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Cannes 2004 18.05.2004
 
 
Tagebuchnotizen, 4. Folge

Der Unterschied von Bibliothek und Revolution

 

Nach DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI

Heimliche Linke in Cannes
Ganz links: Brühl und Weingartner

 
 
 
 

Wenn wirklich jeder Film seinen Schöpfer spiegelt, wie ich hier vor ein paar Tagen mal behauptet habe, dann hat es Michael Moore nicht wirklich leicht. "Michael Moore ist wie Olaf Möller." sagte ein Kritikerkollege sehr treffend, und das ist jetzt ein Insiderwitz, den wir ausnahmsweise für den Rest der Welt nicht aufschlüsseln wollen; in Filmen von Godard versteht man schließlich auch nicht alles.
Vielleicht muss man sich aber eben auch einfach wieder das angewöhnen, was man im Kino gerade tagtäglich verlernt: hinter die Oberfläche sehen, dem dicken Schein nicht trauen, den Blick scharf stellen - man muss also ein bisschen Jean-Luc Godard werden.

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Vielleicht liegt es an der französischen Neigung zur Pädagogik, vielleicht hat es auch ganz andere Gründe - jedenfalls liebt man in Cannes die Lektionen. Das fing schon am ersten Tag an, mit dem an dieser Stelle erwähnten Filmessay von Kiarostami: 10 ON TEN, ging dann munter weiter mit Filmen wie dem gleichfalls erwähnten LOS MUERTOS, oder der Max von Sydows Masterclass, auf die wir noch zurückkommen werden. Dann, am Sonntagmorgen pünktlich zur Gottesdienstzeit kam der Altmeister der "Nouvelle Vague".
In 10 ON TEN erkläerte der Iraner (bevor er mit FIVE das krasse Gegenteil eines Dogmafilms im Wettbewerb präsentierte), warum die digitalen Kameras und überhaupt das Digitalkino die Kinowelt revolutionieren. Wie ein Echo darauf wirkte jene Szene in Godards NOTRE MUSIC: "Frage: Monsieur Godard, glauben Sie dass die kleinen Digitalkameras das Kino retten?" Schnitt, Frontalansicht Godard. Godard schweigt. Schweigt lange. Schweigt 30 Sekunden. Gekicher im Saal. Schnitt, Ende.
Was diese Szene über den reinen Witz hinaus und ihre unerwartete Selbstironie besonders erwähnenswert macht, ist ihre Präzision. Wichtig ist, wie genau Godard jene Zeitspanne vorhersieht, die es braucht, um das Lachen im Publikum zu erzeugen, und dann quasi auf das Lachen hin schneidet.

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In NOTRE MUSIC bietet Godard, dessen Filme immer wieder deutliche Spuren seiner Herkunft aus dem calvinistischen Genf zeigen, wie gesagt auch eine Reihe von Lektionen. Sie sind genauer, als vieles, was in Cannes zu sehen ist, und zugleich versponnener, ein bisschen an Kluge und Theweleit erinnernd. Der Fimessay bietet ein Tryptichon: Hölle, Purgatorium, Paradies. Der erste Teil zeigt schnell aneinander geschnittene Szenen aus Spielfilmen und Fernsehnachrichten. Es geht um Krieg, um Imperien, um Täter und Opfer, Darstellungsweisen von Gewalt, Leiden. Der Film überprüft das Vokabular unserer Wahrnehmung, zeigt, wie es entsteht, und versucht, es kritisch zu durchdringen - als könne man das allenfalls dadurch bannen, das man es beschwört.
Der zweite Teil beschreibt eine Reise Godards nach Sarajewo. Überall Spuren des Krieges. Dazwischen Reflexionen über Krieg und Historie. Manchen kamen sie diffus und zu assoziativ vor. Mir scheint, dass sie, auch wo sie dies tatsächlich sind, vor allem einen Gedankenraum öffnen wollen, Kontinuitäten und Korrellationen stiften, suchen. Passagen durch das 20.Jahrhundert und seine Vorgeschichte.
Dazwischen kristallene Sätze und Anekdoten. Der Film muss wie Literatur verstanden werden, sie und ihr vermeintlich zeitloser Rang ist es, womit sich Godard schon lange misst. Nicht HANA BI oder FIGHT CLUB sind also der Massstab, sondern die Essays von Montaigne, die Aphorismen von Pascal oder La Rochefaucauld. Zum Beispiel eine Bemerkung über die Folgen des jüdischen Exodus nach 1945 nach Palästina: "Die Juden wurden danach Stoff für Fiktion, die Palästinenser für Dokumentation."

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Oder eine Reflexion über das Reale und das Imaginäre. Im Film erzählt Godard davon, wie die beiden Atomphysiker Bohr (dänisch) und Heisenberg (deutsch) einmal ein Bild betrachteten, auf dem eine Burgruine abgebildet war. "Es ist nichts Besonders an der Burg", meinte Heisenberg. "Ja" antwortete Bohr, "aber wenn Sie darunter schreiben: ‚Hamlets Burg', dann ist es etwas Besonderes." Dazu Godard: "Helsingor ist das Reale, Hamlets Burg das Imaginäre." Die für ihn entscheidende Pointe ist selbstverständlich, dass der Name des Bildes wichtiger ist, als das Bild selbst, dass das Imaginäre durch die Sprache, den Text hinzugefügt wird. Schon früher hieß ein Satz: "Das Feld des Textes ist das Feld der Fiction geworden."

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Den Blick scharf zu stellen, das bedeutet im Fall Michael Moores vor allem Offenheit, es bedeutet sich dem zu verweigern, was zunächst einmal politisch für und ästhetisch gegen diesen Film spricht. Mit dem letzteren ist vor allem die "Moorerisierung des Dokumentarfilms" gemeint, die allerorten beobachtet werden kann, auch die eitle Selbstdarstellung des dicken Regisseurs und das allzu nette Timing des spektakulären Bruchs mit Disney, drei Tage vor der Anreise nach Cannes.
Solche Skepsis mag stimmen - dem unmittelbaren Eindruck des Films und seinen Argumenten kann man sich trotzdem nicht entziehen: Vieles ist mit kühler, für Moore untypischer Sachlichkeit inszeniert. Und zugleich trifft es einen in die Magengrube, wenn Moore dann zynische Soldaten oder Präsidentenkommentare über die Bilder derjenigen schneidet, die unter ihnen zu leiden haben, auch der Amerikaner. Das ist natürlich sehr suggestiv, aber nie gelogen oder auch nur halbwahr: Moore ist ein Moralist und gerade damit gehört er zu den Besten im gegenwärtigen Weltkino.

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Es gibt auch eine Moorerisierung von Cannes. Sie besteht nicht allein in den zwei Diskussionsveranstaltungen, die vor die Vorführung des Films gelegt wurden. Drei Stunden standen die Fans in der heißen Sonne zwischen 11 Uhr und 14 Uhr an, um einen Moore-Auftritt im Zelt der Zeitschrift "Variety" zu verfolgen, nur um dann trotzdem nicht hineinzukommen, weil natürlich die Variety-Sponsoren an der Schlange vorbei Zutritt bekamen. Natürlich hatten die meisten von ihnen auch keine knuffige Baseballkappe, sondern blaugraue Manager-Anzüge an. Quizfrage: ist es jetzt ein Widerspruch, wenn Moore sich zu solchen Veranstaltungen für genau jene Leute hergibt, deren Milieu er in seinen Filmen kritisiert, während die potentiellen Bundesgenossen frustriert in der Hitze stehen. Das Argument, dass "so etwas einfach dazu gehört", zählt hier übrigens nicht, denn genau jene Mentalität der Rechenhaftigkeit greift Moore ja an.

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"Moorerisierung", darunter fallen auch die täglichen Demonstrationen der Gewerkschaft der künstlerischen Angestellten. Sie protestieren gegen die Kulturpolitik der Regierung. Worum es genau geht - allgemein geht es natürlich um das Geld, was bei der Kultur und ihren Angestellten gekürzt wird - wissen wir leider auch nicht, dazu fehlte die Zeit und - zugegeben - auch ein wenig die Lust. Aber es wird schon seine Richtigkeit haben. Praktisch gesehen bedeuten die Demos aber vor allem viel tägliche Behinderungen durch nochmehr Poizei und Kontrollen, noch mehr Absperrungen als sonst. Ursprünglich hatte man gedroht, das Festival lahmzulegen. Das wurde damit verhindert, dass die die Gewerkschaftler zur Eröffnung auf dem roten Teppich marschieren und "auf ihr Anliegen aufmerksam machen durften." Und weil es auch hier etwas darüber zu lesen gibt, ist ihnen das offenbar gelungen.

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"Wissen Sie, dass diese Schuhe auf den Philippinen mit Kinderarbeit hergestellt wurden?" - das erste Bild des deutschen Kinos im Wettbewerb von Cannes, nach 11 Jahren Abwesenheit: Gute Deutsche protestieren gegen Globalisierung und Kapitalismus. Es gibt also auch eine Moorerisierung des Spielfilms.

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DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI heißt der Film von Hans Weingartner, der übrigens Österreicher ist, und den die Filmkommission seiner Heimat auch an der Croisette munter als österreichischen Beitrag vermarktet. Schwamm drüber. Denn nationale Nabelschau hat im Weltkino und bei einem Festival wie diesem ohnehin nichts verloren: "Die Leute haben einfach keinen Bock mehr auf Euer Scheiß-System" sagen Jule, Jan und Peter zu Hardenberg, dem Manager, den sie gerade auf eine Almhütte entführt haben - nicht aus Absicht, sondern durch eine Verkettung unglücklicher Umstände mit eigener Feigheit. Eine Geschichte aus dem Herzen der Krise. Denn in den drei Berliner Twens hat sich viel Wut und unverschuldetes Unglück zu einer agressiven Mischung zusammengestaut. Nun schlagen sie zurück, nennen sich "Die Erziehungsberechtigten" und brechen als eine Art Spaßguerilla in die Wohnungen der Reichen ein. Dort stehlen sie aber nichts, sondern verrücken nur die Möbel und hinterlassen mahnende Texte: "Sie haben zuviel Geld". Jetzt haben sie ihr letztes Opfer am Hals, und wissen nicht, was mit dem Entführten zu tun ist. Eine Weile fürchtet man das Schlimmste, dann mündet alles in Versöhnung. Weingartners Kammerspiel ist dort stark, wo es zur absurden Komödie wird. Leider ist das viel zu wenig der Fall.

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Und er zeigt einen Manager, der sich plötzlich als heimlicher Linker entpuppt - "Ich war auch mal im SDS, sogar im Vorstand." Ha ha ha - das ist der krachlederne Schlüsselsatz des Films, über den man ganze Magisterarbeiten schreiben könnte. "Sogar im Vorstand". Also wenn schon links, dann aber bitte in Führungspositionen. Einmal oben, immer oben. Nicht so sehr was man denkt ist wichtig, als dass man im Vorstand sitzt. Natürlich hat Weingartner, nach unserem Eindruck sowieso kein großer Denker, "das" "so" nicht gemeint. Aber das ist ja gerade das Problem.
Und dann dieses "Ich war auch mal im SDS." Wir sind doch irgendwie alle links, oder? Nein, sind wir leider nicht.

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Einbrecher, die keine Einbrecher sind, Kapitalisten, die keine Kapitalisten sind - das ist der deutsche Film. Könnte man nun sagen. Aber vielleicht ist der Satz doch zu schön, zu einfach und gefällig. Nur: warum diese Kraftlosigkeit, diese gedankliche Impotenz? In den entscheidenenden Momenten ist Weingartners Film versöhnlich und moralisierend, statt konfliktfreudig und moralisch. Was er sein müsste. Indem der Film zwischen der Strenge und Intelligenz eines Godard und der Emotionalität und unmittelbaren Kraft eines Moore steht, bietet er leider eines der wenigen Beispiele von einem soften Kompromissler und weichgespülten Konsenskino, wie man es in Cannes sonst nicht sieht. In Berlin bestand in diesem Jahr der ganze Wettbewerb aus solchen gut gemeinten Filmen, die einen gerade darum so ärgern, weil sie so gut gemeint und doch so mittelmäßig gemacht sind. Hier ärgert sich sonst immer irgendeiner über den Film, den man gerade gesehen hat. Aber nicht darüber, dass er hier läuft.
Trotzdem ist DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI so oder so ein Achtungserfolg für das deutsche Kino: Humorvoll und ohne jene Peinlichkeiten, die man aus Deutschland gerade hier oft erleben musste, sorgt er für echte Lacher - eine junge, unverbrauchte Stimme des deutschen Kinos.

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Eine merkwürdige Parallele besteht zwischen den Filmen Moores und Weingartners: Moore bringt genau die Argumente von Weingartners jungen Helden. Wo Weingartner den Schwanz einzieht, feige zurückweicht. bietet Moore gute Argumente für Streit, für Unversöhntheit, dafür, warum wir eher mehr solche Radikalität brauchen, als weniger. Moralisch wie ästhetisch.

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Mädchen: "Warum werden Revolutionen nicht von humanen Leuten begonnen?" - Godard: "Weil humane Leute keine Revolution beginnen, sie gründen eine Bibliothek."

Rüdiger Suchsland

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