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Manche auffälligen Gemeinsamkeiten, sinnfälligen
Gruppierungen, postulierbaren Trends unter der Filmen im Programm
wurden schon vorab vermeldet, wären auch gar nicht zu
übersehen gewesen - die große Anzahl an Musik-Dokus
beispielsweise. Viel schöner aber ist es bei einem Filmfest
immer, auf eigene Faust und zufällig zu entdecken, dass
es zwischen scheinbar weit entfernten Filmen Querverbindungen
gibt, dass zwei, drei Werke plötzlich beginnen, miteinander
zu kommunizieren, ohne dass da ein Plan, eine Absicht, ein
Bewusstsein dahinter stecken könnte.
TARNATION, THE HEART IS DECEITFUL ABOVE ALL THINGS und NOBODY
KNOWS (DAREMO SHIRANAI) sind völlig unterschiedliche
Filme - eine Quasi-Dokumentation, zwei Spielfilme; zwei amerikanische
Produktionen (davon eine mit europäischer Regiesseurin),
eine japanische; drei aus ganz unterschiedlichen Ansätzen,
Haltungen und Traditionen erwachsende Streifen. Aber in allen
dreien geht es um (gelinde gesagt) schwierige Kindheiten,
in allen dreien geht es um schwer gestörte Mütter.
Jonathan Caouettes TARNATION wurde angepriesen als der billigste
Film, der auf dem Festival zu sehen sei - seit ein paar Jahren
konkurrieren ja die Independent-Filmemacher ähnlich wie
die großen Hollywood-Studios gerne mit Rekord-Budgets,
nur dass hier die Latte eben immer tiefer gelegt werden muss.
(Übrigens, liebe Filmfest-Katalogredaktion: "Tarnation"
ist im Amerikanischen ein Ersatzwort für "Damnation",
das Leute benutzen, die sich scheuen, "richtig"
zu fluchen. Das mit dem Tarantino-Anagramm ist purer Zufall
und hat NIX mit dem Film zu tun...) Und es ist interessant,
dass Caouette (der für den Film alleinverantwortlich
ist) mit dieser Summe von angeblich unter $250 hausieren geht,
dass er sie bewusst als Vermarktungs-Werkzeug einsetzt - wo
der Film einen so persönlichen, tief ins Intimste gehenden
Eindruck macht. Wie sich gerade diese Summe von exakt $218,32
(laut Filmfest-Katalog) errechnen soll, ist sowieso schleierhaft,
denn Caouette hat den Film - großteils auf seine schon
in der Kindheit begonnene Amateurfilmerei aus 20 Jahren zurückgreifend
- komplett daheim am iMac zusammengepfriemelt.
Er erzählt - durch nüchterne, von Caouette selbst
unpersönlich in der dritten Person sprechenden Texteinblendungen
zu seinem Bildmaterial - von dem Mädchen (Caouettes Mutter),
das schon in jüngsten Jahren so hübsch war, dass
es Kinder-Fotomodell wurde; das dann psychische Probleme entwickelte,
vom Dach sprang - und daraufhin über Jahre, Jahrzehnte
mit Elektroschock-Therapie behandelt wurde, was dann tatsächlich
irreparable Hirnschäden hervorrief. Er erzählt vom
Sohn dieser Frau (gezeugt von einem Vater, der sich sehr bald
für Jahrzehnte auf Nimmerwiedersehen verabschiedete)
und seiner Horror-Kindheit, verbracht mal umherziehend mit
der zunehmend unzurechnungsfähigen Mutter, mal in Pflegefamilien
(die ihn missbrauchten), mal bei den Großeltern (von
denen die Großmutter nicht minder therapiebedürftige
Züge zeigte...). Er erzählt davon, wie dieser Junge
sein Schwulsein entdeckt und auszuleben beginnt, wie er sich
schließlich von der Familie lösen kann, nach New
York geht und (schon immer ein Theater- und Filmfreak) dort
zum Schauspieler wird. Und wie ihn die Familie schließlich
doch wieder einholt, als seine Mutter durch eine Lithium-Überdosis
vollends schwer hirngeschädigt wird und er versucht,
sich um sie zu kümmern.
Vermutlich ist das alles dokumentarisch, autobiographisch;
zumindest setzt der Film darauf, dass man ihm alles als Fakt
abnimmt, was er behauptet, aber Garantien dafür gibt
es nicht, und recht betrachtet macht der Film selbst auch
nie explizit geltend, dass alles durch die Bank "wahr"
sei, was er erzählt. Soviel scheint unbestreitbar (weil
ein Fake von zu langer Hand vorbereitet, zu aufwendig und
zu professionell hätte sein müssen, um etliches
von dem in TARNATION zu sehenden Material liefern zu können):
Caouettes Mutter litt seit langem an zunehmend gravierenden
Hirnschäden, und in Caouettes Kindheit ist vieles sehr
schief gelaufen. Aber Caouette ist offensichtlich seit jeher
ein geborener Schauspieler; man sieht in schon als Elfjährigen
für die Kamera spielen (die Rolle einer vom Ehemann geschlagenen
und missbrauchten Südstaaten-White Trash-Frau... Calling
Dr. Freud...).
Und so faszinierend TARNATION fraglos ist - man wird das
Gefühl nicht ganz los, dass er nicht nur ein Stück
Selbsttherapie ist, dessen Notwendigkeit nur zu verständlich
scheint, dass es Caouette nicht nur darum geht, mit seinem
traumatischen Psycho-Gepäck klarzukommen. Sondern dass
der Film auch zu gewissem Grade eine Performance um seiner
selbst willen ist, das er auch ein Rollen-Spiel Caouettes
ist: Da ist ein Unterton von "Seht, was ich für
ein krasses Schicksal hatte, und guckt, wie virtuos ich daraus
Kunst mache!". Soweit es Caouette selbst betrifft, ist
es sein gutes Recht, seine heftigen Erfahrungen auszubeuten
zu welch Zweck auch immer.
Ein unguter Beigeschmack bleibt bei dem Film nur, weil einen
hin und wieder das Gefühl beschleicht, dass er dazu auch
jene Menschen benutzt, die nicht mündig darüber
mitentscheiden können, was TARNATION mit ihnen macht.
In der vielleicht stärksten, aber auch problematischsten
Szene beobachtet Caouettes Kamera lange, lange die Mutter,
die nach der Lithium-Überdosis geradezu infantil geworden
ist, wie sie herumalbert und spielt - anscheinend zur Weihnachtszeit
im Wohnzimmer des inzwischen verwitweten Großvaters,
der im Hintergrund an einem Tisch sitzt und versucht, sich
aus der ganzen Sache herauszuhalten. Das radikale, berührende
an der Szene ist, wie ewig der Film sie aushält, wie
er einem ein Gefühl dafür gibt, dass diese Krankheit
NICHT MEHR AUFHÖRT, dass es eben nicht mit ein paar Sekunden
"verrücktem" Verhalten getan ist. Aber zugleich
beginnt die Mutter merklich irgendwann, FÜR DIE KAMERA
zu spielen - und man meint zu spüren, dass Caouette dies
gerade recht ist, dass er durchaus bereit ist, dem Film zu
liebe das "kranke" Verhalten der Mutter herauszufordern,
zu fördern, zu steigern, auszudehnen. Die Szene endet
damit, dass die Mutter aus dem Zimmer rennt; schwer zu interpretieren,
ob als Spiel mit oder Flucht vor der Kamera - welche sie aber
nicht entkommen lässt sondern ihr sofort hinterher eilt.
Vielleicht ist das Caouettes Art, die behauptete Liebe zu
seiner Mutter auszudrücken - der Mann lebt offenbar mit,
für, durch die Kamera. Aber (nicht nur) dieser Moment
in TARNATION fühlt sich - zumindest für mich - nach
etwas viel Unbarmherzigerem an.
So krass und direkt das Persönliche, "Authentische"
bei Jonathan Caouette herhalten muss als essentielles Rohmaterial
seiner Vergangenheits- und Gegenwartsbewältigung, so
explizit versucht Asia Argento es zu umgehen. THE HEART IS
DECEITFUL ABOVE ALL THINGS ist Autobiographie "by proxy",
über Mittelsmann. Der Film beruht auf dem gleichnamigen
Roman von J.T. Leroy, der darin offenbar seine eigene Kindheit
relativ unverbrämt verarbeitet hat. Dieser Roman muss
gleich zu Beginn im Bild als Kronzeuge herhalten - das titelgebende
Motto (ein Bibelzitat aus dem Buch Jeremiah) erscheint nicht
als kontextlose Schrift, sondern ist von der ersten Seite
des Buchs abgefilmt. Und auch im Abspann sehen wir wieder
den Roman, bekommen einzelne Stellen hingeblättert -
und zwar anscheinend aus dem Exemplar, in das Asia Argento
ihre Anmerkungen zur geplanten Verfilmung hineingeschrieben
hat.
Möglicherweise eine verräterische Geste: Zugleich
betont sie, dass die Geschichte eben die von J.T. Leroy ist
und nicht die von Asia Argento; aber es ist sowohl bezeichnend,
dass dem Film diese Absicherung so wichtig ist, und wir sehen
eben nicht nur Leroys gedruckte Worte, sondern auch die Handschrift
Argentos, sehen einen Text der über- und umschrieben
ist mit dem Resultat eines ganz persönlichen Lesens.
Es mag billige Küchenpsychologie sein, aber der Verdacht
liegt mehr als nahe, dass Asia Argento in THE HEART IS DECEITFUL
eigene Kindheitstraumata reflektiert. Dass ihre jungen Jahre
dank ihres Vaters Dario eher verkorkst waren, hat sie ja schon
hin und wieder zu Protokoll gegeben, man glaubt ihr's auf's
Wort, und irgendwas MUSS ja auch schieflaufen, bzw. schiefgelaufen
sein, wenn Papa die schauspielende Tochter z.B. in IL SINDROME
DI STENDAHL als Frau besetzt, die von einem Serienkiller vergewaltigt
wird (ein Akt, der keineswegs offscreen bleibt...).
Asia Argento, die Schauspielerin, gibt in ihrem Film - mit
viel Mut zur Hässlichkeit - die Rolle der jungen, selbstzerstörerischen,
heillos überforderten Mutter wider Willen, die ihren
siebenjährigen Sohn von seinen Pflegeeltern zurückerobert,
nur um ihm dann das Leben zur Hölle zu machen. Aber der
Blick, das Herz von Asia Argento, der Filmemacherin, sind
zweifelsohne ganz bei dem Kind. Ihre Stellvertreter in dem
Film heißen Jimm Bennett (der den siebenjährigen
Jeremiah spielt) und Dylan & Cole Sprouse (ein Zwillingspaar,
das den um drei Jahre gealterten Knaben gibt).
Es ist sicher problematisch, die Werke einer selbständigen
Künstlerin (und das ist sie inzwischen) wie Asia Argento
immer im Vergleich zu und Kontext mit den Arbeiten des berühmten
Vaters zu sehen, aber es fällt auch schwer, Asias filmischen
Stil nicht zumindest teilweise als explizite Gegen-Reaktion
auf den Darios wahrzunehmen: Wo der einstige Horror-Großmeister
sein hyper-inszeniertes, hyper-stilisiertes und stets sadistisch
überlegenes Spiel mit dem Publikum treibt, will Asia
ganz und mit allen Mitteln eintauchen ins Gefühl, ergeben
Film und Zuschauer sich gleichermaßen der Emotion des
Moments. Wenn bei Dario angsterfüllte Augen in Großaufnahme
zu sehen sind, dann weidet er sich höchstens am Leiden
der Person, wenn ihn deren Gefühle überhaupt interessieren,
dann geht es um kontrollierte Manipulation des Publikums,
und dann hängt da vor allem immer sehr viel cineastische
Selbstreflexion über den Akt des Sehens mit drin.
Wenn in Asias THE HEART IS DECEITFUL die Kamera ähnlich
nah rangeht an die verschüchterten Augen des kleinen
Jeremiah, dann wirkt das hingegen immer wie ein Versuch, so
tief wie möglich einzudringen in das, was hinter diesen
Augen vorgeht, dann will der Film selbst in den Kopf des Jungen
kommen und die Zuschauer dorthin mitnehmen. Und zumindest
bei dem kleinen Jimm Bennett funktioniert das auch beängstigend
gut - was dieses Kind mit einem Blick ausdrücken kann,
ist ungeheuer; während Dylan & Cole Sprouse ihre
Sache zwar wirklich gut machen, aber bei ihnen schon spürbar
mehr bewusstes Schauspiel, mehr distanziertes Handwerk dabei
ist. Gemeinsam freilich ist Vater und Tochter Argento der
grundsätzliche Drang zum überstarken Moment, zur
großen Geste - der THE HEART IS DECEITFUL ABOVE ALL
THINGS in seinen schwächeren Minuten ins Karrikaturhafte
abgleiten läßt. Sicher, es ist in den ersten Sekunden
lustig, Peter Fonda als hyperreligiösen Großvater,
Ornella Muti als verkniffene, strenge Großmutter, Winona
Ryder als übereifrige Kinderpsychologin zu sehen. Aber
"lustig" sollte nicht der Punkt dieses Films sein,
und in der grob geschnitzten Übertreibung dieser Figuren
verliert Argento auch jede Wahrhaftigkeit.
Das könnte kaum weiter entfernt sein vom Stil Hirokazu
Kore-Edas. Sein NOBODY KNOWS (DAREMO SHIRANAI) ist ein ungleich
weniger überhitzter Film als TARNATION und THE HEART
IS DECEITFUL..., ziemlich sicher auch ein viel weniger persönlich-autobiographisch
angetriebener - aber keineswegs ein weniger berührender.
Auf seine Weise ist er vielleicht sogar der eindringlichste
dieser zufälligen Trias - er packt und schüttelt
einem während des Sehens nie so heftig wie die anderen
beiden, aber er klingt länger, klarer nach.
Die Gewalt, die die Mutter in diesem Film ihren Kindern antut,
ist subtiler, hat keine böse Absicht, aber auch keinerlei
Entschuldigung: Es beginnt geradezu surreal, mit dem Einzug
der jungen Frau und zweier Kinder in eine neue Wohnung, und
als die Möbelpacker weg sind, werden zwei Koffer geöffnet,
in denen sich noch zwei jüngere Geschwister befinden
- die unbemerkt ins Apartment geschmuggelt werden mussten,
weil die Mutter fürchtete, die Wohnung sonst nicht zu
bekommen. Bis auf den Ältesten bekommen die Kinder dann
den Befehl, die Wohnung nie zu verlassen, nicht einmal auf
den Balkon zu gehen, und sich ruhig zu verhalten. Und - was
anderen Kindern paradiesisch erscheinen mag, aber für
die vier zur Strafe wird - sie dürfen nicht mal in die
Schule; ein paar Bücher, die die Mutter angeschafft hat,
sollen daheim in Eigenregie für die nötige Bildung
sorgen. Den Großteil des Tages arbeitet die Mutter,
dann lernt sie einen neuen Mann kenne, bleibt länger
weg. Und verabschiedet sich dann für Wochen, nur ein
kurzes Brieflein und Geld hinterlassend.
Irgendwann (viel zu spät - Akira, der Älteste musste
schon selbst auf die Suche nach neuem Geld gehen) taucht sie
nochmal auf, bringt Geschenke, füllt die Kasse nach.
Aber dann ist sie wieder weg und kommt nicht zurück -
einen kurzen Hinweis gibt der Film später mal, dass sie
einfach wo anders eine neue Familie gefunden und ihre alte
aus dem Gedächtnis verbannt hat. Eine Weile schlagen
sich die Kinder noch tapfer durch's Leben, halten eine gewisse
Ordnung aufrecht, aber dann verwahrlosen sie zunehmend.
Kore-Eda (AFTERLIFE) erzählt das ganz undramatisch,
aber ohne Kühle. Anstatt in verschiedenen Szenen die
emotionalen Höhen und Tiefen auszuloten, bestimmte Gefühle
in bestimmten Momenten zu bündeln und hervorbrechen zu
lassen, schafft er es, ein sehr präzises Grundgefühl
zu destillieren, das gleichmäßig den gesamten Film
durchzieht: Eine ganz genau abgestimmte Mischung aus (teils
eigentlich widersprüchlichen Seelen-Farbtönen wie)
Traurigkeit, Resignation, Hoffnung, Zärtlichkeit, Verspieltheit,
Einsamkeit. Im Gegensatz zu den beiden anderen Filmen gibt
es kaum plötzliche, bedrohliche Krisen - fast alles passiert
graduell, kündigt sich langsam an; und Kore-Eda läßt
es seinen Film hinnehmen gleich einem Kind, das von der Welt
noch nicht viel kennen gelernt hat als seine eigenen Situation,
das kaum Maßstäbe hat, an denen es die Anormalität
dieser Situation messen könnte, und das daher die Dinge
akzeptiert, wie sie sind, und nur gelegentlich ein ungutes
Gefühl entwickelt, wenn es zu deutlich mitbekommt, das
alle anderen NICHT so leben.
In NOBODY KNOWS wird dabei auch äußerst präsent,
was in den anderen beiden Filmen auch teils latent mitschwingt,
teils schlaglichtartig aufblitzt - nämlich wie sehr die
Mutter selbst noch ein Kind ist, vielleicht sogar mehr, auf
unreifere Art als ihr Nachwuchs. In NOBODY KNOWS spricht sie
in diesem typischen, halb schmollenden, halb quiekenden japanischen
Jungmädchen-Tonfall, macht ihren Umgang mit den Kindern
wo immer es geht zum Spiel, und legt eine Weltsicht an den
Tag, die auf so unreflektierte Art egozentrisch, so einfach
strukturiert und auf so naive Weise frei von Verantwortungsgefühl
ist, dass sie einer Fünfjährigen gehören könnte.
Es ist dies letzlich vielleicht der größte Horror,
der in allen drei dieser Filme steckt: Dass all diesen Kindern
jener Puffer zur Welt genommen ist, den Eltern eigentlich
darstellen sollten. Dass ihnen viel zu früh die Verantwortung
aufgebürdet wird, ihre Überlebens-Regeln und -Strategien
selbst zu finden. Und so wenig heftig NOBODY KNOWS an der
Oberfläche im Vergleich mit den anderen beiden Werken
scheinen mag - er ist an diesem fundamentalen Grauen genau
deshalb viel intensiver dran.
Mit dem Entdecken thematischer (oder sonstiger) Gemeinsamkeiten
scheinbar disparater Filmfestival-Beiträge ist es wie
mit Verschwörungstheorien: Wenn man einmal anfängt
die geheimen Verbindungen zu suchen, dann findet man sie plötzlich
überall. Und so gehört in gewisser Hinsicht mindestens
noch ein vierter Film in diese "Verkorkste Kindheiten"-Reihe,
und zwar einer, dem man das auf den ersten Blick überhaupt
nicht ansehen würde: Z CHANNEL - A MAGNIFICENT OBSESSION.
Das ist eine Doku von Xan Cassavetes (der Tochter von John
C. und Geena Rowlands) über einen legendären Pay-TV-Sender
in Los Angeles, der Hollywoods Heimatstadt (hauptsächlich)
in den '80er Jahren mit einer Art permanentem Filmfest versorgte.
Für den Cineasten ein in vielerlei Hinsicht gewinnbringender
und faszinierender Film: Weil aus ihm eine Leidenschaft für
das Kino in all seinen mannigfaltigen Spielarten spricht (der
Z Channel war berühmt dafür, vom obskuren B-Picture
über Hollywood-Klassiker bis zum europäischen Kunstfilm
allem, was damals in den USA auf richtigen Leinwänden
kaum Bleibe hatte, eine Heimat zu geben); weil man sofort
unbändige Lust bekommt, zig Filme, die in Ausschnitten
vertreten sind, mal wieder zu sehen oder sie überhaupt
erst zu entdecken (ich hatte noch nie was von Stuart Cooper
gehört und seinem Film OVERLORD, aber wenn jemand vom
Filmmuseum München hier zuhört: Bitte, bitte, zeigt
den mal!). Und weil der Z Channel - der wohl kaum jemandem
außerhalb von L.A. bisher ein Begriff war - offenbar
wirklich einen nicht unbescheidenen Platz in der jüngeren
Filmgeschichte verdient hat. Nicht nur hat sein Programm anscheinend
eine ganze Generation von Filmschaffenden und über Film
Schreibenden entscheidend geprägt, hat vielen von ihnen
ihren ersten Kontakt mit kompletten Traditionen von Kino außerhalb
des US-Mainstreams verschafft. Es hat anscheinend auch solche
Phänomene wie den "Director's Cut" (mit) ins
Leben gerufen, war verantwortlich dafür, dass Filme wie
HEAVEN'S GATE, ONCE UPON A TIME IN AMERICA oder IL GATTOPARDO
der Öffentlichkeit in jenen Fassungen zugänglich
wurden, die von ihren Regiesseuren ursprünglich beabsichtigt
waren.
Aber nicht nur die verspätete Wertschätzung solcher
zunächst verkannter - (auch) weil erst nur verstümmelt
zu sehender - Meisterwerke ist laut dieser Doku dem Z Channel
zu verdanken, sondern auch beispielsweise SALVADOR und somit
der entscheidende Schub für James Woods' und Oliver Stones
Karrieren wäre ohne den engagierten Sender damals nach
einer kurzen, unbeachteten Kinoauswertung sang- und klanglos
untergegangen. Das alles also ein interessantes Kapitel Filmgeschichts-Schreibung.
Aber Z CHANNEL - A MAGNIFICENT OBSESSION erzählt noch
eine andere, dunklere Story: Die von Jerry Harvey, dem enigmatischen
Programmdirektor des Z Channel. Er war praktisch alleinverantwortlich
dafür, was wann wie gezeigt wurde auf dem Sender; seiner
allumfassenden Filmbesessenheit, seinem Geschmack und seiner
Kompromisslosigkeit verdankte der Kanal sein Profil, sein
Leben, seinen Erfolg. Harvey bleibt, obwohl die zentrale Figur
des Film, in Xan Cassavetes' Doku eine Art graue Eminenz hinter
einem undurchdringlichen Vorhang - der Mann, der sein wahres
Leben auf der Leinwand, auf dem Bildschirm fand, war selbst
notorisch kamerascheu, ein paar wenige Fotos, ein paar gemurmelte
Sätze aus einem Radio-Interview, mehr Material von Harvey
direkt blieb Cassavetes nicht zur Verfügung. Sonst gibt
es nur die Aussagen der Freunde, Bekannten, Kollegen, für
die aber anscheinend Harvey auch immer ein Stück weit
ein Geheimnis blieb.
So versucht der Film auch gar nicht, für das größte
Rätsel in Jerry Harveys Leben mehr zu finden als vermutbare
Faktoren einer unerreichbar bleibenden Lösung: Warum
hat Harvey seine Frau und (erst eine Stunde später) sich
selbst erschossen? Es gibt in der Doku Skizzen zu Harveys
Kindheit, und die eben lassen ahnen, dass diese nicht so völlig
weit entfernt gewesen sein dürfte von den privaten Höllen
aus TARNATION oder THE HEART IS DECEITFUL ABOVE ALL THINGS.
Und bei aller Verehrung, die in Z CHANNEL Jerry Harvey, dem
Helden im Kampf um Öffentlichkeit für alle, auch
die verdrängten Spielarten des Films, entgegengebracht
wird, so läßt zumindest ein ehemaliger enger Freund
am Ende die Frage anklingen, ob sich das alles so leicht voneinander
trennen läßt. Ob die Persönlichkeit, die sich
so obsessiv in Filmwelten zurückgezogen hat, dass diese
ihr ganzes Leben wurden, wirklich ohne tiefere Verbindung
sein konnte zu der Persönlichkeit, die am Ende das eigene
Leben und das der Ehefrau auslöschten. Oder ob es da
nicht einen gemeinsamen Ursprung, verwandte Triebkräfte
gegeben haben muss. Fragen, die einem als Cineasten schon
zu denken geben könnten - wenn man die Zeit hätte
und nicht auf einem Filmfest wäre, wo man danach gleich
in den dritten (vierte? fünften?) Film des Tages zu eilen
hat...
Thomas Willmann
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