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19.08.2004
 
 
       

Kleine engagierte Filme statt "großes Kino"
Zum 57. Internationalen Filmfestival von Locarno

 
 
Menschenverachtende Sauce: DOGORA
   
 
 
 
 

Als das kleinste unter den großen oder auch als das größte unter den kleinen bezeichnete sich das 1946 gegründete Filmfestival von Locarno bis vor wenigen Jahren gerne. Dann wurde es in die A-Klasse aufgenommen, offiziell auf eine Stufe mit Berlin, Venedig und Cannes gestellt. Weil Locarno mit diesen Großveranstaltungen aber doch nicht konkurrieren kann und die Stars ausbleiben, macht man aus der Not eine Tugend und erklärt stolz, dass hier nicht Glamour und Stars, sondern die Filme im Mittelpunkt stehen.

Um jedes einzelne Werk müsse man freilich kämpfen, erklären Festivaldirektorin Irene Bignardi und Festivalpräsident Marco Solari immer wieder, das Bemühen dem Programm aber ein eigenes unverwechselbares Profil zu geben ist unübersehbar. Überragend war auch dieses Jahr wieder die Retrospektive, die unter dem Titel "Newsfront" die vielfältigen Darstellungen und Rollen von Journalisten im Film beleuchtete. Über 90 Filme, der älteste von 1899, die neusten von 2004 wurden in diesem Rahmen gezeigt.

Während etwa die Hälfte aller Filme der Retrospektive aus den USA stammte, spielte Amerika im restlichen Festivalprogramm nur eine untergeordnete Rolle. Auch im Piazzaprogramm, das allabendlich bis zu 8000 Zuschauer anlockte, fanden sich in diesem Jahr mit Nick Cassavates´ sentimentaler Schnulze WIE EIN EINZIGER TAG und Paul Greengrass´ Agententhriller THE BOURNE SUPREMACY, der erst im letzten Moment ins Programm aufgenommen wurde, nur zwei US-Produktionen. "Human Rights" - das große Anliegen der Direktorin sollen nicht nur in einer eigenen, von ihr letztes Jahr geschaffenen Programmschiene, sondern beim gesamten Festival im Mittelpunkt stehen.

Diesem Anspruch gerecht wird DER NEUNTE TAG, in dem Volker Schlöndorff ein auf Tatsachen beruhendes Drama aus der Zeit des Nationalsozialismus erzählt. Für neun Tage wird der luxemburgische Priester Henri Kremer (Ulrich Matthes) 1942 aus dem KZ Dachau entlassen. Wenn er in diesem Zeitraum den Bischof seines Landes nicht zu einer positiven Stellungnahme zum Nationalsozialismus bewegt, wird er ins KZ zurück geschickt. Der Gewissenskonflikt des Priesters wird in der Konfrontation mit dem Gestapooffizier Gebhardt (August Diehl) zwar packend diskutiert, doch statt diesem Kammerspiel auch durch die filmische Gestaltung Intensität und Kraft zu verleihen, verlässt sich Schlöndorff ganz auf die starken Dialoge und seine exzellenten Darsteller.

Für Menschlichkeit und Toleranz plädiert auch die israelische Tragikomödie THE SYRIAN BRIDE. Im Stil von Mira Nairs MONSOON WEDDING erzählt Eran Riklis von einer in den besetzten Golanhöhen lebenden Drusin, die einen syrischen Schauspieler heiraten soll. Da sie ihre Familie nach der Hochzeit aufgrund der israelischen Einreisebestimmungen nicht mehr besuchen darf, wird dieser Tag paradoxerweise der traurigste ihres Lebens sein. Unterhaltsam zeigt Riklis die Grenzen zwischen den Völkern, aber auch zwischen traditionell denkenden Vätern und fortschrittlichen Söhnen, zwischen einem Macho-Mann und seiner emanzipierten Frau, muss sich aber angesichts des Ernstes der realen Situation im Nahen Osten auch den Vorwurf der Verharmlosung gefallen lassen.

Eine jüdische Familie und ein Palästiner treffen auch in Teresa De Pelegris und Dominic Hararis SERES QUERIDOS / ONLY HUMAN aufeinander, allerdings nicht im Nahen Osten, sondern in Spanien: Beim Vorstellungsbesuch bei der jüdischen Familie seiner Freundin fällt dem Palästinenser Rafi ein Topf gefrorener Suppe aus dem Fenster und trifft einen Passanten. - Witz bezieht diese Komödie aus der Charakterisierung der Familienmitglieder von der nymphomanen Schwester über den streng orthodoxen Bruder bis zum blinden Opa ebenso wie aus den einfallsreichen Handlungswendungen. - Billiger Klamauk ist dies einerseits, doch andererseits wird hier auch ein Feuerwerk an Gags gezündet, das mit dem Schlusssatz "Niemand ist perfekt" wohl bewusst Erinnerungen an MANCHE MÖGENS HEIß wecken will.

Engagierter und interessanter als das Piazzaprogramm war, obwohl auch hier die Meisterwerke fehlten, der Wettbewerb. Privaten Geschichten, vorwiegend über Jugendliche, die lernen müssen ohne Eltern zu leben, standen Filme mit politischen Themen gegenüber.

Am sozialkritischen britischen Kino eines Ken Loach orientiert sich Kenny Glenaan, der in YASMIN an einer Alltagsgeschichte präzise und unsentimental zeigt, wie sich die Situation der pakistanischen Communities in England durch 9/11 geändert hat. Obwohl die junge Yasmin sich völlig an die englische Lebensweise assimiliert hat, wird sie nach dem Anschlag auf das WTC von den Briten schikaniert, als "Freundin Osamas" - ein Name, mit dem sie nichts anfangen kann - beschimpft und vom Arbeitgeber in Urlaub geschickt. Als ihr Cousin Faysal, mit dem sie zwecks Einbürgerung eine Scheinehe geschlossen hat, verhaftet wird, wandelt sich langsam ihre Haltung gegenüber den Briten und sie bekennt sich zu ihrer islamischen Herkunft. Eingebettet in eine realistische und durch den genauen Blick für Details dichte Milieuschilderung zeigt Gleenan am Beispiel seiner von Archie Panjabi hervorragend gespielten Protagonistin plastisch, dass durch 9/11 auch die Gräben in den multikulturellen Gesellschaften Westeuropas größer geworden sind.

Ohne Schnörkel und unnötige Effekte, aber konzentriert und im Vertrauen auf seine Darsteller hat auch der Südafrikaner Ian Gabriel FORGIVENESS inszeniert. Die nach Abschaffung der Apartheid eingerichtete "Wahrheits- und Versöhnungskommission" hat den Polizisten Tertius Coetzee zwar freigesprochen, doch er selbst kann sich den Mord an einem jungen Afrikaner nicht vergeben. Psychisch gebrochen sucht er die Familie des Opfers auf. Zunächst wird der Ex-Cop empört zurückgewiesen, doch dann bittet ihn die Tochter doch länger zu bleiben, freilich aus ganz anderen Gründen: Sie möchte Coetzee hinhalten, bis die von ihr informierten Freunde des toten Bruders eingetroffen sind. So schwingt einerseits in den bewegenden Begegnungen von Täter und Opfer, ohne dies explizit zu diskutieren, immer die Frage nach Schuld, Sühne und Vergebung mit, andererseits funktioniert FORGIVENESS durch die von den sich nähernden Freunden ausgehende Bedrohung auch als spannender Krimi.

Menschen auf der Flucht sind ein zentrales Motiv im iranischen Kino. In Hassan Yektapanahs hervorragend fotografiertem STORY UNDONE wird dieses Thema ergänzt durch eine Reflexion übers Filmemachen. Im abgelegenen gebirgigen Grenzland will ein Filmregisseur mit realen Flüchtlingen einen Film drehen. Wollen diese zunächst nur maskiert aufgenommen werden, da sie in der Filmkamera eine Bedrohung sehen, wendet sich das Blatt als die Gruppe von einer Grenzkontrolle aufgegriffen wird. Nun spielen die Flüchtlinge gerne das Spiel des Regisseurs mit, denn die vorgeblichen Dreharbeiten kaschieren die wahre Flucht. Wenn dabei der Regisseur im "Film im Film" nach den Motiven der Flucht fragt, vermischen sich zunehmend die Grenzen zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem und Yektapanahs Form kann auch als geschickter Trick zur Umgehung der Zensur angesehen werden.

Der Italiener Saverio Costanzo verleiht dagegen PRIVATE den Eindruck des Dokumentarischen durch den Gestus der beweglichen und den Menschen immer nahen digitalen Handkamera. Wenn hier von der israelischen Armee das Obergeschoß eines palästinensichen Einfamilienhauses besetzt wird und die verfeindeten Gruppen auf engstem Raum zusammen leben müssen, spiegelt sich in dieser intimen privaten Geschichte, die durch die räumliche Beschränkung auf das Haus Dichte gewinnt, die politische Situation im Nahen Osten. Costanzo erzählt aus der Perspektive der palästinensischen Familie und zeigt eindringlich, wie durch den äußeren Druck die Anspannung und Nervosität innerhalb der Familie wächst und die verschiedenen Mitglieder unterschiedliche Gegenmaßnahmen ins Auge fassen. Gleichzeitig gewährt er durch die Tochter, die im Kleiderschrank versteckt die Israelis beobachtet, aber auch Einblick in das Leben der Besatzer. Auch diese sind keine homogene Gruppe, denn den Befehlshabern stehen Untergebene gegenüber, die schikaniert werden.

In ihren Debüts aufs Private beschränkt haben sich dagegen die Portugiesin Catarina Ruivo und der Belgier Joachim Lafosse. Während Ruivo in ANDRÉ VALENTE durch ihre elliptische und karge Erzählweise einen eindringlichen und bewegenden Einblick in die Psyche eines vaterlosen Achtjährigen, seine Ängste und seine Sehnsucht nach Geborgenheit und Orientierung vermittelt, schildert Lafosse in FOLIE PRIVÉE im Dogma-Stil wie ein Siebenjähriger zwischen den sich streitenden Elternteilen förmlich zerrissen wird.

Mangelnde familiäre Geborgenheit und Mutterliebe hat in Ayse Polats EN GARDE bei der 16jährigen Alice zu Verschlossenheit und Kontaktarmut geführt. Als Betrunkene wurde ihre Mutter mit 16 von einem Unbekannten in der Disco geschwängert, nie hat sie das Kind akzeptieren können, es zuerst zur Oma und Tante und nun nach deren Tod in ein Heim abgeschoben. Verstärkt wird Alices Isolation durch eine psychosomatisch verursachte Störung des Gehörs, die sie Geräusche aus der Umwelt lauter als normal hören lässt. Zu ihrer einzigen Bezugsperson wird die Kurdin Berivan, die sich geradezu aufdringlich um Alices Freundschaft bemüht. Wie Alice allerdings von anderen Heiminsassinnen ausgenützt wird, so nützt sie Berivan aus und muss im Lauf des Films lernen, Verantwortung zu übernehmen und sich dem Leben zu stellen. Maria Kwiatkowsky spielt zwar die junge Alice sehr überzeugend und auch die Vermittlung des Hörfehlers sorgt - ähnlich wie in DS WEISSE RAUSCHEN - für eindringliche Momente, doch nach starkem Beginn vermag Polat weder die Hauptfigur zu vertiefen noch die Geschichte entscheidend weiter zu treiben. So schleppt sich EN GARDE, an dem auch die Überdeutlichkeit, mit der die der Fechtsprache entnommene Wendung als Metapher für das Leben verwendet wird, im zweiten Teil mühsam dahin und wird mit einem Unfall notdürftig zu einem Ende gebracht.

Ein ganzes Leben in 75 Minuten erzählt der Japaner Jun Ichikawa mit TONY TAKITANI. Wie die Sandburg, die in der ersten Einstellung gebaut wird, gleitet das Leben in dieser Verfilmung eines Romans von Haruki Murakami an Tony vorüber. Das emotions- und beziehungslose, das einsame und monotone ruhige Dahinfließen der Jahre vermitteln dabei kongenial ein Off-Erzähler, der den in gedämpfte Grau- und Blautöne getauchten Bildern unterlegt ist, und eine Kamera, die Distanz wahrt und wie vor einer Theaterbühne parallel zum Geschehen dahin gleitet, aber sich nie nähert. Wie die Hauptfigur nicht in das Leben involviert ist, so wird auch der Zuschauer nie einbezogen und bleibt distanzierter, aber angesichts der ästhetischen Geschlossenheit faszinierter Betrachter.

Für den künstlerischen Höhepunkt außerhalb der Retrospektive sorgte aber Thomas Riedelsheimer mit seinem neuen Dokumentarfilm TOUCH THE SOUND. Von Frankfurt nach New York, nach Japan und dazwischen auch in ihre schottische Heimat hat Riedelsheimer die Perkussionistin Evelyn Glennie begleitet und spürt nach dem Porträt des Landart-Künstlers Andy Goldsworthy (RIVERS AND TIDES) nun der Welt der Töne nach. Allgegenwärtig sind in diesem Film Klänge. Musik mischt sich mit Straßenlärm, mit dem Geräusch von im Wind flatternden Fahnen, mit Meeresbrandung und Momenten der Stille. Der Rhythmus, in dem hier die furiose Tonspur mit bestechenden Landschaftsaufnahmen und behutsam eingebetteten Aussagen Glennies gemischt wird, lassen dabei den Zuschauer tief in diese Welt der Klänge eintauchen und in ihr versinken, so dass er mit - zumindest vorübergehend - geschärften Sinnesorganen das Kino verlässt.

Auch bei Patrice Leconte, der für die größte Enttäuschung des Festivals sorgte, war Musik der Ausgangspunkt für seinen neuen Film. Begeistert von Etienne Perruchons Komposition DOGORA beschloss der französische Regisseur dazu Bilder zu suchen. In Kambodscha hat er sie gefunden, doch die filmischen Impressionen müssen sich der Musik völlig unterordnen. Wie Godfrey Reggio in KOYAANISQATSI degradiert Leconte die Menschen zur Staffage. Lecontes Blick ist weder der des Ethnographen noch der des Sozialkritikers, sondern einzig der des teilnahmslosen Ästheten. Je nach Situation in monochromes Blau, Grün, Rot oder Gelb getauchte Postkartenansichten werden im Rhythmus der Musik aneinander gereiht - eine kitschige, menschenverachtende Sauce ist so entstanden.

Walter Gasperi

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