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6.7.2006
 
 
       

"Ich habe alles erlebt!"
Die Schauspielerin Nathalie Baye über Regisseure, Rollen und ihren neuen Film EINE FATALE ENTSCHEIDUNG (LE PETIT LIEUTENANT)

 
       
 
 
 
  Noch ganz jung war sie schon eine Lieblingsdarstellerin von Francois Truffaut, dessen DIE AMERIKANISCHE NACHT (LA NUIT AMERICAINE, 1973) der zweite ihrer bislang 74 Filme war; in den letzten Jahren wurde Claude Chabrol zu ihrem größten Fan: Seit drei Jahrzehnten ist Nathalie Baye (geb. 1948) einer der größten Stars des Französischen Kinos. Bei allen bekannten Regisseuren Frankreichs, von Godard bis Tavernier, hat sie in ihrer ungeschminkten, direkten Art schon Hauptrollen gespielt, auch bei Robert Wise und dann Spielberg in einem seltenen Ausflug nach Hollywood (CATCH ME IF YOU CAN, 2001), und vier Mal hat sie den César, Frankreichs Oscar gewonnen, immerhin doppelt so oft, wie Catherine Deneuve.
Im Vergleich zur Deneuve wirkt sie auf den ersten Blick unglamourös - ein Eindruck der täuscht. Denn immerhin war Baye über Jahre immer auf den Titelseiten des französischen Boulevard: Als Ehefrau von Johnny Halliday, dem geliebt-gehassten Schauspiel-Rockidol unseres Nachbarlandes, mit dem sie von 1982 bis 1986 eine turbulente Ehe führte - und immerhin einmal, in Godards DÉTECTIVE gemeinsam vor der Kamera stand.
Baye, in der Normandie geboren und in Südfrankreich aufgewachsen, die als Tänzerin mit 14 begann, war früh schon gut, aber von Film zu Film wird sie besser. Neuester Beweis: EINE FATALE ENTSCHEIDUNG (LE PETIT LIEUTENANT), der diesen Donnerstag ins Kino kommt; ein französischer Polizeifilm in klassischer Film-Noir-Tradition, in dem Baye eine Kommissarin verkörpert, die zuviel Gin Tonic trinkt.
Das Interview führte Rüdiger Suchsland.

artechock: In LE PETIT LIEUTENANT spielen Sie eine starke, aber auch harte Frau, eine die durchs Leben gezeichnet ist. Was hat Sie an dieser Rolle interessiert?

Baye: Mit dem Regisseur und Autor Xavier Beauvois habe ich schon früher zusammengearbeitet. Das war sehr schön. Diese Rolle war ursprünglich für einen Mann gedacht gewesen. Als Xavier sie mir anbot, sagte ich innerhalb von Sekunden zu - weil mir der Gedanke sehr gut gefiel, hier einen Mann zu spielen. Das ist eine richtige Kinofigur: Romantisch, sehr realistisch: Eine Frau, die stark ist, aber in ihrem Leben schon manches einstecken musste, und ein junger Mann voller Leben, voller Hoffnung.

Haben Sie zuvor schon mal eine Trunksüchtige gespielt?

Baye: Ja, ein, zwei Mal Süchtige - aber es war eigentlich das erste Mal. Ich kenne persönlich viele Leute, die entsprechende Probleme haben. Vieles von dem, was mir erzählt wurde, hat meine Wahrnehmung geschärft. Aber sobald eine Rolle gut geschrieben ist, ist es für einen Schauspieler kein Problem. Ich hatte keine Schwierigkeiten: Ich finde es immer etwas albern, wenn Schauspielkollegen ich damit wichtig machen, was sie alles angeblich für Probleme mit bestimmten Rollen hatten. Dieses Gerede: "Ach, es war so schwer, die Rolle wieder loszuwerden, ich bin noch total von der Rolle gefangen genommen, oh je, oh weh" - ich hasse das! [Lacht] Das ist alles gespielt. Wenn ein Tänzer oder ein Pianist mit bestimmten Parts Probleme hat, dann übt er, aber er macht sich damit nicht wichtig. Es ist gerade unser Handwerk, zu zeigen, dass es leicht ist. Ich gehe auch in einer Rolle auf. Das hindert mich aber nicht, mein eigenes Leben zu führen.

Unser eigentliches Problem ist es, kein Engagement zu haben. Ein Tänzer kann allein üben. Aber Racine im Badezimmer zu sprechen, ist traurig. Wenn das Telefon nicht klingelt, ist es schrecklich. Alle anderen Problemchen finde ich vergleichsweise lächerlich.

Kennen Sie selbst Phasen, in denen das Telefon nicht klingelte?

Baye: Ja klar, das ist mir auch passiert. Ich hatte viel Glück im Leben. Aber ich kenne viele gute Kollegen, die dauernd solche Situationen erleben. Das ist so schwierig - ich weiß das! Man muss dran bleiben. Man muss über solche Phasen hinwegkommen. Man kann nicht 30 Jahre 'top' sein; es gibt Momente, wo man sich schwach fühlt, schmerzhafte Erfahrungen macht.

Sie haben mit allen wichtigen Regisseuren zusammengearbeitet. Man macht die Qualität eines guten Regisseurs aus?

Baye: Es ist schwer, das zu sagen. Ich habe mit vielen guten und einigen schlechten gearbeitet. Ein guter Regisseur ist einer, der seine eigene Welt hat, der weiß, wohin er will, und der den Überblick über alle Mitarbeiter nicht verliert, sondern es schafft, alle mitzuziehen. Und, ganz wichtig: Er kann zuhören. Er bleibt trotz allem für Vorschläge offen. Die weniger guten hören weniger zu.

Welchem von Ihnen verdanken Sie am meisten?

Baye: Ich verdanke Truffaut alles. Er engagierte mich wegen meines Temperaments und meines knabenhaften Aussehens. Dass er mich anschließend nicht nur in DER MANN, DER DIE FRAUEN LIEBTE besetzte, sondern dass ich an seiner Seite auch in seinem Lieblingsfilm DAS GRÜNE ZIMMER spielen durfte, halte ich für einen großen Vertrauensbeweis.

Sie wurden zuerst berühmt durch Truffauts LA NUIT AMERICAINE. Darin werden Dreharbeiten beschrieben, sie spielen das Scriptgirl. Was an Truffauts komödiantischer Sichtweise trifft die Realität am besten?

Baye: Ich will Ihnen etwas sagen, was Sie vielleicht überraschen wird: Ich habe seit LA NUIT AMERICAINE über 70 Filme gemacht. Und es gab nicht einen Film, bei dessen Dreh es nicht irgendeinen Moment gab, der mich an Truffaut erinnert hat. Jeder Dreh hat seine tragischen, traurigen Augenblicke und jeder seine grotesken, witzigen, seine langweiligen auch. Ich habe alles erlebt. Die ganzen Liebesgeschichten sowieso, aber sogar einen Dreh, bei dem einer der Hauptdarsteller gestorben ist - wie in LA NUIT AMERICAINE. Das war MADAME SURDIS von Caroline Huppert, der Schwester von Isabelle Huppert. Der Schauspieler Marcel Imhoff, der meinen Vater spielte, starb just an dem Tag, an dem wir seine Beerdigung gedreht haben - auch grotesk, nicht wahr?

Sie stehen für das klassische französische Kino. Wie schätzen sie dessen gegenwärtige Situation ein?

Baye: Wir Franzosen sind sicher Weltmeister im Klagen über die Bedrohung unserer Kinotradition. Aber wir verteidigen das Autorenkino stark. Das ist gut so: Wir müssen auf unser Autorenkino aufpassen. Ich denke, wir Schauspieler sollten die Genres wechseln, und auch unterfinanzierte Independent-Filme machen. Als Darsteller können wir helfen, das kleine Filme finanziert werden. Denn wenn wir nicht aufpassen, übernehmen die Geldmacher das Kommando, die keine Ahnung haben - dann erdrückt uns die Walze des amerikanischen Kinos. Es ist traurig, dass junge Zuschauer New York inzwischen besser kennen als Paris, London oder Berlin.

Ist darum Frankreich ein Land, das noch echte Stars hat?

Baye: Das französische Publikum ist seinen Stars jedenfalls sehr treu. Wir pflegen sie. Ich weiß von Meryll Streep, wie schwer es in den USA wird, sobald man ein bestimmtes Alter überschritten hat. Bei uns funktioniert es - es gibt Rollen, wie meine in LE PETIT LIEUTENANT.

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