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Wenn wirklich jeder Film seinen Schöpfer spiegelt, wie
ich hier vor ein paar Tagen mal behauptet habe, dann hat es
Michael Moore nicht wirklich leicht. "Michael
Moore ist wie Olaf Möller." sagte ein Kritikerkollege
sehr treffend, und das ist jetzt ein Insiderwitz, den
wir ausnahmsweise für den Rest der Welt nicht aufschlüsseln
wollen; in Filmen von Godard versteht man schließlich
auch nicht alles.
Vielleicht muss man sich aber eben auch einfach wieder das
angewöhnen, was man im Kino gerade tagtäglich verlernt:
hinter die Oberfläche sehen, dem dicken Schein nicht
trauen, den Blick scharf stellen - man muss also ein bisschen
Jean-Luc Godard werden.
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Vielleicht liegt es an der französischen Neigung zur
Pädagogik, vielleicht hat es auch ganz andere Gründe
- jedenfalls liebt man in Cannes die Lektionen. Das fing schon
am ersten Tag an, mit dem an dieser Stelle erwähnten
Filmessay von Kiarostami: 10 ON TEN, ging dann munter weiter
mit Filmen wie dem gleichfalls erwähnten LOS MUERTOS,
oder der Max von Sydows Masterclass, auf die wir noch zurückkommen
werden. Dann, am Sonntagmorgen pünktlich zur Gottesdienstzeit
kam der Altmeister der "Nouvelle Vague".
In 10 ON TEN erkläerte der Iraner (bevor er mit FIVE
das krasse Gegenteil eines Dogmafilms im Wettbewerb präsentierte),
warum die digitalen Kameras und überhaupt das Digitalkino
die Kinowelt revolutionieren. Wie ein Echo darauf wirkte jene
Szene in Godards NOTRE MUSIC: "Frage: Monsieur
Godard, glauben Sie dass die kleinen Digitalkameras das Kino
retten?" Schnitt, Frontalansicht Godard. Godard schweigt.
Schweigt lange. Schweigt 30 Sekunden. Gekicher im Saal.
Schnitt, Ende.
Was diese Szene über den reinen Witz hinaus und ihre
unerwartete Selbstironie besonders erwähnenswert macht,
ist ihre Präzision. Wichtig ist, wie genau Godard jene
Zeitspanne vorhersieht, die es braucht, um das Lachen im Publikum
zu erzeugen, und dann quasi auf das Lachen hin schneidet.
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In NOTRE MUSIC bietet Godard, dessen Filme
immer wieder deutliche Spuren seiner Herkunft aus dem calvinistischen
Genf zeigen, wie gesagt auch eine Reihe von Lektionen. Sie
sind genauer, als vieles, was in Cannes zu sehen ist, und
zugleich versponnener, ein bisschen an Kluge und Theweleit
erinnernd. Der Fimessay bietet ein Tryptichon: Hölle,
Purgatorium, Paradies. Der erste Teil zeigt schnell aneinander
geschnittene Szenen aus Spielfilmen und Fernsehnachrichten.
Es geht um Krieg, um Imperien, um Täter und Opfer, Darstellungsweisen
von Gewalt, Leiden. Der Film überprüft das Vokabular
unserer Wahrnehmung, zeigt, wie es entsteht, und versucht,
es kritisch zu durchdringen - als könne man das allenfalls
dadurch bannen, das man es beschwört.
Der zweite Teil beschreibt eine Reise Godards nach Sarajewo.
Überall Spuren des Krieges. Dazwischen Reflexionen über
Krieg und Historie. Manchen kamen sie diffus und zu assoziativ
vor. Mir scheint, dass sie, auch wo sie dies tatsächlich
sind, vor allem einen Gedankenraum öffnen wollen,
Kontinuitäten und Korrellationen stiften, suchen. Passagen
durch das 20.Jahrhundert und seine Vorgeschichte.
Dazwischen kristallene Sätze und Anekdoten. Der Film
muss wie Literatur verstanden werden, sie und ihr vermeintlich
zeitloser Rang ist es, womit sich Godard schon lange misst.
Nicht HANA BI oder FIGHT CLUB sind also der Massstab, sondern
die Essays von Montaigne, die Aphorismen von Pascal
oder La Rochefaucauld. Zum Beispiel eine Bemerkung
über die Folgen des jüdischen Exodus nach 1945 nach
Palästina: "Die Juden wurden danach Stoff für
Fiktion, die Palästinenser für Dokumentation."
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Oder eine Reflexion über das Reale und das Imaginäre.
Im Film erzählt Godard davon, wie die beiden Atomphysiker
Bohr (dänisch) und Heisenberg (deutsch)
einmal ein Bild betrachteten, auf dem eine Burgruine abgebildet
war. "Es ist nichts Besonders an der Burg", meinte
Heisenberg. "Ja" antwortete Bohr, "aber wenn
Sie darunter schreiben: Hamlets Burg', dann ist es etwas
Besonderes." Dazu Godard: "Helsingor ist das Reale,
Hamlets Burg das Imaginäre." Die für ihn entscheidende
Pointe ist selbstverständlich, dass der Name des
Bildes wichtiger ist, als das Bild selbst, dass das Imaginäre
durch die Sprache, den Text hinzugefügt wird. Schon früher
hieß ein Satz: "Das Feld des Textes ist das Feld
der Fiction geworden."
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Den Blick scharf zu stellen, das bedeutet im Fall Michael
Moores vor allem Offenheit, es bedeutet sich dem zu verweigern,
was zunächst einmal politisch für und ästhetisch
gegen diesen Film spricht. Mit dem letzteren ist vor allem
die "Moorerisierung des Dokumentarfilms"
gemeint, die allerorten beobachtet werden kann, auch die eitle
Selbstdarstellung des dicken Regisseurs und das
allzu nette Timing des spektakulären Bruchs mit Disney,
drei Tage vor der Anreise nach Cannes.
Solche Skepsis mag stimmen - dem unmittelbaren Eindruck des
Films und seinen Argumenten kann man sich trotzdem nicht
entziehen: Vieles ist mit kühler, für Moore
untypischer Sachlichkeit inszeniert. Und zugleich trifft es
einen in die Magengrube, wenn Moore dann zynische Soldaten
oder Präsidentenkommentare über die Bilder derjenigen
schneidet, die unter ihnen zu leiden haben, auch der Amerikaner.
Das ist natürlich sehr suggestiv, aber nie gelogen oder
auch nur halbwahr: Moore ist ein Moralist und gerade damit
gehört er zu den Besten im gegenwärtigen Weltkino.
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Es gibt auch eine Moorerisierung von Cannes. Sie besteht
nicht allein in den zwei Diskussionsveranstaltungen, die vor
die Vorführung des Films gelegt wurden. Drei Stunden
standen die Fans in der heißen Sonne zwischen
11 Uhr und 14 Uhr an, um einen Moore-Auftritt im Zelt
der Zeitschrift "Variety" zu verfolgen, nur um dann
trotzdem nicht hineinzukommen, weil natürlich die Variety-Sponsoren
an der Schlange vorbei Zutritt bekamen. Natürlich hatten
die meisten von ihnen auch keine knuffige Baseballkappe, sondern
blaugraue Manager-Anzüge an. Quizfrage: ist es
jetzt ein Widerspruch, wenn Moore sich zu solchen Veranstaltungen
für genau jene Leute hergibt, deren Milieu er
in seinen Filmen kritisiert, während die potentiellen
Bundesgenossen frustriert in der Hitze stehen. Das Argument,
dass "so etwas einfach dazu gehört", zählt
hier übrigens nicht, denn genau jene Mentalität
der Rechenhaftigkeit greift Moore ja an.
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"Moorerisierung", darunter fallen auch die täglichen
Demonstrationen der Gewerkschaft der künstlerischen
Angestellten. Sie protestieren gegen die Kulturpolitik der
Regierung. Worum es genau geht - allgemein geht es natürlich
um das Geld, was bei der Kultur und ihren Angestellten
gekürzt wird - wissen wir leider auch nicht, dazu fehlte
die Zeit und - zugegeben - auch ein wenig die Lust.
Aber es wird schon seine Richtigkeit haben. Praktisch gesehen
bedeuten die Demos aber vor allem viel tägliche Behinderungen
durch nochmehr Poizei und Kontrollen, noch mehr Absperrungen
als sonst. Ursprünglich hatte man gedroht, das Festival
lahmzulegen. Das wurde damit verhindert, dass die die Gewerkschaftler
zur Eröffnung auf dem roten Teppich marschieren und "auf
ihr Anliegen aufmerksam machen durften." Und weil es
auch hier etwas darüber zu lesen gibt, ist ihnen
das offenbar gelungen.
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"Wissen Sie, dass diese Schuhe auf den Philippinen mit
Kinderarbeit hergestellt wurden?" - das erste Bild des
deutschen Kinos im Wettbewerb von Cannes, nach 11 Jahren
Abwesenheit: Gute Deutsche protestieren gegen Globalisierung
und Kapitalismus. Es gibt also auch eine Moorerisierung des
Spielfilms.
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DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI heißt der Film
von Hans Weingartner, der übrigens Österreicher
ist, und den die Filmkommission seiner Heimat auch an der
Croisette munter als österreichischen Beitrag vermarktet.
Schwamm drüber. Denn nationale Nabelschau hat
im Weltkino und bei einem Festival wie diesem ohnehin nichts
verloren: "Die Leute haben einfach keinen Bock mehr auf
Euer Scheiß-System" sagen Jule, Jan und Peter zu
Hardenberg, dem Manager, den sie gerade auf eine Almhütte
entführt haben - nicht aus Absicht, sondern durch eine
Verkettung unglücklicher Umstände mit eigener Feigheit.
Eine Geschichte aus dem Herzen der Krise. Denn in den drei
Berliner Twens hat sich viel Wut und unverschuldetes Unglück
zu einer agressiven Mischung zusammengestaut. Nun schlagen
sie zurück, nennen sich "Die Erziehungsberechtigten"
und brechen als eine Art Spaßguerilla in die Wohnungen
der Reichen ein. Dort stehlen sie aber nichts, sondern verrücken
nur die Möbel und hinterlassen mahnende Texte:
"Sie haben zuviel Geld". Jetzt haben sie ihr letztes
Opfer am Hals, und wissen nicht, was mit dem Entführten
zu tun ist. Eine Weile fürchtet man das Schlimmste, dann
mündet alles in Versöhnung. Weingartners Kammerspiel
ist dort stark, wo es zur absurden Komödie wird. Leider
ist das viel zu wenig der Fall.
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Und er zeigt einen Manager, der sich plötzlich als heimlicher
Linker entpuppt - "Ich war auch mal im SDS, sogar im
Vorstand." Ha ha ha - das ist der krachlederne
Schlüsselsatz des Films, über den man ganze Magisterarbeiten
schreiben könnte. "Sogar im Vorstand".
Also wenn schon links, dann aber bitte in Führungspositionen.
Einmal oben, immer oben. Nicht so sehr was man denkt ist wichtig,
als dass man im Vorstand sitzt. Natürlich hat Weingartner,
nach unserem Eindruck sowieso kein großer Denker,
"das" "so" nicht gemeint. Aber das ist
ja gerade das Problem.
Und dann dieses "Ich war auch mal im SDS."
Wir sind doch irgendwie alle links, oder? Nein, sind wir leider
nicht.
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Einbrecher, die keine Einbrecher sind, Kapitalisten, die
keine Kapitalisten sind - das ist der deutsche Film.
Könnte man nun sagen. Aber vielleicht ist der Satz doch
zu schön, zu einfach und gefällig. Nur: warum diese
Kraftlosigkeit, diese gedankliche Impotenz? In den
entscheidenenden Momenten ist Weingartners Film versöhnlich
und moralisierend, statt konfliktfreudig und moralisch. Was
er sein müsste. Indem der Film zwischen der Strenge und
Intelligenz eines Godard und der Emotionalität
und unmittelbaren Kraft eines Moore steht, bietet er
leider eines der wenigen Beispiele von einem soften Kompromissler
und weichgespülten Konsenskino, wie man es in Cannes
sonst nicht sieht. In Berlin bestand in diesem Jahr der ganze
Wettbewerb aus solchen gut gemeinten Filmen, die einen gerade
darum so ärgern, weil sie so gut gemeint und doch so
mittelmäßig gemacht sind. Hier ärgert sich
sonst immer irgendeiner über den Film, den man gerade
gesehen hat. Aber nicht darüber, dass er hier läuft.
Trotzdem ist DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI so oder so
ein Achtungserfolg für das deutsche Kino: Humorvoll und
ohne jene Peinlichkeiten, die man aus Deutschland gerade hier
oft erleben musste, sorgt er für echte Lacher -
eine junge, unverbrauchte Stimme des deutschen Kinos.
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Eine merkwürdige Parallele besteht zwischen den Filmen
Moores und Weingartners: Moore bringt genau die Argumente
von Weingartners jungen Helden. Wo Weingartner den
Schwanz einzieht, feige zurückweicht. bietet Moore
gute Argumente für Streit, für Unversöhntheit,
dafür, warum wir eher mehr solche Radikalität brauchen,
als weniger. Moralisch wie ästhetisch.
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Mädchen: "Warum werden Revolutionen nicht von humanen
Leuten begonnen?" - Godard: "Weil humane Leute keine
Revolution beginnen, sie gründen eine Bibliothek."
Rüdiger Suchsland
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