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Filmfest München 2002 04.07.2002
 
 
 
 

Scherbentanz
Deutschland 2002 - Regie: Chris Kraus

   
 
 
 
 

Am Anfang kommt der Film geradezu biblisch daher, mit einer Art Sintflut und einem Hauch von verlorenem Sohn. Nur dass der Vater keinen Hammel für Jesko (Jürgen Vogel) schlachtet, sondern, ganz im Gegenteil, erst mal die Damasttücher abräumen lässt und 300 Gäste auslädt. Nicht wegen des widerborstigen Sohnes oder weil dieser mit Vorliebe lange Röcke trägt. Jeskos Vater hat das Familiengespenst aus dem Keller geholt, und das bringt nun mit wütendem Kreischen die Wände zum Wackeln. Das Familiengespenst, das ist Käthe, die durchgedrehte Mutter von Jesko und Ansgar (Peter Davor), Jeskos großem Bruder. Der Vater hat sie in einem Obdachlosenasyl aufgestöbert. Denn Jesko hat Leukämie, und Bruder und Vater kommen als Knochenmarkspender nicht in Frage. Und nun sieht sich der erfolglose Modeschöpfer plötzlich damit konfrontiert, dass sein Leben ausgerechnet von der Frau abhängt, die ihm als Kind mit einem Hammer den Kopf einschlagen wollte. Nach Hause kommen - das merkt man nicht am Schild an der Tür, das spürt man am Schmerz, sagt Jesko.

Es gibt Momente im Leben, in denen ein chronischer Nichtraucher es bedauert, keine Kippe zum festhalten zu haben. Beispielsweise wenn er aus diesem Film kommt. Es gibt eben Geschichten, nach denen man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen kann. Wegen denen man schon mal einen neuen Almodovar im Anschluss sausen lässt, weil man mit den vergangenen 100 Minuten noch lange nicht fertig ist. Schuld daran sind Chris Kraus ungewöhnliche Geschichte und die drastischen Metaphern, die er Jesko in den Mund gelegt hat. Schuld daran ist Jürgen Vogel, der so herzzerreißend und schnodderig und lakonisch spielt. Hinter dessen zynischem Panzer aus avantgardistischen Klamotten und bissigen Sprüchen unentwegt pure Verzweiflung lauert. Schuld daran ist Nadja Uhl, die hier Zitrone heißt und nicht einmal ihr rotes Kleid mitnimmt, als Ansgar ihr den Laufpass gibt. Und schuld daran ist Margit Carstensen, die auch als grindiges Wrack ihre Würde nicht verliert. Sterbende und Narren haben die Freiheit, die Dinge beim Namen zu nennen. Das nutzen Mutter und Sohn weidlich aus und finden einander auf diese Weise wieder.

Ein Fakir, der über Glassplitter läuft, verletzt sich nicht. Der Trick ist, sich beim Scherbentanz oder Nadelkissenhocken gegen die Realität abzuschotten. Doch was man an sich heranlässt, tut garantiert irgendwann weh. Das Leben zum Beispiel. Die Liebe. Oder dieser Film, der einem durch die Poren direkt unter die Haut kriecht. Und saukomisch ist er außerdem. Wer diesen Film verpasst, hat selber Schuld. Die beste deutsche Produktion seit Winterschäfer. Nix wie hin.

Nani Fux

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