegensatz zu EPISODE I. und DER ANGTRIFF DER KLONKRIEGER wird hier nicht fortwährend um den heißen Brei herumgelabert, auch wenn Sitzungen des Jedi-Rats und interstellare parlamentarische Debatten breiten Raum einnehmen.
Doch zwischendurch erlebt man, wie aus dem Helden Anakin ein Sendbote des Bösen wird, wie die Angst vor der Katastrophe - dem Tod der Geliebten - diese Katastrophe überhaupt erst als sich selbst erfüllende Prophezeihung überhaupt gebiert. Nur mit Mühe fügt sich Anakin dem Codex der Jedi, immer wieder ist ein anderer, zorniger unreifer junger Mann in ihm sichtbar, der Anerkennung um jeden Preis will. Eigentlich, so scheint es, will dieser Held nur eine brave amerikanische Familie gründen, mit Senatorin Padmé Amidala und nettem Reihenhaus an der nächsten Galaxis. Weil aber das Projekt zu scheitern droht, flüchtet Anakin in den Kampf. Der Film zeigt diesen Weg in den Abgrund, und er erzählt darin die Geschichte vom Tod der Freiheit durch den Wahn absoluter Sicherheit. Die Rhetorik der Sicherheit ist, behauptet der Film, ebenso wie die Rede vom Ende aller Kriege, bloße Ideologie, ein Mittel, um die Menschen zu versklaven - von einer Elite vertreten, die noch nicht einmal selber daran glaubt. Das Gegenbild, das Lucas nun in Helden wie Padmé, wie Yoda, wie vor allem Obi-wan Kenobi entwirft - der hier noch junger Krieger ist, nicht alter Zen-Meister -, lautet: anti-imperialer Widerstand und Separatismus. Sieht man den Film, wirkt das alles auf merkwürdige Weise aktuell. Man glaubt Bush und seine Idee des neuen Imperiums aufblitzen zu sehen in der Figur des gestörten Sohnes, dem die Anerkennung fehlt, und der darum die Republik zerstört. Populärkultur ist mehr als bloße Unterhaltung - sie ist, sonst würde sie nicht funktionieren, ein Stück Selbstverständigung. In STAR WARS begegnet uns ein sehr aktuelles "Graffiti Amerikas".

Rüdiger Suchsland

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