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Viennale '04 11.11.2004
 
 
VERSPÄTET ZUM ALL YOU CAN SEE-BUFFET
Lauren Bacall
Lauren Bacall
 
 
 
 

Die Chance, Lauren Bacall einmal live zu erleben, war schließlich auch der Hauptgrund, warum ich dieses Jahr doch nicht auf den Besuch der Viennale verzichtet habe, obwohl ich mir nicht richtig die gebührliche Zeit für das Festival nehmen konnte.
Bei einem Filmfestival erst anzukommen, wenn es schon merklich in die Zielgerade geht, ist ein eigenartiges Gefühl: Gewöhnlich geht man ein Festival ja voller Hoffnungen an und sieht es erstmal als Reservoir der vielen Möglichkeiten. So aber richtet sich der Blick gleich viel mehr auf's Verpasste, beginnt das Rennen gleich mit einem erheblichen Rückstand.
Ich dachte vorab, das würde so schlimm schon nicht sein, nachdem ich einen Großteil der mich unmittelbar interessierenden Filme schon auf anderen Festivals gesehen hatte, sich die Sachen, auf die ich noch richtig neugierig und vorfreudig war, ohnehin am und nach dem zweiten Wochenende drängten. Aber wenn man erstmal vor Ort ist, entdeckt man halt doch immer dieses noch und jenes, das spannend gewesen wäre, erhascht man hier und dort das Ende einer Reihe, die sich nachträglich als wohl doch bedeutsam herausstellt, und überhaupt reut es einem, dass man die Gelegenheit verstreichen hat lassen, all die schon bekannten schönen Filme nochmal auf einer goßen Leinwand zu schauen.

Nun ist die Viennale (deren Vorzüge ich bereits letztes Jahr ausführlich besungen habe, und die die werte Kollegin Bialas nun auch für sich entdeckt hat und von ihnen nicht minder begeistert war) ohnehin von seiner Festivalstruktur her mehr ein cineastisches Buffet als ein Menu, und sie war dies 2004 mehr denn je: Obwohl auf nur fünf Leinwänden sich abspielend, konnte man schnell den Überblick verlieren über all die Reihen und Unterreihen, Retros, Tributes, Hommagen, Special Programs. Die Trennung des "regulären" Programms in Spiel- und Dokumentarfilme wurde untertunnelt durch die "Propositions"-Reihe, eigentlich eher eine Art Prädikat, das auf ausgewählte, außergewöhnliche Filme besonderen Fokus lenken soll; dazu waren asiatische Genrekino-Beiträge als "Fear East" gebündelt; Lauren Bacall erhielt einen (leider nur...) 10 Filme umfassenden "Tribute", ähnlich Amos Vogel, der New Yorker Underground-Pionier; die offizielle Retro galt Straub/Huillet, die aber noch 25 von ihnen ausgewählte John Ford-Filme Huckepack hatten; "Special Programs" gab es zu Jean-Pierre Gorin, Koreeda Hirokazu und Paul Fejos, im Grunde alles kleine Retrospektiven.
Und da jetzt also hungrig reingeplatzt, während das Bankett schon über eine Woche in vollem Gange war und manch einer sich schon fast wieder sattgesehen hatte... Es war gar nicht dran zu denken, da auch nur eine Art von Kino-Gericht noch zur füllenden Hauptspeise zu machen, und auch jeder Versuch, wenigstens mal von allem probiert zu haben, war zum Scheitern verurteilt.
Was blieb war, in so viele Leinwand-Speisen wie möglich zumindest mal kurz den Löffel reinzutauchen und sich von den besonders schmackhaften dann nochmal eine weitere Portion auf den Teller zu laden.

KNOWING HOW TO WHISTLE

Etwas üppiger zugegriffen habe ich selbstverständlich gleich mal bei den Filmen der Lauren Bacall-Hommage. Zum einen ist es immer faszinierend, solchen Leinwand-Ikonen, die einem immer unserer gewöhnlichen Welt entrückt vorkamen, von denen man immer nur die küsntliche Film-Persona kannte, im Kino wiederzubegegnen, nachdem man das Glück hatte, sie einmal als realen Menschen erlebt zu haben. Es wird einem viel klarer, welch wundersame Mischung aus Abbildung und Traum Kino eigentlich ist; man hat ein geschärftes Bewusstsein für den wirklichen Körper, der da irgendwann mal vor einer Kamera gestanden hat und als Projektor und Projektionsfläche zugleich dient für all das Imaginierte, mit dem ihn der Film umlagert. Zum anderen hat Lauren Bacall ja - unter uns gesagt - doch irgendwie recht: Früher WAR alles besser, und Filme aus Hollywoods Glanzzeiten sind halt immer ein Genuss.
1957 in Vincente Minnellis DESIGNING WOMAN und noch mehr 1964 bei SEX AND THE SINGLE GIRL (Regie: Richard Quine) war der Glanz freilich schon am Abblättern. Da war Hollywood schon zunehmend in der Deffensive gegen dieses aufmüpfige neue Medium Fernsehen und gegen den beginnenden Kontinentaldrift des abendländischen Weltbilds. Komödien beides, aber beide lassen unterschwellig spüren, dass die Neuverhandlung der Geschlechterrollen so lustig gar nicht ist für das damalige Selbstverständnis, dass Gefühle echter Bedrohtheit und Ratlosigkeit mitschwingen. (SEX AND THE SINGLE GIRL übrigens auch insofern eine Entdeckung, weil es das direkte Vorbild zu DOWN WITH LOVE ist - der zwar in vielen Belangen mehr die Doris Day/Rock Hudson-Filme wiederauferstehen ließ, seinen Plot und die Figurenkonstellation aber direkt von Quines Film hat.)
Was waren das noch Zeiten, als echte Männer und wahre Frauen scheinbar noch ihren Platz kannten - und dafür das frivole Spiel miteinander um so frecher führten, in THE BIG SLEEP. Wobei: Mit jedem Sehen wird mir der Film rätselhafter - nicht, weil der Plot so verworren ist; Plots interessieren mich am Kino sowieso am wenigsten, und ich bin nur zu bereit, ein Angebot wie das von Howard Hawks hier anzunehmen: Dass nämlich der Plot letztlich unwichtig ist, nur Vektoren liefert, um Szenen in Bewegung zu setzen, dass man sich um Details nicht wirklich kümmern braucht, dass es um etwas anderes geht. Das schien mir bei diesem Sehen aber mehr denn ja das Eigenartige dieses Films: Dass er dauernd und auf allen Ebenen immer etwas anderes eigentlich zu meinen scheint als das, was er sagt. Am klarsten und bekanntesten ist das freilich bei all den Doppeldeutigkeiten, die Hawks mit kindlicher Freude nutzt, um andauernd von Sex zu reden, ohne dass die Zensur etwas dagegen sagen kann. Aber es kam mir beim Wiener Wiedersehen mit BIG SLEEP so vor, als würde dieser Film das Prinzip des "Eigentlich geht es um was ganz anderes" zu einer schon fast abstrakten Kunstform weiterentwickeln, indem er eben auch narrativ die Anker löst, und er einen - sobald man nach einer gewissen Weile einfach aufgehört hat zu versuchen, noch verstehen zu wollen, wer nun wen wann wie warum umgebracht, erpresst und sonstwas hat - in allen Szenen nach etwas suchen läßt, das nicht an der Oberfläche des Interesses zu finden ist.

WER DENKT DA SCHON AN PIROSCHKA?

Dank des "Früher war alles besser"-Mottos hat dann in der Retro-Ecke des Viennale-Buffets gleich auch die Paul Fejos-Reihe (offiziell eigentlich ein "Special Program") meinen Appetit geweckt. Es ist keine Schande, wenn Sie Paul Fejos nicht kennen - der ungarischstämmige, aber in zahlreichen Ländern tätige Regisseur, war mir vorher auch kein Begriff. Was jedoch vermutlich schade ist; aber so genau kann ich das auch nicht sagen, weil es bei der kleinen Retro für mich sozusagen gerade mal dazu reichte, kurz einen Finger in den Paprikadip zu tauchen.
Das eine Häppchen, das ich mir zu gönnen schaffte, war MARIE, LÉGENDE HONGOROISE (produziert 1932 in Frankreich). Und der war einerseits wunderschön, weil hochartifiziell (ich fühlte mich vom irrealen Feeling etwas an Laughtons NIGHT OF THE HUNTER erinnert, oder auch an Murnaus SUNRISE), pathetisch, sentimental, andererseits empfand ich vieles als zu gewollt, zu sehr am grünen Tisch geplant statt erträumt, erfühlt von seiner Symbolik her, und mit einer gewissen unterschwelligen Biederkeit behaftet, die bei Laughton oder Murnau eben nicht zu finden ist.
Wenig Erfolg war dem Versuch beschieden, diesen Eindruck an einem zweiten Fejos-Film zu verifizieren. DET GYLDNE SMIL, Fejos' letzter Spielfilm, gedreht in Dänemark, lief in einer OF-Kopie ohne Untertitel. Nun wurde vorher eine recht ausführliche Inhaltsangabe ausgeteilt, dann ist Dänisch ja eine der Sprachen, bei denen man als Deutscher mit Englischkenntnissen, der viele Lars von Trier-Filme gesehen hat, sich hin und wieder doch ein Sätzlein erschließen kann, und bei MARIE, LÉGENDE HONGROISE wäre einem fast nichts entgangen, selbst wenn man kein einziges der wenigen gesprochenen Worte verstanden hätte. Wird schon nicht so schlimm, dachte ich also. Wo MARIE aber eine Art Stummfilm mit Tonspur war - erzählt allein über die Bilder, das Akustische nur für Emotion, Rhythmus, Geräusch nutzend -, lief in DET GYLDNE SMIL fast alles Wesentliche über den Dialog ab. Da wurde viel und breit über (soviel bekam man mit) das Wesen der Kunst und des Todes diskutiert, und man hätte das im Detail verstehen müssen, um wirklich was zu haben von dem Film. Zudem hinterließ zumindest die für mich erfassbare Oberfläche des Films mehr noch als MARIE den Eindruck einer gewissen bürgerlichen Possierlichkeit. So dass ich nach ungefähr einer halben Stunde dieses potentielle Leckerli (wenn man nur Dänisch könnte!) angebissen auf den Projektionstellern zurückließ, ohne aufzuessen. Vielleicht war deshalb das Wetter immer so trüb.

CLEANE HAUTE-CUISINE

Wenig Zeit blieb mir leider diesmal auch, ausgiebiger von der französischen Ciné-Haute cuisine zu naschen.
Und das eine der nur zwei goutierten gallischen Leinwand-Gerichte war dann auch noch eine eher internationale Mischung: Gedreht in Kanada, Paris und London, mit einem Ensemble aus diverser Herren Länder (u.a. dabei: Nick Nolte und Béatrice Dalle). Nach dem gemeinhin als glücklos empfundenen DEMONLOVER hat Olivier Assayas allen Genre-Anklängen und aller selbstreflexiven Komplexität erstmal adieu gesagt und mit CLEAN (der Titel ist selbstverständlich auch programmatisch zu lesen) reinen Tisch gemacht - eine "einfache" Charakterstudie um eine Rock'n'Roll-Witwe, die sich nach dem Überdosis-Tod ihres Mannes von den Drogen und den schon alt gewordenen hochfliegenden Träumen vom großen Durchbruch verabschieden muss; die nach einer Gefängnisstrafe darum kämpft, ihren bei den Großeltern väterlicherseits aufgewachsenen kleinen Sohn zurückzugewinnen, und die diese Mutterrolle aber nie als endgültige Entscheidung gegen ihre Kunst akzeptiert.

Zum Ereignis wird der Film grade dadurch, dass Assayas als Regisseur in den Hintergrund tritt und seine Aufgabe vornehmlich darin sieht, seiner Hauptdarstellerin die Bühne zu bereiten. In IRMA VEP hatte Assayas seine aus nachvollziehbaren Gründen geliebte Maggie Cheung noch als Fetischobjekt besetzt und inszeniert; bei den Dreharbeiten kamen die beiden sich ganz offensichtlich tatsächlich näher, sie hat ihn später geheiratet (was wieder mal beweist: Man muss nur unverschämt genug sein!); inzwischen aber wurde die Ehe wieder geschieden (was wieder mal beweist: Fantasien überstehen selten ihr Wahrwerden) - und erst jetzt scheint Assayas Maggie Cheung wirklich als echte Frau, als Mensch zu lieben. Denn so komplex und verletzlich, so nah am Boden hat man sie noch nie auf der Leinwand erlebt; es gibt Szenen, da läßt die Kamera sie nahezu häßlich aussehen, so schutzlos ungeschminkt und uvorteilhaft beleuchtet zeigt sie ihr Gesicht, ohne auch nur den Hauch von Glamour, den die meisten Filmdiven sich bewahren, selbst wenn sie Elend darstellen; da kann man ahnen, wie Cheung als Kind ausgesehen hat, und wie sie aussehen wird, wenn sie alt ist, oder wie sie aussehen würde, wenn sie kein Star wäre sondern eine gewöhnliche Chinesin irgendwo auf dem verarmten Land. Aber genau in den Momenten leuchtet dann eine ganz andere, innere Schönheit aus ihr auf. Da ist Assayas nah dran, die Kunst- und Fantasiemaschine Kino scheinbar auszuhebeln und die Illusion zu erzeugen, da sei wirklich ein Mensch in einem spezifischen Moment eingefangen, da habe sich ein kurzer Blick auf den Kern einer Person aufgetan - ohne dass man noch sinnvoll trennen könnte zwischen einer Filmfigur und der sie darstellenden Frau: Genau die Umkehrung von IRMA VEP mit seiner Phantasie-Projektion auf glänzendes Latex; jetzt die sich öffnende Begegnung mit der Haut des anderen.
Noch näher auf Straßenlevel war dann L'ESQUIVE von Abdellatif Kechiche: Eine Art wahrhaftigeres Gegenstück zum supererfolgreichen LES CHORISTES (DIE KINDER DES MONSIEUR MATTHIEU) - weil auch hier heutige Unterprivilegierte und klassische Hochkultur aufeinandertreffen: Teenager in einer Banlieu-Hochhaussiedlung studieren für eine Schulaufführung eine Verwechslungskomödie von Marivaux ein; weil er sich in die (blonde, weiße und hochgradig selbstbewusste) Lydia verguckt, die die Rolle des als Dame verkleideten Dienstmädchens spielt, schwatzt das arabische Einwandererkind Krimo einem Kumpel dessen Platz in dem Stück ab, gegen Turnschuhe, einen Marken-Jogginganzug, eine Playstation.

Das Schöne an dem Film: Er lässt Krimo nicht die übliche mirakulöse Verwandlung durchmachen, wird nicht zur Geschichte der Selbstfindung. Krimo bleibt sich treu - verstockt und schüchtern, seinen Text murmelt er immer nur in sich hinein, kann einfach nicht aus sich herausgehen. Nicht, weil der Film keine Brücke sähe zwischen Marivaux und Glasscherbenviertel-Teenies: Die Aufführung des Stücks am Schluss - ohne Krimo - wird offenbar ein Erfolg; es gibt durchaus eine Kommunikation (wenngleich keine selbstverständliche) zwischen diesen nicht nur durch Jahrhunderte getrennten Welten, die zunächst scheinbar wenig eint außer der nationalen Geographie und Sprache.

Aber das Problem ist genau Sprache - L'ESQUIVE ist nicht zuletzt ein Film darüber, wie man sich Idiome erkämpfen muss. Denn das Französisch Marivauxs hat wenig gemein mit dem Französisch, das die Banlieu-Teenies sprechen, schreien, schimpfen (und das seinerseits wenig mit unsereinens Schul-, Urlaubs- und Literaturfranzösisch zu tun hat - ohne Untertitel wäre da nicht viel gegangen...). Und Krimos größtes Problem ist nunmal: Der Junge REDET NICHT! Manchmal möchte man ihn packen und schütteln, aber auch das würde bestimmt nichts bringen. Er ist unfähig, sich die fremde Rede des Theaterstücks zu eigen zu machen, sie so zu sprechen, als käme sie aus ihm, weil er auch sonst kaum eine Sprache für sich zu haben scheint. Auch in den ewigen, mit lautstarker Vehemenz ausgetragenen Streitereien der anderen untereinander in ihrem "Ghetto"-Idiom (die den Film mitunter etwas anstrengend machen können) ist Krimo meist ziemlich stummer Zuschauer. Nicht soziale Klasse, Hautfarbe, Herkunft ist es, die Krimo einsam macht, sondern diese Sprachlosigkeit.

50.000 MASTURBIERENDE CHINESEN

Ein Grund, warum so wenig Zeit blieb, mich an den Filmen aus dem Lande von Paul Bocuse zu laben, war, dass ich mich mal wieder voller Heißhunger auf so ziemlich alles gestürzt habe, was nach Frühlingsrollen und Peking-Ente duftete, bzw. Martial Arts-Hechtrollen und Peking-Oper versprach. Abseits vom Genre tischte die Viennale in ihrer Asien-Ecke jedoch erstmal eher schwere Kost auf. "Almost Entertainment" heißt die Produktionsfirma des Debutfilms von Liu Fen Dou, LU MAOTZE (THE GREEN HAT), und das erwies sich als programmatisch: Der Film hat zweifelsohne seine sehr unterhaltsamen Seiten, aber dann wird er immer auch wieder reichlich mühsam. Erstmal hatte er aber den wohl schönsten Anfang aller Festivalfilme: Ein leerer Meeresstrand, im Vordergrund ein Chinese mit einer wild zauseligen, eher modisch japanisch aussehnden Perrücke, in eine Wolldecke gehüllt, der in die Kamera erzählt: "Ein Filmanfang. Ein Mann steht am Strand und masturbiert. Das Publikum denkt der Film sei ein Porno. Dann nimmt der Typ, plopp, seinen Schwanz ab und zwei Tiere kriechen draus hervor. Das Publikum denkt, es sei also doch Science Fiction. Dann fährt die Kamera zurück und man sieht, dass an dem Strand 50.000 Männer stehen und masturbieren. Da weiß das Publikum: Es ist ein Kunstfilm!"

LU MAOTZE ist letztlich auch "Filmkunst", ergeht sich mitunter schon auch in geistiger Masturbation, wenngleich er eher Roadmovie-artig zu beginnen scheint, mit drei verschrobenen Typen in einem Auto, und bald Zwischenstop bei einem Bankraub macht. Worum es aber wirklich geht sind Erektionsprobleme. Selbige plagen einen überraschend in den letzten beiden Film-Dritteln zur Hauptfigur avancierenden Polizeiinspektor, und seine männliche Identitäts- und Ehekrise soll man wohl auch als chinesische Krise an sich lesen - nicht umsonst spielen westliche Einflüsse und Kapitalismus nicht nur in der Form von Viagra wichtige Rollen am Rande.
Andererseits geht es wohl auch schlicht konkret darum, dass - das Politische bestimmt das Private - in der momentanen gewaltigen Umbruchphase der Volksrepublik auch im Verhältnis von Mann und Frau die Karten neu gemischt werden, dass man sich neue Formen der Selbstverortung, Beziehungsprobleme, Verkomplizierungen zwangsläufig mit importiert.
Gerade in Hinsicht aufs Intime hat der Film durchaus Momente von großer Schönheit, Wahrheit, Witz, aber was ihn in anderen Momenten wieder erschlaffen lässt ist nicht nur, dass Männer immer dazu tendieren, irgendwann langweilig zu werden, wenn sie zu ernst und ausführlich ihren Schwanz zum Dreh- und Angelpunkt des Weltverständnisses machen, sondern dass Regisseur Liu Fen Dou eine Vorliebe für lange Einstellungen hat, aber (noch) nicht immer das Talent, denen dann einen zwingenden Rhythmus aufzuprägen.

WIE BEI OZUS UNTERM SOFA

Freilich, Rhythmus in minutenlange Einstellungen zu bringen ist auch eine hohe Kunst, weil die Post-Production da ja kaum Rettungsmöglichkeiten bietet. Aber ein anderer asiatischer Regie-Debütant beherrschte sie schon ungleich besser. Vielleicht hat dem Taiwanesen Lee Kang-Sheng dabei auch geholfen, dass er als Schauspieler schon reichlich Gelegenheit hatte, ein paar Meister ihres Fachs bei der Regie-Arbeit zu beobachten, vor allem Tsai Min-liang, bei dem er zur Stammbeseztung gehört und für den er bei unser aller letztjährigem Viennale-Favoriten BU SAN - GOODBYE, DRAGON INN den Filmvorführer mimte.
Sein erster eigener Film, BU JIAN (THE MISSING), ist ein Film voller Abwesenheiten. Ein kleiner Junge auf einem Spielplatz kommt der babysittenden Oma abhanden, einem Teenager entwischt der verwirrte Großvater aus der Wohnung. Der Film hält eine seltsame Halbdistanz zu seinen Figuren; gleich in der ersten Einstellung steht im Vordegrund ein Aquarium dem direkten Blick im Wege, später macht die Kamera sich nicht die Mühe, ihre Augenhöhe zu verlassen, wenn Grashügel im Park die panisch nach ihrem Enkel suchende alte Frau fast vollständig verdecken. Aber diese Zurückhaltung ist doch keine Gleichgültigkeit, was man allein an der Zeit spürt, die Lee Kang-Sheng sich nimmt, um seine Charaktere bei ihren fruchtlosen Suchen zu beobachten.
Die eigentlich "Vermissten" in dem Film sei die Generation zwischen den Teenagern und den Rentnern, hat der Regisseur beim anschließenden Gespräch gesagt. Menschen dieser Generation kommen in dem Film höchstens als Passanten vor; sie fehlen, weil sie alle bei der Arbeit sind. Und weil sie keine Zeit haben, sich um ihre Eltern und ihre Kinder zu kümmern, können sich Geschichten der Verzweiflung wie die von BU JIAN überhaupt erst in Bewegung setzen.

Als einer der ästhetischen Bezugspunkte von BU JIAN darf wohl auch Hou Hsiao-Hsien gelten, ohne den im modernen taiwanesischen Kunstkino sowieso wenig zu denken ist. Der Großmeister selbst aber hat sich mal eben nach Japan verabschiedet, um dort seinerseits Reverenz zu erweisen, und zwar an Ozu zu dessen 100. Geburtstag.
KOHI JIKOU (CAFÉ LUMIÈRE) ist dann wie ein Ozu-Film, in dem nicht aufgeräumt wurde. Hou Hsiao-Hsien fährt all die klassischen Ozu-Einstellung, Rauminszenierungen, Tiefenstafflungen von Familien in japanischen Häusern geradezu lehrbuchhaft auf, aber innerhalb dieser Framings läßt er mehr Leben, mehr Unordnung zu. Er dreht on location statt im Studio, beläßt all den kleinen Krimskrams des Lebens im Bild; hat es selbstverständlich auch mit einer ganz anderen Zeit zu tun, in der die Rollen und Zwänge der japanischen Gesellschaft lang nicht mehr so starr definiert sind. Es ist ein Film, bei dem man zwischen zwei Sehweisen oszilieren kann: Man kann sich dem ruhigen, impressionistischen Drift an seiner Oberfläche hingeben, diesem wunderbaren Gefühl, dass nichts passiert und doch etwas geschieht. Oder man kann einsteigen auf die Genauigkeit, mit der jede Einstellung eben doch bewusst komponiert ist, kann anfangen, ein Geflecht von Zeichen zu sammeln und zu deuten, die manchmal nur zufällig verstreut scheinen und dann doch zentrale Szenen besetzen - Eisenbahnen und Uhren bevölkern den Film, von Wechselbälgen und einem Komponisten ist viel die Rede, und das alles passt auf seltsame Weise stimmig zusammen, scheint Teil eines größeren Systems, ohne dass sich dieses nach dem ersten Sehen des Films schon enträtseln ließe.

SCHWELLENLAND UND MEISTERHAND

Jetzt braucht aber keiner zu glauben, dass nach solch gehaltvoller Kost zum Nachtisch nur leere Kalorien gereicht wurden. Das Dessert fast jeden Viennale-Abends war die "Fear Asia"-Reihe, die ähnlich der Mitternachtsreihe im Delphi bei der Berlinale mit Genre-Zuckerl lockte (und die ein, zwei Mal auch gleich nahtlos zum Betthupferl wurde für mich - Kinoschlaf kann so schön sein...). Aber nur weil diese Filme vermeintlich leichter zu genießen waren, boten sie nicht unbedingt weniger zum cineastischen Nachschmecken.
Bleiben wir noch kurz in Taiwan, das in Genre-Dingen bisher ja international noch nicht allzu auffällig wurde. Das dürfte sich bald ändern, wenn SHUANG TONG (DOUBLE VISION) repräsentativ sein sollte. Klar, der ist schon bewusst auf globalen Erfolg hin konzipiert, von Columbias Asien-Division mitproduziert, mit leading men aus Hong Kong und den USA besetzt - Tony Leung und David Morse. Die Dynamik zwischen den beiden, der witzvolle Blick auf die Kulturdifferenzen gehören zu den größten Freuden des Films, der auch in seinem thematischen Material und seinem Stil weltweit überall bedient, wo er Marktpotential wittert. Ein bisschen FBI-Serienkiller-Film, SILENCE OF THE LAMBS, SE7EN hier, ein bisserl Okkult-Thriller dort, ein bisschen Buddy-Movie, und dann auch eine gute Dosis INFERNAL AFFAIRS mit seinen Vorstellungen der buddhistischen Höllen. Irgendwie schafft es Regisseur Kuo-Fu Chen auf der Zielgerade aber doch, die Zutaten dieses Eintopfs geschmacklich zu verbinden, dem Ganzen dabei eine individuelle Note zu geben und, noch wichtiger, ganz zum Schluss unerwartete emotionale Reichhaltigkeit.

Thailand hingegen bleibt vorerst cineastisches Schwellenland. Was seine Vorteile hat: Der famose ONG BAK, der demnächst bei uns anlaufen wird, konnte nur aus einer Kino-Nation kommen, die noch so hungrig, verspielt und opferbereit ist, wie es Hong Kong zwischen den '60ern und '80ern war. Sein Hauptdarsteller Tony Jaa wird nicht unberechtigt als legitimer Erbe von Jackie Chan und Bruce Lee gefeiert.
Aber statt ONG BAK lief auf der Viennale aus Thailand BUPPAH RAHTREE (RAHTREE: FLOWER OF THE NIGHT), und der trug zwar auch sämtliche Züge einer Populär-Kinotradition, die noch extrem unbefangen zu Werke geht, aber gerade das machte diese Horror-Komödie um eine Besessene in einem Wohnblock auf Dauer doch recht nervig: Der Film nutzt behinderte Nebendarseller mit einem sehr fragwürdigen Freakshow-Touch; und seinen ohnehin recht dürftigen Grundgag, dass nämlich Leute kreischend vor irgendwelchen Spukerscheinungen wegrennen, wiederholt er, nach einer Viertelstunde von akuter Ideenabsenz befallen, so oft, bis man grüne Erbsensuppe speiben könnte. Ach ja, eine astreine THE EXORZIST-Parodie hatte dieser buddhistisch-katholische Thai-Trash zwischendurch auch mal zu bieten. Immerhin.

Während sich dieser thailändische Beitrag dem Genre-Kino näherte wie kleine Kinder dem Kochen, indem sie irgendwas zusammenmantschen und sich freuen, dass es spritzt und stinkt, hatten die Chefs aus China ihre subtile Freude daran, die bekannten Rezepte raffiniert zu variieren und fein neu abzuschmecken.
Zhang Yimou scheint bei HERO ja richtig Gefallen gefunden zu haben am Martial Arts-Kino, und wo es wohl noch zu früh ist zu hoffen, dass Festland-China auf dem Weg sein könnte zu einer neuen Hochblüte seines National-Genres, so wie sie einst die USA mit den Hollywood-Western erlebte, so kann man sich doch erstmal freuen, dass Zhang Yimou jetzt gleich nachgelegt hat mit HOUSE OF FLYING DAGGERS (SHIMIAN MAIFU). Wo HERO in klaren, großen Farbflächen strahlte, bersten die Bilder von HOUSE OF FLYING DAGGERS vor Ornamentalem. War HERO ein Epos, so ist HOUSE OF FLYING DAGGERS eher ein Kammerspiel unter freiem Himmel, ganz konzentriert auf das Dreieck seiner Hauptfiguren. Spektakulär allein schon die Besetzung - Takeshi Kaneshiro, Andy Lau, Zhang Ziyi; spekatkulärer aber noch, dass die auch funktioniert, dass weder der Japaner, noch der doch eher für zeitgenössische Rollen zuständige Lau fremd wirken im chinesischen Historien-Dekor, und dass Zhang Ziyi der Aufgabe gewachsen ist, mal ohne Maggie Cheung an ihrer Seite den weiblichen Part des Films zu tragen.

Im Gegensatz zum recht spät zum Genre-Kino bekehrten Zhang Yimou hat Johnnie To seine künstlerische Berufung schon lang gefunden im Erzählen vom ewigneuen Katz-und-Maus zwischen Gangstern und Polizei (oder manchmal auch nur Gangstern untereinander). Wann immer man glaubt, dass To nun wirklich alles gesagt haben muss, was es dazu zu sagen gibt, zieht er ein Ding wie BREAKING NEWS (DAI SI-GIEN) aus dem Hut und belehrt einem eines Besseren. Der Film beginnt mit einer fast zehnminütigen Schießerei IN EINER EINZIGEN, UNGESCHNITTENEN EINSTELLUNG, und das ist nicht nur ein unverschämt cooler Beweis (auch technischer) seiner Regie-Virtuosität - es ist der eine Moment von "Authentizität", von einem strikt chronologischen und minimal redigierten Blick auf die Welt. Denn danach bricht in dem Film die große Medialität aus, geht es Polizei wie Gangstern nicht mehr darum, was tatsächlich passiert, sondern wie man es für die eigenen Ziele optimal für die Öffentlichkeit darstellen, verkaufen kann.

HEIMAT DES HERZENS

HOUSE OF FLYING DAGGERS und BREAKING NEWS sind beides brillante Filme - ganz so begeistert, wie ich es erwartet hatte, war ich trotzdem von beiden nicht: Sie blieben mir, zumindest jetzt beim ersten Sehen, mehr ein Kopfvergnügen; emotional hatte ich besonders bei dem Johnnie To-Werk ganz ungewohnte Probleme, mich wirklich tiefer reinzufinden.
Der eine, große Herzensfilm, die eine echte Entdeckung waren diesmal in Wien beim aktuellen Programm insgesamt nicht dabei, wobei das eben auch damit zusammenhing, dass zwar einige meiner "Filme des Jahres" auf der Viennale liefen, ich sie aber wie gesagt schon anderweitig gesehen hatte - sei's Park Chan-Wooks Hammer OLD BOY, die großartige Doku von Berlinger & Sinofsky METALLICA: SOME KIND OF MONSTER, oder die komplette INFERNAL AFFAIRS-Trilogie, deren Mittelstück mich schon zu Jahresanfang in Berlin restlos begeisterte.
Aber manchmal muss man sich dann halt damit begnügen, die Trüffel dort zu finden, wo sie einen überhaupt nicht überraschen. In diesem Fall also in der Straub/Huillet-Retro.

Halt, Stop, Auszeit! Gemach, gemach, allen, die mich kennen und die jetzt vermuten, die Körperfresser hätten mich erwischt. Keine Angst, ausreden lassen bitte... Weil eben Straub/Huillet zu ihrer Retro 25 John Ford-Filme um ihre eigenen Werke gruppieren durften. Die Viennale-Website verkündete dazu, Straub/Huillet interessiere an Ford das Lehrstückhafte, die Brechtschen Elemente. Wozu ich nur sagen kann: Schön für sie und sieht ihnen ähnlich. Aber mich interessieren dann doch eher die Cowboys, Indianer, Postkutschen und Pferde.

Wobei, im Ernst, ich in einem Film wie CHEYENNE AUTUMN schon auch die Elemente des Didaktischen sehe - gerade sie aber weniger schätze. Und mir außerdem das Wenige, was ich von der Reihe gucken konnte, bewiesen hat, dass wohl einige der schönsten John Ford-Filme nicht nur jenseits des Kanons von den rund zwei Dutzend Werken liegt, die alle Welt kennt und die man immer wieder sieht. Sondern auch viel mehr als man denkt von ihnen ganz ohne Cowboys, Indianer, Postkutschen und Pferde auskommen. Darunter der Film, der mich in meinen paar Viennale-Tagen am meisten berührt und bewegt hat, der sich den nächsten Platz erschlichen hat zum Herzen, dort, wo's wirklich zählt: THE LONG VOYAGE HOME, gedreht 1940, an der Kamera Gregg Toland unmittelbar vor CITIZEN KANE, der hier schon höchst komplexe, schattengemalte Bilder liefert, aber von einer klareren Emotionalität. Eine Adaption von vier Eugene O'Neill-Einaktern über Seeleute; hier die Besatzung eines Frachters, ein hermetischer Männerkosmos, der lebt vom Traum, ihn einst verlassen zu können. Die Sehnsucht, die diese Männer treibt, hat etwas mit Sex zu tun, klar - das anfängliche Bild für das, was sie suchen, sind Inselschönheiten mit ihren lockenden Gesängen. Aber jedesmal, wenn in dem Film der Tod zuschlägt, wächst das Gefühl, dass es um etwas viel Größeres geht, um eine echte Erlösung. John Wayne spielt einen schwedischen Matrosen, der schon seit Jahren ankündigt, die jeweilige Fahrt sei die letzte, er würde sich mit dem gesparten Geld auf einem Bauernhof in der Heimat sesshaft machen, seine Mutter wiedersehen, und der dann doch jedesmal das Geld versäuft und wieder auf eine Kahn landet. Dieser Ole ist in THE LONG VOYAGE HOME für alle anderen die personifizierte Hoffnung, jeder zehrt von der Vision, dass es DIESMAL wirklich gelingen muss mit Oles Heimkehr, und im Schlussakt des Films ist dies so aufgeladen, dass es einem wirklich fast scheint, als hinge am Gelingen von Oles Plan die kosmische Frage, ob es für diese Welt eine höhere Gnade gibt oder nicht. Die Vorstellung, die skrupellosen Betrüger, die den angelandeten Ole um sein Geld bringen und auf eine weitere Seemanns-Tour verschleppen wollen, könnten die Oberhand behalten, wird geradezu unerträglich. Das Ende vereint dann Rettung und Verdammnis und läßt die meisten in ihrem ewigen, unbestimmten Schwebezustand dazwischen zurück. Aber immerhin: Dieser eine Ausblick, dass es wenigstens manche schaffen, hinaus! Dieser Trost, und er mag ein noch so falscher sein.
Wozu brauchen wir Kunst, wenn nicht dazu, uns ab und zu vorzulügen, dass es da draußen für uns so etwas gibt wie eine Heimat...

Thomas Willmann

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