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Orson Welles Special Oktober 1999
 
 

Orson lebt in Dosen

Orson Welles
 
 
 
 

Erinnen Sie sich an Professor Brian O'Blivion in VIDEODROME von David Cronenberg? Der radikale Medienphilosoph, der nach seinem Tod als riesiges Lager von Videokassetten weiterlebte? Als Sammlung von Filmschnipsel; zu jedem Thema noch immer die passende Aussage parat, zu Lebzeiten aufgenommen, um die Öffentlichkeit auf unbestimmte Zeit mit neuen Bildern und Ideen versorgen zu können.

Fast scheint's, als wären O'Blivion und Orson Welles enge Verwandte im Geiste. Denn was von Orson blieb, das sind etliche Tonnen von Filmmaterial, das - über die ganze Welt verstreut - in seinen Filmdosen ruht und darauf wartet, das Licht einer Projektorlampe zu sehen. Als wäre der Wust an Versionen seiner veröffentlichten Filme nicht schon schwer genug zu durchschauen, gibt's da noch Material genug, um Filmforscher bis zum Sankt Nimmerleins-Tag beschäftigt zu halten.
Das reicht von mehr oder minder kurzen Schnipseln - Interviews, Testaufnahmen, kleine Spielerein zum Privatvergnügen oder als Geschenk für Freunde - bis zum Rohstoff für komplette Spielfilme.

Der größte Unterschied zu O'Blivion freilich: Welles hatte seinen Nachlaß so nie geplant. Es gibt da zwar die böse Theorie von der "Anxiety of Completion", die besagt, Welles hätte im Lauf seines Lebens psychologische Barrieren aufgebaut, die ihn zunehmend daran gehindert hätten, irgend etwas fertigzustellen; er habe gerne an Sachen herumgebastelt, aber Angst davor gehabt, sie je bis zu einem Punkt der Abgeschlossenheit zu bringen. Aber diese Theorie ignoriert nicht nur vollständig all die Werke, die Welles auch in späten Jahren noch in fertigen Fassungen geschaffen hat. Sie mißachtet auch alles, was man über Welles' unermüdliche Bemühungen weiß, seine übrigen Projekte, die Fragment bleiben mußten, zu vollenden.
Ja, er hat oft an vielen Sachen gleichzeitig gewerkelt, war oft von Ideen spontan so begeistert, daß er sich sofort an ihre Ausarbeitung gemacht hat, auch wenn Anderes noch nicht ganz abgeschlossen war. Aber bereits in den 30ern (wo er auch für all die Anhänger des Mythos vom unaufhaltsamen Niedergang noch als uneingeschränktes Wunderkind gilt) hat er ständig bewiesen, daß er eine atemberaubende Zahl von Projekten und Verpflichtungen gleichzeitig jonglieren konnte, ohne daß dies den einzelnen groß geschadet hätte. Kein Indiz also, daß er das Interesse am Fertigstellen später verloren hat - einfach nur die Arbeitsweise eines überbordend Kreativen.
Ja, Welles hat sich im Umgang mit Produzenten oft rückblickend erstaunlich naiv, gutgläubig oder undiplomatisch verhalten. Er war gewiß kein Großmeister der Filmbusiness-Politik - war manchmal etwas zu blauäugig und oft sicher kompromißlos. Aber soll man ihm das ankreiden? Wer ist schuld, wenn ein Genie, wie es das Kino nur wenige kennt, immer wieder daran gehindert wird, seine Vision ungebrochen auf die Leinwand zu bringen? Der Künstler, der den falschen Leuten vertraut und zu wenig Geduld hat für endlose Diplomatie? Oder das System, dem er zu unbequem ist und das ihn hintergeht und blockiert, wo es nur kann? Damit es weiter ungestört seine dominante Mainstream-Ästhetik verkaufen kann.
Soll man es wirklich Welles ankreiden, daß RKO sein THE MAGNIFICENT AMBERSONS (der vielleicht Orsons schönster Film gewesen wäre) verstümmelt und die Negative der herausgeschnittenen Stunde verbrannt hat, damit er garantiert nichts mehr retten konnte? Nur weil er zu dem Zeitpunkt (ähnlich wie später noch einmal bei TOUCH OF EVIL) fernab von Hollywood weilte, beschäftigt bereits mit den Dreharbeiten zum nächsten Film (IT'S ALL TRUE - der auch nie fertig werden durfte). Mir kommt das so vor, als würde man Säureattentate auf Gemälde damit entschuldigen, daß die im Museum so offen rumhingen und der Maler nichts schützend davorstand.

Nein, nichts außer dem Wunsch, einem der Großen Unbequemen, einem ästhetisch wie politisch Unangepaßten, kräftig an's Bein zu pinkeln gibt Grund, Welles die Hauptschuld anzulasten an seinem umfangreichen Fragmente-Legat.
Aber so hat der Zelluloid-Zauberer ungewollt immerhin eine Möglichkeit gefunden, als wahrscheinlich einziger Regisseur der Filmgeschichte posthum noch regelmäßig Filme zu machen - na ja, wenigstens machen zu lassen.
Denn einen solchen Nachlaß, den kann man nicht einfach liegen lassen. Den will man selbstverständlich auch irgendwie noch in eine ansehbare Form bringen, will retten, was zu retten ist und zumindest Annäherungen schaffen an jene Welles-Werke, die ihm und uns zu seinen Lebzeiten versagt geblieben sind.
Im Münchner Filmmuseum lagert der größte Teil des Welles-Vermächtnisses (1,8 Tonnen), und dort ist man - seit 1995 Welles' letzte Lebensgefährtin und enge Mitarbeiterin Oja Kodar das Material zu treuen Händen übergeben hat - fleißig damit beschäftigt, überhaupt erst einmal zu sichten, was da alles vorliegt (wobei Enttäuschungen und unerwartete, freudige Überraschungen sich wohl die Waage halten), das Material zu sichern und dann - wie auch immer - womöglich zu rekonstruieren.
Klar, daß Letzteres nicht leicht ist: Schwer genug, im Dschungel aus Erbstreitigkeiten überhaupt an alles nötige Material zu kommen, das eben teilweise auch an zahlreichen anderen Orten noch zu finden ist. Ungleich schwerer in den meisten Fällen, zu erahnen, was Welles vorhatte mit den unzähligen Filmmetern, die vorliegen. Denn Orson war nun einmal kein braver Sklave der Konvention. Und wo bei so manch anderem Regisseur der Schnitt im Wesentlichen nur noch Formsache sein mag, hat man Drehbuch und das gesamte Bildmaterial, fängt bei Welles hier freilich die Arbeit erst nochmal an. Ganz zu schweigen vom Ton - an dem der alte Radio-Fuchs stets gebastelt hat wie kein Zweiter; stets mit höchst originellen Resultaten.
Da liegt der Hund für die Rekonstruktion halt begraben: Wie kann man getreu im Sinne eines Künstlers dessen Werk vollenden, wenn es zum Grundprinzip des Künstlers gehört hat, sich selbst nie zu kopieren, sich immer wieder neu zu erfinden. Wer hätte sich, um nur ein Beispiel zu nennen, in Kenntnis der anderen, mise en scène-verliebten Welles-Filme getraut, OTHELLO so schnell zu schneiden, außer Orson selbst?

Kein Wunder, daß sich das Filmmuseum nun Welles-Experten und Freunde aus aller Welt zu einer Konferenz lädt. Gewiß auch, um denen stolz die ersten Erfolge der eigenen Arbeit zu präsentieren. Aber vor allem wohl - darf man vermuten - in der Hoffnung, daß der geballte Sachverstand, der da versammelt ist, diese Arbeit auch weiterbringt.
Uns soll es so oder so recht sein - Hauptsache, wir können nun endlich ein paar Blicke werfen auf bisher Ungesehenes. Denn 15 Minuten Welles-Fragmente im Rohschnitt sind noch immer ungleich interessanter und gewinnbringender als das Gesamtwerk von Michael Bay.
So ganz wird man das Gefühl aber auch nicht los, daß der große Orson irgendwo mit einem guten Glas Rotwein auf seiner Wolke schwebt oder unsichtbar zwischen den Tonnen von Filmdosen herumgeistert, amüsiert das ganze Treiben beobachtet und all das wissenschaftliche Brimborium, daß sich an seinen Hinterlassenschaften entzündet - und darüber vergnügt und herzlich lacht.

Thomas Willmann

   
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