KINO MÜNCHEN FILM AKTUELL ARCHIV FORUM LINKS SITEMAP
Cannes 2004 14.05.2004
 
 
Tagebuchnotizen, 2. Folge
All About Erwin
Kusturica in Cannes

LIFE IS A MIRACLE -
Wer hätte das gedacht, Erwin?

 
 
 
 

Extreme Atmosphären, nie gesehene Bilder, ungeahnte, aufwühlende Stimmungen - um dies zu erleben sind Festivals wie das von Cannes unentbehrlich. Jenseits vom Messecharakter einer Veranstaltung, wo in Plastikzelten am Strand Millionendeals um Filmrechte abgeschlossen werden, geht es hier immer wieder doch zuallererst um Filme, die aus dem Rahmen fallen, die Ausdruck einer individuellen Persönlichkeit sind, Autorenfilme im klassischen Sinn. An seinen ersten Tagen löst der diesjährige Wettbewerb dieses Versprechen ein: Schon eine Reihe Filme waren zu sehen, die so oder so aus dem Rahmen des Konventionellen fallen.

+++

Das gilt jedenfalls für den Serben Emir Kusturica. Damals, in jenen Tagen, als das Wünschen noch geholfen hat, und als Texte noch nicht per Mail an die Redaktionen verschickt wurden, sondern von einer Sekretärin abgetippt, wurde in einer deutschen Wochenzeitung aus Emir Kusturica einmal Erwin. Nach seinem neuen Film sollte man ihn tatsächlich umtaufen. LIFE IS A MIRACLE macht da weiter, wo vor neun Jahren UNDERWORLD aufhörte. Der Film könnte aber auch TIME OF THE GYPSIES heißen: Vage von den Schluchten des Balkans und Jugoslawiens Bürgerkrieg handelnd, bietet Kusturica weiterhin vor allem Kusturica: Fortwährend sieht man Menschen lachen, schreien, fressen, zu schnellen Huftahufta-Rythmen tanzen (die Musik stammt natürlich auch vom Regisseur), in die Luft ballern, Grimassen schneiden. Erkan und Stefan sind genauso dabei, wie ein verrückter Priester, ein augenrollender Briefträger, unzählige Musikanten, der Völlerei schuldige Kommunisten, und ein liebeskranker Esel, der immer auf den Eisenbahnschienen herumsteht, "weil er sich umbringen will." Haha, so sind sie halt, im wilden Osten wird suggeriert, was sind wir Balkanesen doch emotional und echt und immer aus der tiefsten Seele heraus. Aber bloß weil er sich nicht wäscht und selten rasiert, ist Kusturica noch lange nicht authentisch. Auf diese Weise wird dann vage eine Geschichte von den Schrecken des Krieges erzählt. Die könnte einem vielleicht nahe gehen, dominierte nicht der hysterische Überwältigungsstil des Regisseurs alles andere. Eine lärmende Tortur, rasender Stillstand, der vor allem Ohrenschmerzen hinterließ - und Ermüdung.

+++

Das krasse Gegenteil zeigte der Iraner Abbas Kiarostami. FIVE besteht aus nur fünf Kameraeinstellungen. Über zwei Stunden passiert vor allem - nichts. Eine Viertelstunde allein schaut man einem Holzstück zu, das am Strand von den Wellen bewegt wird. Kiarostamis steng-asketische, stellenweise etwas oberlehrerhafte Meditation ist eine Übung im Hinsehen. Gegen ihn ist Vincent Gallos BROWN BUNNY vom Vorjahr ein Actionfilm. Ein solches Werk könnte nur in Cannes laufen - aber genau hier, in der hektischen Atmosphäre des Festivals, und zusätzlich direkt nach Kusturicas Parforceritt ist es besonders schwer, sich darauf einzulassen.

+++

Letztes Jahr in Vendig (und gerade auf dem Dok-Fest in München) quälte Lars von Trier einen dänischen Kollegen mit seinen FIVE OBSTRUCTIONS - eine prächtige Lektion im Filmemachen. In Cannes gab es am ersten Tag bereits 10 ON TEN zu sehen, ebenfalls von Kiarostami. In zehn Lektionen erklärt er sein Kino: Genau der richtige Auftakt zu einem Fetival wie diesem.

+++

Darf man eigentlich in den amerikanischen Pavillon gehen? Viele Länder haben ein solches Zelt am Strand, das in der Regel von jenen Institutionen gemietet wird, die die Filme eines Landes im Ausland vertreten, so wie in Deutschland die Export-Union. Natürlich ist der amerikanische Pavillion wieder einmal der Größte. Viel gedruckte Informationen und kostenlose Zeitungen liegen hier aus, der Kaffee ist schlecht und teuer, dafür gibt es Plätze, an denen die Laptopbesitzer kostenlos ins Internet können. Schon früher fand man es hier oft etwas zu schrill, zu laut, und nicht wirklich angenehm. Wenn es nicht ein blöder Satz und eigentlich überhaupt kein Argument wäre, würde man sagen: Geld stinkt doch. Aber auch die politischen Nachrichten der letzten Tage haben einem die Lust auf Amerikanisches etwas genommen. Plötzlich ertappt man sich dabei, auf alles Mögliche gereizt zu reagieren, was mit den USA zusammenhängt: Allein schon die lauten Stimmen. Das affektierte Getue. Ihr häßliches Englisch. Und wie sie aussehen!

+++

Natürlich gibt es auch Filme, die einem die USA nicht gerade sympathischer machen. Gleich drei von ihnen liefen am Donnerstag. Von TROJA wollen wir hier lieber schweigen, obwohl der liebe Kollege Jupp Schnelle immerhin aus dem Kino kam und meinte: "Ich fand ihn eigentlich nicht so schlecht, wie ich ihn finden wollte." Aber dass es ein derber Schotter war, das gab auch er sofort zu. Nach Cannes gehören solche Filme nur, weil man offenbar aus Hollywood nichts Besseres anzubieten hat, und damit Brad Pitt auf dem roten Teppich erscheint - und natürlich damit unsereins sich darüber aufregt.


+++

Aber auch zwei Dokumentationen erinnerten einen wieder mal an alles, wofür die USA außer für Jefferson, Lincoln und Kennedy auch noch stehen: Außer Konkurrenz im Wettbewerb lief auch SALVADOR ALLENDE, eine Dokumentation über den chilenischen Staatschef, der mit US-Hilfe von den Pinochet-Faschisten weggeputscht wurde. Regisseur Patricio Guzman (geb.1941) ist einer der wichtigsten Dokumentarfilmer Lateinamerikas. 1968 drehte er eine Dokumentation über Allendes Wahlkampf, danach drei Filme über Pinochet und die Folgen. Guzmanns neuer, von arte koproduzierter Film lohnte den Besuch für seine vielen Detailinformationen und manch interessantes Statement, für die Zeitzeugen, die hier auftraten. Was die Analyse, vor allem der Monate vor dem Militärputsch und die Verstrickung der USA anging, ließ der Film hingegen einige Wünsche offen, bot gleichermaßen zuwenig Analyse und zuwenig persönliche Position.
Denn erklärungsbedürftig wäre doch wohl schon, warum die Linke ihren eigenen Mann fallen ließ, warum angeblich ein ganzes Land hinter Allende stand, und dann doch der Militärputsch möglich war. Auch wüßte man gerne, warum Allende eigentlich kubanische Hilfe ablehnte und warum sowjetische Hilfe nie kam. Und schließlich dürften die USA zumindest ein paar Gründe (was man von ihnen hält, ist eine ganz andere Frage) mehr für ihr riskantes massives Engagement gegen Allende gehabt haben, als dass Nixon ein Unsympath war.

+++

Zwischenfrage, im Anschluß an die Allende-Doku: Warum waren damals die Linken eigentlich sexy? Und warum sind sie es heute nicht? Woher kommt diese Verbindung von Erotik und Macht in den 60ern? Denn die linken (jaja: linksliberalen) Volkstribune Kennedy, Brandt, Trudeau und eben auch Allende hatten - man siehts in den alten Bildern - ein besonderes Charisma, flirteten mit den Massen. "He courted the people" hieß es in Guzmans Film. Und sie gingen auch alle ganz schön fremd, bis auf Trudeau, der erst gar nicht verheiratet war. Wie hängt das zusammen? Hängt es überhaupt zusammen? Ich konstastiere nur und frage (und vermute, dass es vielleicht wirklich das Hauptproblem linker Politik ist, dass sie heute nicht sexy ist. Und ich kenne, pardon, wirklich kein besseres Wort als das).

+++

Noch eine Zwischenfrage: Ist TROJA nicht eigentlich ein deutscher Film? Schließlich ist Petersen ja ein Deutscher, und Heinrich Schliemann, der Troja ausgebuddelt hat, auch. Und wenn der Österreicher Hans Weingartner jetzt widerspruchslos als Deutscher firmiert... Am österreichischen Stand ist man sich übrigens ganz sicher, DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI sei ein österreichischer Film. "Der Regisseur ist Österreicher, die Produktionsfirma liegt in Wien. " So wird das Spiel noch eine Weile weitergespielt werden, spätestens bis zum Montagmorgen, wenn der Film läuft. Vielleicht wollen dann alle Weinberger ausbürgern? Aber ist das nicht schon wieder so ein typischer Kritikerdefaitismus? Warum nicht mal patriotisch sein? Darum! Kritiker sind vaterlandslose Gesellen und auch noch stolz drauf. Oder, wenn man es noch pathetischer möchte: Unser Vaterland ist das Kino. Ha! ok, ok...

+++

Im Wettbewerb lief noch eine zweite Dokumentation, MONDOVINO vom Amerikaner Jonathan Nossiter. Der kurzweilige Film schildert den internationalen Weinhandel: Mehrere Händler und Produzenten werden vorgestellt, manche von ihnen machen seit Jahrhunderten Spitzenweine. Man bekommt so nicht nur eine Ahnung von der Kultur des Weinproduzierens, man erlebt vor allem, wie diese Kultur in den letzten 20 Jahren allmählich zerstört wird. Schuld sind tatsächlich wieder einmal die Globalisierung und in diesem Fall die kalifornischen Weinhändler, die die französischen Weine mit chemischen Tricks perfekt imitieren - im Film ist die Rede von "Plastikchirurgie" - und zudem bestimmte Geschmäcker mit recht rohen Mitteln weltweit durchsetzen. Alles was anders ist, kommt da unter die Räder. MONDOVINO ist ein Lehrstück über Funktionsweise und Abgründe des Kapitalismus - dabei nie plumpes Pamphlet. Die Botschaft ist viel einfacher: "Jeder Wein spiegelt seinen Schöpfer." Für Filme gilt das natürlich auch.

Rüdiger Suchsland

  top
   
 
 
[KINO MÜNCHEN] [FILM AKTUELL] [ARCHIV] [FORUM] [LINKS] [SITEMAP] [HOME]