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Die Chance, Lauren Bacall einmal live zu erleben, war schließlich
auch der Hauptgrund, warum ich dieses Jahr doch nicht auf
den Besuch der Viennale verzichtet habe, obwohl ich mir nicht
richtig die gebührliche Zeit für das Festival nehmen konnte.
Bei einem Filmfestival erst anzukommen, wenn es schon merklich
in die Zielgerade geht, ist ein eigenartiges Gefühl: Gewöhnlich
geht man ein Festival ja voller Hoffnungen an und sieht es
erstmal als Reservoir der vielen Möglichkeiten. So aber richtet
sich der Blick gleich viel mehr auf's Verpasste, beginnt das
Rennen gleich mit einem erheblichen Rückstand.
Ich dachte vorab, das würde so schlimm schon nicht sein, nachdem
ich einen Großteil der mich unmittelbar interessierenden Filme
schon auf anderen Festivals gesehen hatte, sich die Sachen,
auf die ich noch richtig neugierig und vorfreudig war, ohnehin
am und nach dem zweiten Wochenende drängten. Aber wenn man
erstmal vor Ort ist, entdeckt man halt doch immer dieses noch
und jenes, das spannend gewesen wäre, erhascht man hier und
dort das Ende einer Reihe, die sich nachträglich als wohl
doch bedeutsam herausstellt, und überhaupt reut es einem,
dass man die Gelegenheit verstreichen hat lassen, all die
schon bekannten schönen Filme nochmal auf einer goßen Leinwand
zu schauen.
Nun ist die Viennale (deren Vorzüge ich bereits letztes Jahr
ausführlich besungen habe, und die die werte Kollegin Bialas
nun auch für sich entdeckt hat und von ihnen nicht minder
begeistert war) ohnehin von seiner Festivalstruktur her mehr
ein cineastisches Buffet als ein Menu, und sie war dies 2004
mehr denn je: Obwohl auf nur fünf Leinwänden sich abspielend,
konnte man schnell den Überblick verlieren über all die Reihen
und Unterreihen, Retros, Tributes, Hommagen, Special Programs.
Die Trennung des "regulären" Programms in Spiel- und Dokumentarfilme
wurde untertunnelt durch die "Propositions"-Reihe, eigentlich
eher eine Art Prädikat, das auf ausgewählte, außergewöhnliche
Filme besonderen Fokus lenken soll; dazu waren asiatische
Genrekino-Beiträge als "Fear East" gebündelt; Lauren Bacall
erhielt einen (leider nur...) 10 Filme umfassenden "Tribute",
ähnlich Amos Vogel, der New Yorker Underground-Pionier; die
offizielle Retro galt Straub/Huillet, die aber noch 25 von
ihnen ausgewählte John Ford-Filme Huckepack hatten; "Special
Programs" gab es zu Jean-Pierre Gorin, Koreeda Hirokazu und
Paul Fejos, im Grunde alles kleine Retrospektiven.
Und da jetzt also hungrig reingeplatzt, während das Bankett
schon über eine Woche in vollem Gange war und manch einer
sich schon fast wieder sattgesehen hatte... Es war gar nicht
dran zu denken, da auch nur eine Art von Kino-Gericht noch
zur füllenden Hauptspeise zu machen, und auch jeder Versuch,
wenigstens mal von allem probiert zu haben, war zum Scheitern
verurteilt.
Was blieb war, in so viele Leinwand-Speisen wie möglich zumindest
mal kurz den Löffel reinzutauchen und sich von den besonders
schmackhaften dann nochmal eine weitere Portion auf den Teller
zu laden.
KNOWING HOW TO WHISTLE
Etwas üppiger zugegriffen habe ich selbstverständlich gleich
mal bei den Filmen der Lauren Bacall-Hommage. Zum einen ist
es immer faszinierend, solchen Leinwand-Ikonen, die einem
immer unserer gewöhnlichen Welt entrückt vorkamen, von denen
man immer nur die küsntliche Film-Persona kannte, im Kino
wiederzubegegnen, nachdem man das Glück hatte, sie einmal
als realen Menschen erlebt zu haben. Es wird einem viel klarer,
welch wundersame Mischung aus Abbildung und Traum Kino eigentlich
ist; man hat ein geschärftes Bewusstsein für den wirklichen
Körper, der da irgendwann mal vor einer Kamera gestanden hat
und als Projektor und Projektionsfläche zugleich dient für
all das Imaginierte, mit dem ihn der Film umlagert. Zum anderen
hat Lauren Bacall ja - unter uns gesagt - doch irgendwie recht:
Früher WAR alles besser, und Filme aus Hollywoods Glanzzeiten
sind halt immer ein Genuss.
1957 in Vincente Minnellis DESIGNING WOMAN und noch mehr 1964
bei SEX AND THE SINGLE GIRL (Regie: Richard Quine) war der
Glanz freilich schon am Abblättern. Da war Hollywood schon
zunehmend in der Deffensive gegen dieses aufmüpfige neue Medium
Fernsehen und gegen den beginnenden Kontinentaldrift des abendländischen
Weltbilds. Komödien beides, aber beide lassen unterschwellig
spüren, dass die Neuverhandlung der Geschlechterrollen so
lustig gar nicht ist für das damalige Selbstverständnis, dass
Gefühle echter Bedrohtheit und Ratlosigkeit mitschwingen.
(SEX AND THE SINGLE GIRL übrigens auch insofern eine Entdeckung,
weil es das direkte Vorbild zu DOWN WITH LOVE ist - der zwar
in vielen Belangen mehr die Doris Day/Rock Hudson-Filme wiederauferstehen
ließ, seinen Plot und die Figurenkonstellation aber direkt
von Quines Film hat.)
Was waren das noch Zeiten, als echte Männer und wahre Frauen
scheinbar noch ihren Platz kannten - und dafür das frivole
Spiel miteinander um so frecher führten, in THE BIG SLEEP.
Wobei: Mit jedem Sehen wird mir der Film rätselhafter - nicht,
weil der Plot so verworren ist; Plots interessieren mich am
Kino sowieso am wenigsten, und ich bin nur zu bereit, ein
Angebot wie das von Howard Hawks hier anzunehmen: Dass nämlich
der Plot letztlich unwichtig ist, nur Vektoren liefert, um
Szenen in Bewegung zu setzen, dass man sich um Details nicht
wirklich kümmern braucht, dass es um etwas anderes geht. Das
schien mir bei diesem Sehen aber mehr denn ja das Eigenartige
dieses Films: Dass er dauernd und auf allen Ebenen immer etwas
anderes eigentlich zu meinen scheint als das, was er sagt.
Am klarsten und bekanntesten ist das freilich bei all den
Doppeldeutigkeiten, die Hawks mit kindlicher Freude nutzt,
um andauernd von Sex zu reden, ohne dass die Zensur etwas
dagegen sagen kann. Aber es kam mir beim Wiener Wiedersehen
mit BIG SLEEP so vor, als würde dieser Film das Prinzip des
"Eigentlich geht es um was ganz anderes" zu einer schon fast
abstrakten Kunstform weiterentwickeln, indem er eben auch
narrativ die Anker löst, und er einen - sobald man nach einer
gewissen Weile einfach aufgehört hat zu versuchen, noch verstehen
zu wollen, wer nun wen wann wie warum umgebracht, erpresst
und sonstwas hat - in allen Szenen nach etwas suchen läßt,
das nicht an der Oberfläche des Interesses zu finden ist.
WER DENKT DA SCHON AN PIROSCHKA?
Dank des "Früher war alles besser"-Mottos hat dann in der
Retro-Ecke des Viennale-Buffets gleich auch die Paul Fejos-Reihe
(offiziell eigentlich ein "Special Program") meinen Appetit
geweckt. Es ist keine Schande, wenn Sie Paul Fejos nicht kennen
- der ungarischstämmige, aber in zahlreichen Ländern tätige
Regisseur, war mir vorher auch kein Begriff. Was jedoch vermutlich
schade ist; aber so genau kann ich das auch nicht sagen, weil
es bei der kleinen Retro für mich sozusagen gerade mal dazu
reichte, kurz einen Finger in den Paprikadip zu tauchen.
Das eine Häppchen, das ich mir zu gönnen schaffte, war MARIE,
LÉGENDE HONGOROISE (produziert 1932 in Frankreich). Und der
war einerseits wunderschön, weil hochartifiziell (ich fühlte
mich vom irrealen Feeling etwas an Laughtons NIGHT OF THE
HUNTER erinnert, oder auch an Murnaus SUNRISE), pathetisch,
sentimental, andererseits empfand ich vieles als zu gewollt,
zu sehr am grünen Tisch geplant statt erträumt, erfühlt von
seiner Symbolik her, und mit einer gewissen unterschwelligen
Biederkeit behaftet, die bei Laughton oder Murnau eben nicht
zu finden ist.
Wenig Erfolg war dem Versuch beschieden, diesen Eindruck an
einem zweiten Fejos-Film zu verifizieren. DET GYLDNE SMIL,
Fejos' letzter Spielfilm, gedreht in Dänemark, lief in einer
OF-Kopie ohne Untertitel. Nun wurde vorher eine recht ausführliche
Inhaltsangabe ausgeteilt, dann ist Dänisch ja eine der Sprachen,
bei denen man als Deutscher mit Englischkenntnissen, der viele
Lars von Trier-Filme gesehen hat, sich hin und wieder doch
ein Sätzlein erschließen kann, und bei MARIE, LÉGENDE HONGROISE
wäre einem fast nichts entgangen, selbst wenn man kein einziges
der wenigen gesprochenen Worte verstanden hätte. Wird schon
nicht so schlimm, dachte ich also. Wo MARIE aber eine Art
Stummfilm mit Tonspur war - erzählt allein über die Bilder,
das Akustische nur für Emotion, Rhythmus, Geräusch nutzend
-, lief in DET GYLDNE SMIL fast alles Wesentliche über den
Dialog ab. Da wurde viel und breit über (soviel bekam man
mit) das Wesen der Kunst und des Todes diskutiert, und man
hätte das im Detail verstehen müssen, um wirklich was zu haben
von dem Film. Zudem hinterließ zumindest die für mich erfassbare
Oberfläche des Films mehr noch als MARIE den Eindruck einer
gewissen bürgerlichen Possierlichkeit. So dass ich nach ungefähr
einer halben Stunde dieses potentielle Leckerli (wenn man
nur Dänisch könnte!) angebissen auf den Projektionstellern
zurückließ, ohne aufzuessen. Vielleicht war deshalb das Wetter
immer so trüb.
CLEANE HAUTE-CUISINE
Wenig Zeit blieb mir leider diesmal auch, ausgiebiger von
der französischen Ciné-Haute cuisine zu naschen.
Und das eine der nur zwei goutierten gallischen Leinwand-Gerichte
war dann auch noch eine eher internationale Mischung: Gedreht
in Kanada, Paris und London, mit einem Ensemble aus diverser
Herren Länder (u.a. dabei: Nick Nolte und Béatrice Dalle).
Nach dem gemeinhin als glücklos empfundenen DEMONLOVER hat
Olivier Assayas allen Genre-Anklängen und aller selbstreflexiven
Komplexität erstmal adieu gesagt und mit CLEAN (der Titel
ist selbstverständlich auch programmatisch zu lesen) reinen
Tisch gemacht - eine "einfache" Charakterstudie um eine Rock'n'Roll-Witwe,
die sich nach dem Überdosis-Tod ihres Mannes von den Drogen
und den schon alt gewordenen hochfliegenden Träumen vom großen
Durchbruch verabschieden muss; die nach einer Gefängnisstrafe
darum kämpft, ihren bei den Großeltern väterlicherseits aufgewachsenen
kleinen Sohn zurückzugewinnen, und die diese Mutterrolle aber
nie als endgültige Entscheidung gegen ihre Kunst akzeptiert.
Zum Ereignis wird der Film grade dadurch, dass Assayas als
Regisseur in den Hintergrund tritt und seine Aufgabe vornehmlich
darin sieht, seiner Hauptdarstellerin die Bühne zu bereiten.
In IRMA VEP hatte Assayas seine aus nachvollziehbaren Gründen
geliebte Maggie Cheung noch als Fetischobjekt besetzt und
inszeniert; bei den Dreharbeiten kamen die beiden sich ganz
offensichtlich tatsächlich näher, sie hat ihn später geheiratet
(was wieder mal beweist: Man muss nur unverschämt genug sein!);
inzwischen aber wurde die Ehe wieder geschieden (was wieder
mal beweist: Fantasien überstehen selten ihr Wahrwerden) -
und erst jetzt scheint Assayas Maggie Cheung wirklich als
echte Frau, als Mensch zu lieben. Denn so komplex und verletzlich,
so nah am Boden hat man sie noch nie auf der Leinwand erlebt;
es gibt Szenen, da läßt die Kamera sie nahezu häßlich aussehen,
so schutzlos ungeschminkt und uvorteilhaft beleuchtet zeigt
sie ihr Gesicht, ohne auch nur den Hauch von Glamour, den
die meisten Filmdiven sich bewahren, selbst wenn sie Elend
darstellen; da kann man ahnen, wie Cheung als Kind ausgesehen
hat, und wie sie aussehen wird, wenn sie alt ist, oder wie
sie aussehen würde, wenn sie kein Star wäre sondern eine gewöhnliche
Chinesin irgendwo auf dem verarmten Land. Aber genau in den
Momenten leuchtet dann eine ganz andere, innere Schönheit
aus ihr auf. Da ist Assayas nah dran, die Kunst- und Fantasiemaschine
Kino scheinbar auszuhebeln und die Illusion zu erzeugen, da
sei wirklich ein Mensch in einem spezifischen Moment eingefangen,
da habe sich ein kurzer Blick auf den Kern einer Person aufgetan
- ohne dass man noch sinnvoll trennen könnte zwischen einer
Filmfigur und der sie darstellenden Frau: Genau die Umkehrung
von IRMA VEP mit seiner Phantasie-Projektion auf glänzendes
Latex; jetzt die sich öffnende Begegnung mit der Haut des
anderen.
Noch näher auf Straßenlevel war dann L'ESQUIVE von Abdellatif
Kechiche: Eine Art wahrhaftigeres Gegenstück zum supererfolgreichen
LES CHORISTES (DIE KINDER DES MONSIEUR MATTHIEU) - weil auch
hier heutige Unterprivilegierte und klassische Hochkultur
aufeinandertreffen: Teenager in einer Banlieu-Hochhaussiedlung
studieren für eine Schulaufführung eine Verwechslungskomödie
von Marivaux ein; weil er sich in die (blonde, weiße und hochgradig
selbstbewusste) Lydia verguckt, die die Rolle des als Dame
verkleideten Dienstmädchens spielt, schwatzt das arabische
Einwandererkind Krimo einem Kumpel dessen Platz in dem Stück
ab, gegen Turnschuhe, einen Marken-Jogginganzug, eine Playstation.
Das Schöne an dem Film: Er lässt Krimo nicht die übliche
mirakulöse Verwandlung durchmachen, wird nicht zur Geschichte
der Selbstfindung. Krimo bleibt sich treu - verstockt und
schüchtern, seinen Text murmelt er immer nur in sich hinein,
kann einfach nicht aus sich herausgehen. Nicht, weil der Film
keine Brücke sähe zwischen Marivaux und Glasscherbenviertel-Teenies:
Die Aufführung des Stücks am Schluss - ohne Krimo - wird offenbar
ein Erfolg; es gibt durchaus eine Kommunikation (wenngleich
keine selbstverständliche) zwischen diesen nicht nur durch
Jahrhunderte getrennten Welten, die zunächst scheinbar wenig
eint außer der nationalen Geographie und Sprache.
Aber das Problem ist genau Sprache - L'ESQUIVE ist nicht
zuletzt ein Film darüber, wie man sich Idiome erkämpfen muss.
Denn das Französisch Marivauxs hat wenig gemein mit dem Französisch,
das die Banlieu-Teenies sprechen, schreien, schimpfen (und
das seinerseits wenig mit unsereinens Schul-, Urlaubs- und
Literaturfranzösisch zu tun hat - ohne Untertitel wäre da
nicht viel gegangen...). Und Krimos größtes Problem ist nunmal:
Der Junge REDET NICHT! Manchmal möchte man ihn packen und
schütteln, aber auch das würde bestimmt nichts bringen. Er
ist unfähig, sich die fremde Rede des Theaterstücks zu eigen
zu machen, sie so zu sprechen, als käme sie aus ihm, weil
er auch sonst kaum eine Sprache für sich zu haben scheint.
Auch in den ewigen, mit lautstarker Vehemenz ausgetragenen
Streitereien der anderen untereinander in ihrem "Ghetto"-Idiom
(die den Film mitunter etwas anstrengend machen können) ist
Krimo meist ziemlich stummer Zuschauer. Nicht soziale Klasse,
Hautfarbe, Herkunft ist es, die Krimo einsam macht, sondern
diese Sprachlosigkeit.
50.000 MASTURBIERENDE CHINESEN
Ein Grund, warum so wenig Zeit blieb, mich an den Filmen
aus dem Lande von Paul Bocuse zu laben, war, dass ich mich
mal wieder voller Heißhunger auf so ziemlich alles gestürzt
habe, was nach Frühlingsrollen und Peking-Ente duftete, bzw.
Martial Arts-Hechtrollen und Peking-Oper versprach. Abseits
vom Genre tischte die Viennale in ihrer Asien-Ecke jedoch
erstmal eher schwere Kost auf. "Almost Entertainment" heißt
die Produktionsfirma des Debutfilms von Liu Fen Dou, LU MAOTZE
(THE GREEN HAT), und das erwies sich als programmatisch: Der
Film hat zweifelsohne seine sehr unterhaltsamen Seiten, aber
dann wird er immer auch wieder reichlich mühsam. Erstmal hatte
er aber den wohl schönsten Anfang aller Festivalfilme: Ein
leerer Meeresstrand, im Vordergrund ein Chinese mit einer
wild zauseligen, eher modisch japanisch aussehnden Perrücke,
in eine Wolldecke gehüllt, der in die Kamera erzählt: "Ein
Filmanfang. Ein Mann steht am Strand und masturbiert. Das
Publikum denkt der Film sei ein Porno. Dann nimmt der Typ,
plopp, seinen Schwanz ab und zwei Tiere kriechen draus hervor.
Das Publikum denkt, es sei also doch Science Fiction. Dann
fährt die Kamera zurück und man sieht, dass an dem Strand
50.000 Männer stehen und masturbieren. Da weiß das Publikum:
Es ist ein Kunstfilm!"
LU MAOTZE ist letztlich auch "Filmkunst", ergeht sich mitunter
schon auch in geistiger Masturbation, wenngleich er eher Roadmovie-artig
zu beginnen scheint, mit drei verschrobenen Typen in einem
Auto, und bald Zwischenstop bei einem Bankraub macht. Worum
es aber wirklich geht sind Erektionsprobleme. Selbige plagen
einen überraschend in den letzten beiden Film-Dritteln zur
Hauptfigur avancierenden Polizeiinspektor, und seine männliche
Identitäts- und Ehekrise soll man wohl auch als chinesische
Krise an sich lesen - nicht umsonst spielen westliche Einflüsse
und Kapitalismus nicht nur in der Form von Viagra wichtige
Rollen am Rande.
Andererseits geht es wohl auch schlicht konkret darum, dass
- das Politische bestimmt das Private - in der momentanen
gewaltigen Umbruchphase der Volksrepublik auch im Verhältnis
von Mann und Frau die Karten neu gemischt werden, dass man
sich neue Formen der Selbstverortung, Beziehungsprobleme,
Verkomplizierungen zwangsläufig mit importiert.
Gerade in Hinsicht aufs Intime hat der Film durchaus Momente
von großer Schönheit, Wahrheit, Witz, aber was ihn in anderen
Momenten wieder erschlaffen lässt ist nicht nur, dass Männer
immer dazu tendieren, irgendwann langweilig zu werden, wenn
sie zu ernst und ausführlich ihren Schwanz zum Dreh- und Angelpunkt
des Weltverständnisses machen, sondern dass Regisseur Liu
Fen Dou eine Vorliebe für lange Einstellungen hat, aber (noch)
nicht immer das Talent, denen dann einen zwingenden Rhythmus
aufzuprägen.
WIE BEI OZUS UNTERM SOFA
Freilich, Rhythmus in minutenlange Einstellungen zu bringen
ist auch eine hohe Kunst, weil die Post-Production da ja kaum
Rettungsmöglichkeiten bietet. Aber ein anderer asiatischer
Regie-Debütant beherrschte sie schon ungleich besser. Vielleicht
hat dem Taiwanesen Lee Kang-Sheng dabei auch geholfen, dass
er als Schauspieler schon reichlich Gelegenheit hatte, ein
paar Meister ihres Fachs bei der Regie-Arbeit zu beobachten,
vor allem Tsai Min-liang, bei dem er zur Stammbeseztung gehört
und für den er bei unser aller letztjährigem Viennale-Favoriten
BU SAN - GOODBYE, DRAGON INN den Filmvorführer mimte.
Sein erster eigener Film, BU JIAN (THE MISSING), ist ein Film
voller Abwesenheiten. Ein kleiner Junge auf einem Spielplatz
kommt der babysittenden Oma abhanden, einem Teenager entwischt
der verwirrte Großvater aus der Wohnung. Der Film hält eine
seltsame Halbdistanz zu seinen Figuren; gleich in der ersten
Einstellung steht im Vordegrund ein Aquarium dem direkten
Blick im Wege, später macht die Kamera sich nicht die Mühe,
ihre Augenhöhe zu verlassen, wenn Grashügel im Park die panisch
nach ihrem Enkel suchende alte Frau fast vollständig verdecken.
Aber diese Zurückhaltung ist doch keine Gleichgültigkeit,
was man allein an der Zeit spürt, die Lee Kang-Sheng sich
nimmt, um seine Charaktere bei ihren fruchtlosen Suchen zu
beobachten.
Die eigentlich "Vermissten" in dem Film sei die Generation
zwischen den Teenagern und den Rentnern, hat der Regisseur
beim anschließenden Gespräch gesagt. Menschen dieser Generation
kommen in dem Film höchstens als Passanten vor; sie fehlen,
weil sie alle bei der Arbeit sind. Und weil sie keine Zeit
haben, sich um ihre Eltern und ihre Kinder zu kümmern, können
sich Geschichten der Verzweiflung wie die von BU JIAN überhaupt
erst in Bewegung setzen.
Als einer der ästhetischen Bezugspunkte von BU JIAN darf
wohl auch Hou Hsiao-Hsien gelten, ohne den im modernen taiwanesischen
Kunstkino sowieso wenig zu denken ist. Der Großmeister selbst
aber hat sich mal eben nach Japan verabschiedet, um dort seinerseits
Reverenz zu erweisen, und zwar an Ozu zu dessen 100. Geburtstag.
KOHI JIKOU (CAFÉ LUMIÈRE) ist dann wie ein Ozu-Film, in dem
nicht aufgeräumt wurde. Hou Hsiao-Hsien fährt all die klassischen
Ozu-Einstellung, Rauminszenierungen, Tiefenstafflungen von
Familien in japanischen Häusern geradezu lehrbuchhaft auf,
aber innerhalb dieser Framings läßt er mehr Leben, mehr Unordnung
zu. Er dreht on location statt im Studio, beläßt all den kleinen
Krimskrams des Lebens im Bild; hat es selbstverständlich auch
mit einer ganz anderen Zeit zu tun, in der die Rollen und
Zwänge der japanischen Gesellschaft lang nicht mehr so starr
definiert sind. Es ist ein Film, bei dem man zwischen zwei
Sehweisen oszilieren kann: Man kann sich dem ruhigen, impressionistischen
Drift an seiner Oberfläche hingeben, diesem wunderbaren Gefühl,
dass nichts passiert und doch etwas geschieht. Oder man kann
einsteigen auf die Genauigkeit, mit der jede Einstellung eben
doch bewusst komponiert ist, kann anfangen, ein Geflecht von
Zeichen zu sammeln und zu deuten, die manchmal nur zufällig
verstreut scheinen und dann doch zentrale Szenen besetzen
- Eisenbahnen und Uhren bevölkern den Film, von Wechselbälgen
und einem Komponisten ist viel die Rede, und das alles passt
auf seltsame Weise stimmig zusammen, scheint Teil eines größeren
Systems, ohne dass sich dieses nach dem ersten Sehen des Films
schon enträtseln ließe.
SCHWELLENLAND UND MEISTERHAND
Jetzt braucht aber keiner zu glauben, dass nach solch gehaltvoller
Kost zum Nachtisch nur leere Kalorien gereicht wurden. Das
Dessert fast jeden Viennale-Abends war die "Fear Asia"-Reihe,
die ähnlich der Mitternachtsreihe im Delphi bei der Berlinale
mit Genre-Zuckerl lockte (und die ein, zwei Mal auch gleich
nahtlos zum Betthupferl wurde für mich - Kinoschlaf kann so
schön sein...). Aber nur weil diese Filme vermeintlich leichter
zu genießen waren, boten sie nicht unbedingt weniger zum cineastischen
Nachschmecken.
Bleiben wir noch kurz in Taiwan, das in Genre-Dingen bisher
ja international noch nicht allzu auffällig wurde. Das dürfte
sich bald ändern, wenn SHUANG TONG (DOUBLE VISION) repräsentativ
sein sollte. Klar, der ist schon bewusst auf globalen Erfolg
hin konzipiert, von Columbias Asien-Division mitproduziert,
mit leading men aus Hong Kong und den USA besetzt - Tony Leung
und David Morse. Die Dynamik zwischen den beiden, der witzvolle
Blick auf die Kulturdifferenzen gehören zu den größten Freuden
des Films, der auch in seinem thematischen Material und seinem
Stil weltweit überall bedient, wo er Marktpotential wittert.
Ein bisschen FBI-Serienkiller-Film, SILENCE OF THE LAMBS,
SE7EN hier, ein bisserl Okkult-Thriller dort, ein bisschen
Buddy-Movie, und dann auch eine gute Dosis INFERNAL AFFAIRS
mit seinen Vorstellungen der buddhistischen Höllen. Irgendwie
schafft es Regisseur Kuo-Fu Chen auf der Zielgerade aber doch,
die Zutaten dieses Eintopfs geschmacklich zu verbinden, dem
Ganzen dabei eine individuelle Note zu geben und, noch wichtiger,
ganz zum Schluss unerwartete emotionale Reichhaltigkeit.
Thailand hingegen bleibt vorerst cineastisches Schwellenland.
Was seine Vorteile hat: Der famose ONG BAK, der demnächst
bei uns anlaufen wird, konnte nur aus einer Kino-Nation kommen,
die noch so hungrig, verspielt und opferbereit ist, wie es
Hong Kong zwischen den '60ern und '80ern war. Sein Hauptdarsteller
Tony Jaa wird nicht unberechtigt als legitimer Erbe von Jackie
Chan und Bruce Lee gefeiert.
Aber statt ONG BAK lief auf der Viennale aus Thailand BUPPAH
RAHTREE (RAHTREE: FLOWER OF THE NIGHT), und der trug zwar
auch sämtliche Züge einer Populär-Kinotradition, die noch
extrem unbefangen zu Werke geht, aber gerade das machte diese
Horror-Komödie um eine Besessene in einem Wohnblock auf Dauer
doch recht nervig: Der Film nutzt behinderte Nebendarseller
mit einem sehr fragwürdigen Freakshow-Touch; und seinen ohnehin
recht dürftigen Grundgag, dass nämlich Leute kreischend vor
irgendwelchen Spukerscheinungen wegrennen, wiederholt er,
nach einer Viertelstunde von akuter Ideenabsenz befallen,
so oft, bis man grüne Erbsensuppe speiben könnte. Ach ja,
eine astreine THE EXORZIST-Parodie hatte dieser buddhistisch-katholische
Thai-Trash zwischendurch auch mal zu bieten. Immerhin.
Während sich dieser thailändische Beitrag dem Genre-Kino
näherte wie kleine Kinder dem Kochen, indem sie irgendwas
zusammenmantschen und sich freuen, dass es spritzt und stinkt,
hatten die Chefs aus China ihre subtile Freude daran, die
bekannten Rezepte raffiniert zu variieren und fein neu abzuschmecken.
Zhang Yimou scheint bei HERO ja richtig Gefallen gefunden
zu haben am Martial Arts-Kino, und wo es wohl noch zu früh
ist zu hoffen, dass Festland-China auf dem Weg sein könnte
zu einer neuen Hochblüte seines National-Genres, so wie sie
einst die USA mit den Hollywood-Western erlebte, so kann man
sich doch erstmal freuen, dass Zhang Yimou jetzt gleich nachgelegt
hat mit HOUSE OF FLYING DAGGERS (SHIMIAN MAIFU). Wo HERO in
klaren, großen Farbflächen strahlte, bersten die Bilder von
HOUSE OF FLYING DAGGERS vor Ornamentalem. War HERO ein Epos,
so ist HOUSE OF FLYING DAGGERS eher ein Kammerspiel unter
freiem Himmel, ganz konzentriert auf das Dreieck seiner Hauptfiguren.
Spektakulär allein schon die Besetzung - Takeshi Kaneshiro,
Andy Lau, Zhang Ziyi; spekatkulärer aber noch, dass die auch
funktioniert, dass weder der Japaner, noch der doch eher für
zeitgenössische Rollen zuständige Lau fremd wirken im chinesischen
Historien-Dekor, und dass Zhang Ziyi der Aufgabe gewachsen
ist, mal ohne Maggie Cheung an ihrer Seite den weiblichen
Part des Films zu tragen.
Im Gegensatz zum recht spät zum Genre-Kino bekehrten Zhang
Yimou hat Johnnie To seine künstlerische Berufung schon lang
gefunden im Erzählen vom ewigneuen Katz-und-Maus zwischen
Gangstern und Polizei (oder manchmal auch nur Gangstern untereinander).
Wann immer man glaubt, dass To nun wirklich alles gesagt haben
muss, was es dazu zu sagen gibt, zieht er ein Ding wie BREAKING
NEWS (DAI SI-GIEN) aus dem Hut und belehrt einem eines Besseren.
Der Film beginnt mit einer fast zehnminütigen Schießerei IN
EINER EINZIGEN, UNGESCHNITTENEN EINSTELLUNG, und das ist nicht
nur ein unverschämt cooler Beweis (auch technischer) seiner
Regie-Virtuosität - es ist der eine Moment von "Authentizität",
von einem strikt chronologischen und minimal redigierten Blick
auf die Welt. Denn danach bricht in dem Film die große Medialität
aus, geht es Polizei wie Gangstern nicht mehr darum, was tatsächlich
passiert, sondern wie man es für die eigenen Ziele optimal
für die Öffentlichkeit darstellen, verkaufen kann.
HEIMAT DES HERZENS
HOUSE OF FLYING DAGGERS und BREAKING NEWS sind beides brillante
Filme - ganz so begeistert, wie ich es erwartet hatte, war
ich trotzdem von beiden nicht: Sie blieben mir, zumindest
jetzt beim ersten Sehen, mehr ein Kopfvergnügen; emotional
hatte ich besonders bei dem Johnnie To-Werk ganz ungewohnte
Probleme, mich wirklich tiefer reinzufinden.
Der eine, große Herzensfilm, die eine echte Entdeckung waren
diesmal in Wien beim aktuellen Programm insgesamt nicht dabei,
wobei das eben auch damit zusammenhing, dass zwar einige meiner
"Filme des Jahres" auf der Viennale liefen, ich sie aber wie
gesagt schon anderweitig gesehen hatte - sei's Park Chan-Wooks
Hammer OLD BOY, die großartige Doku von Berlinger & Sinofsky
METALLICA: SOME KIND OF MONSTER, oder die komplette INFERNAL
AFFAIRS-Trilogie, deren Mittelstück mich schon zu Jahresanfang
in Berlin restlos begeisterte.
Aber manchmal muss man sich dann halt damit begnügen, die
Trüffel dort zu finden, wo sie einen überhaupt nicht überraschen.
In diesem Fall also in der Straub/Huillet-Retro.
Halt, Stop, Auszeit! Gemach, gemach, allen, die mich kennen
und die jetzt vermuten, die Körperfresser hätten mich erwischt.
Keine Angst, ausreden lassen bitte... Weil eben Straub/Huillet
zu ihrer Retro 25 John Ford-Filme um ihre eigenen Werke gruppieren
durften. Die Viennale-Website verkündete dazu, Straub/Huillet
interessiere an Ford das Lehrstückhafte, die Brechtschen Elemente.
Wozu ich nur sagen kann: Schön für sie und sieht ihnen ähnlich.
Aber mich interessieren dann doch eher die Cowboys, Indianer,
Postkutschen und Pferde.
Wobei, im Ernst, ich in einem Film wie CHEYENNE AUTUMN schon
auch die Elemente des Didaktischen sehe - gerade sie aber
weniger schätze. Und mir außerdem das Wenige, was ich von
der Reihe gucken konnte, bewiesen hat, dass wohl einige der
schönsten John Ford-Filme nicht nur jenseits des Kanons von
den rund zwei Dutzend Werken liegt, die alle Welt kennt und
die man immer wieder sieht. Sondern auch viel mehr als man
denkt von ihnen ganz ohne Cowboys, Indianer, Postkutschen
und Pferde auskommen. Darunter der Film, der mich in meinen
paar Viennale-Tagen am meisten berührt und bewegt hat, der
sich den nächsten Platz erschlichen hat zum Herzen, dort,
wo's wirklich zählt: THE LONG VOYAGE HOME, gedreht 1940, an
der Kamera Gregg Toland unmittelbar vor CITIZEN KANE, der
hier schon höchst komplexe, schattengemalte Bilder liefert,
aber von einer klareren Emotionalität. Eine Adaption von vier
Eugene O'Neill-Einaktern über Seeleute; hier die Besatzung
eines Frachters, ein hermetischer Männerkosmos, der lebt vom
Traum, ihn einst verlassen zu können. Die Sehnsucht, die diese
Männer treibt, hat etwas mit Sex zu tun, klar - das anfängliche
Bild für das, was sie suchen, sind Inselschönheiten mit ihren
lockenden Gesängen. Aber jedesmal, wenn in dem Film der Tod
zuschlägt, wächst das Gefühl, dass es um etwas viel Größeres
geht, um eine echte Erlösung. John Wayne spielt einen schwedischen
Matrosen, der schon seit Jahren ankündigt, die jeweilige Fahrt
sei die letzte, er würde sich mit dem gesparten Geld auf einem
Bauernhof in der Heimat sesshaft machen, seine Mutter wiedersehen,
und der dann doch jedesmal das Geld versäuft und wieder auf
eine Kahn landet. Dieser Ole ist in THE LONG VOYAGE HOME für
alle anderen die personifizierte Hoffnung, jeder zehrt von
der Vision, dass es DIESMAL wirklich gelingen muss mit Oles
Heimkehr, und im Schlussakt des Films ist dies so aufgeladen,
dass es einem wirklich fast scheint, als hinge am Gelingen
von Oles Plan die kosmische Frage, ob es für diese Welt eine
höhere Gnade gibt oder nicht. Die Vorstellung, die skrupellosen
Betrüger, die den angelandeten Ole um sein Geld bringen und
auf eine weitere Seemanns-Tour verschleppen wollen, könnten
die Oberhand behalten, wird geradezu unerträglich. Das Ende
vereint dann Rettung und Verdammnis und läßt die meisten in
ihrem ewigen, unbestimmten Schwebezustand dazwischen zurück.
Aber immerhin: Dieser eine Ausblick, dass es wenigstens manche
schaffen, hinaus! Dieser Trost, und er mag ein noch so falscher
sein.
Wozu brauchen wir Kunst, wenn nicht dazu, uns ab und zu vorzulügen,
dass es da draußen für uns so etwas gibt wie eine Heimat...
Thomas Willmann
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