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21.07.2004
 
 
       

Letzte (verletzte) Bilder
Zu Vlado Kristls Tod

 
 
"man hatte allen Grund
mit dem Ruhm zu rechnen"
(Vlado Kristl)
 
 
 
 
 

"13. April 1972 / Uns ist wieder einmal gekündigt worden / wir gehen freiwillig aus der Wohnung des falschen Lebens / beim Weggehen werfen wir die Schlüssel / ins Wasser" (V. Kristl, zeichnungen, in Filmkritik, 05/76)

7. Juli 2004. An einem Mittwochabend starb Vlado Kristl. Seine engsten Vertrauten verbrachten die Zeit bis zum nächsten Morgen bei ihm oder hatten ihm noch nachts einen letzten Besuch abgestattet. Schön, vielleicht, nach dem plötzlichen Schlaf plötzlich an einem anderen Ort in einer anderen Zeit aufzuwachen, und dann noch die Freunde zu spüren, die da waren, die Freundinnnen und Frauen, und einem die geliebten Kleidungsstücke und viele kleine Blumen mitgaben, weil sie auch wußten, dass da eine Bedürftigkeit war und eine furchtsame Einsamkeit, und wachten. Am Donnerstag morgen waren seine Kinder, Pepe aus Frankfurt und Madeleine aus Frankreich angereist. Kurz bevor seine Leiche mitgenommen wurde, kam auch ich dazu - als viel jüngerer, später, vertrauter Bekannter, Freund wäre zu viel gesagt, weil nicht fremd, aber zu fern geblieben. Die Verwaltung des Ereignisses - Feststellung des Todes bis Beseitigung des toten Körpers (mit kurzer Verzögerung, denn ohne Totenschein kein Abtransport, und just war er kurzfristig außer Haus, der Totenschein, zum Kopieren, wie Vlado Kristl selbst die letzten Jahre so häufig in den Kopierladen ging), dokumententechnische Abwicklung der erloschenen Identität (Einziehen des Personalausweises - "Sehr geehrter Herr Bundesgerichtshofpräsident, ich kann den Verdacht nicht loswerden, dass ich Ausländer bin" oder: "Alle Staatsangehörigen sind Ausländer, [...] auch zur Welt können nur Ausländer kommen..."), und dann das Angebot eines leer-abstrakten Abschiedszeremoniells, fast nur noch die Erinnerung an ein Ritual, - die Verwaltung des Ereignisses war schon fast abgeschlossen: Es wartete noch der reglose, erstarrte Körper, dass auch er der ins Ungewisse und Unsichtbare entflohenen Lebendigkeit nachfolgen dürfe.

Vlado Kristls Widerstand war erloschen. Das ist in seinem Fall genau dasselbe gesagt wie: Sein Leben war erloschen. Er konnte sich jetzt nur noch fügen, eine unerträgliche, die demütigendste Vorstellung. Doch fast alle Unerträglichkeit war abgewendet worden und das Mögliche in seinem vermuteten Sinne gestaltet. Nur seine grün-weißen Turnschuhe durfte er nicht anbehalten, das sei verboten (gut, dass er schon eine ganze Weile gegangen, unterwegs war). Wie grausam nun doch, diese ungeheuren, kleinteiligen, bewußtlosen oder doch sehr bewußten und zynisch-hoffnungslosen Maschinerien - Machinationen - der Macht. Gegen die mit heiligem Witz und, in einem verletzten Sinne, bösem Ernst zu kämpfen sein ständiges Dasein und sein Umtrieb waren. Wie sie, die Maschinerien, den nun Wehrlosen, den endlich Erledigten - und doch mit schuldgetrübter Überheblichkeit: eigentlich hättest du ja recht gehabt, aber wir haben dich überlebt -, verhandeln und einsacken konnten. Nein. Als hätte er doch seine Hände und Stimme und Argumente weiterhin im Spiel gehabt: Nicht gerade, zur braven Totenmarionette hingestreckt, lag er da, sein rechtes Bein war leicht angewinkelt, in einer letzten erstarrten Figur der freien Bewegung, in einer letzten erstarrten Übergänglichkeit des Widerstands, als gäbe es noch etwas zu tun, mit diesem Körper, ein allerletzter Schritt, ein allerletztes Zeichen setzen, dessen Sinn erst in einer anderen Welt sich entdecken würde.

Und dann, als man ihn hinüberhob, sah es so aus, als wolle er gleich mit diesem Schritt von der Bahre wieder absteigen. Und dann, als man ihn im schwarzen Sack hinaustrug, dann ging das nur aufrecht, weil das Treppenhaus so eng war, das Treppenhaus des Hauses, das er als Gefängnis empfand, wie überhaupt ganz München ein Gefängnis in seinen Augen war, das man vollständig abreißen und ganz neu hätte aufbauen müssen. "es ist an der Zeit, durch's Oberlicht / das Haus zu verlassen / ein Klavier von ozeanischer Größe / läßt sich nicht mehr stimmen" (V. Kristl, Menschenfeind, München 2003)

*

12. Juli 2004. Die Beerdigungsfeier beginnt mit Klavier, dann Vlado Kristls Stimme, sie spricht spontan Gedichte, "Das Mißverständnis ist über die Berge hereingebrochen ...", irgendwann wieder Klavier, und wieder Gedichte, der letzte Satz: "es ist überall Licht". Die Tonspur seines Films HORIZONTE, 1973. Der Raum hallt, der Ton ist dumpf und verrauscht, so dass die Worte nur erahnt werden können. Sieben Minuten lang. Sätze und Sinn verlieren sich im unkontrollierten Soundgemisch. Vlado-Kristl-Sound und -Verweigerung, posthum, zufällig, fast möchte man lächeln und froh sein. Natürlich machte er nie Sound, sondern Ton, zärtlichen oder gewaltigen, schreienden, verstörenden, in DIE GNADE NICHTS ZU SEIN, 1993-97, 84 Minuten lang die Wiederholung eines gequälten, quälenden Schreis. Noch in diesem Moment seiner Abwesenheit also poetisch, so wie stets etwas Anarchisch-Widerständiges und Stimmig-Rohes aus dem bloß rohen Zufall der Realität hervorbringend - Zerstörung und Aufbruch, und dann ist die Realität die Utopie. Gegen das Wort "Anarchie" hatte er trotzdem etwas. So wie gegen das Wort "Utopie". So wie gegen alle Worte, wenn man sie nicht gleichzeitig befreite. So wie gegen das Wort "Experimentalfilm". Nach den Dreharbeiten zu KUNST IST NUR AUSSERHALB DER MENSCHENGESELLSCHAFT, 2002, war es ihm gerade recht, dass man von seinen Gedichten, gesprochen und gegen alles feindlich und fremd Umgebende geworfen und geschleudert von Carola Regnier, kaum etwas verstand (für den Ton war ich verantwortlich). Aber doch genug. So dass da etwas war. Zumindest das, dass der Zuschauer darauf kommen könne, das Buch zu kaufen (Menschenfeind, München 2003). "............wer sich in der Kunst nicht auskennt, soll sich nach den Preisen richten" (Preise und Wert von Kunstwerken, 28.2.2003, unveröffentlicht.)

Zweitens. Als die Zeremonie beendet ist und der Saaldiener die Ausgangstüre öffnet, steht niemand auf. Eine ganze Weile. Der Saaldiener blickt irritiert, eine ganze Weile. Irgendwie beginnt erst jetzt das Feierliche, das Gefühl von Verbundenheit und - nun - endgültig persönlichen Abschieds. Dann steht Pepe Kristl auf, hutbewehrt, und geht auf den Sarg zu, nach einer kurzen Berührung zum Ausgang, und plötzlich ist es, als ginge da sein Vater, derselbe raumbewußte, sichere und doch deutlich schlendernde, freundliche Gang, die Arme schlenkernd, nicht geraden Schritts zur Tür, sondern in einem elegant überflüssigen Bogen. "Familienähnlichkeiten" - die "Stärke des Fadens liegt nicht darin, daß irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, daß viele Fasern einander übergreifen." (L. Wittgenstein, Philos. Untersuchungen, Nr. 67) Fäden gesponnen, Freunde gewonnen, aus Ähnlichkeiten, Fehden entsponnen, Freunde verloren, aus Streitigkeiten, weil der Mensch ein "Ich" hat, und sonst niemand, und Mensch-Sein bleibt ein unsicherer und anfälliger "Mensch-Versuch". (Titel der letzten geplanten Publikation, Titel von Johanna Pauline M.)

Drittens. Seine Tochter Madeleine, so apart und kraftvoll und, einem nicht weiter begründbaren Eindruck nach, so spielerisch-leicht und halsbrecherisch wie der Film (MADELEINE, MADELEINE, 1963 - auf den Spaß des erotischen Tennisspielens folgt der Zank und das Gewitter und der Gesang: "ich haste durch den Wald"). Am anschließenden Kaffeetisch kann ich sie eine Zeit beobachten. Sie ist in dieser Stadt inzwischen fremd, nur die alten Freunde kennt sie. Sie schaut in die Runde. In ihrem Gesicht eine Mischung aus Neugierde, Erstaunen, Benommenheit und Angewidertsein, d'un air dégoûté möchte man in ihrer Sprache sagen. Es ist die Mundpartie, eine ähnliche Zeichnung, die Mundwinkel nach unten weisend, die Lippen etwas schmollend, und dann doch dieses strenge, ernste Schauen, ein bohrender, humorloser Blick, der aber in diesem Moment das sieht, worüber gleich der unnachsichtige und treffende Witz gemacht wird. Ein Witz, der Vlado Kristls Filme durchzieht, seine Prosa, seine Zeichnungen, und seinen leibhaftigen Auftritt (jetzt nur noch in den Filmen). Ein Witz, der verschwindet oder nicht vorhanden ist, in den Gedichten und den Gemälden, in ihnen stattdessen Schwärze, Tiefe und Weite, Trauer.

Viertens. Der Witz in DER BRIEF, 1966. "Längeres Beispiel: In einem Schwabinger Café unterhalten sich ein paar Männer, vielmehr: sie benehmen sich, als unterhielten sie sich, spucken sich aber ständig ins Gesicht und loben gegenseitig verbindlich ihre Spuckkünste. Der Mist, den die Leute reden, ist auch nichts anderes, hat Vlado Kristl sich gedacht. Vielleicht hat er aber nur gehofft, die betreffenden Filmkritiker und Konsorten würden doch in Rage kommen und sich richtig prügeln." (H. Färber, Der Brief in: Filmkritik 4/67)

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"Wir verbrennen alle unsere Wünsche" - Jean-Marie Straub und Danièle Huillet stehen in Vlado Kristls OBRIGKEITSFILM, 1971, vor einem großen Feuer, mit dem Rücken zur Kamera, und sie wissen irgendwann nicht mehr, was sie nun noch spontan sagen könnten, das ist nicht so ihre Sache (das Feuer dagegen schon).
"Wie kann man da noch etwas ändern und etwas umstürzen. Der Kampf um irgendwelche Freiheiten, der ist praktisch zu gewinnen und ist in jedem einzelnen Fall auch gewonnen, ist aber im Ganzen verloren eigentlich dadurch, daß die Obrigkeit diese Freiheiten nicht unterdrückt, sondern sie zum Zwang macht. Die Obrigkeit bleibt die Natur der Gesellschaft." (V. Kristl, Filmkritik, 07/71)

Dieter Reifarth erzählt während des Kaffeetrinkens nach der Beerdigungsfeier: Vlado hätte den letzten Straub-Huillet-Film, EIN BESUCH IM LOUVRE, 2004, im Münchner Filmmuseum gesehen (dort in Klaus Volkmer im übrigen ein wirklich großer Kristl-Freund) und danach Straub mitgeteilt, der Film sei großartig, er habe nur den falschen Text und er handle von den falschen Bildern, und fast könne man glauben, dass er, Straub, kein Genie sei. "Verbrennt den Louvre, jetzt, gleich, wenn man Angst hat vor dem Schönen..." (Cézanne, nach Joachim Gasquet, im eben genannten Film)

Vlado Kristls Bilder, die wahren, sind vorerst weggepackt, in einem Lagerhaus in einer Münchner Strasse, die sehr lange in einem frühen Straub-Film abgefahren wird. Und schon wieder ein großer Witz: ein gigantisches Netz endloser, gerader Gänge mit rechtwinkligen Abzweigungen auf mehreren Stockwerken, ein Storage-Abteil neben dem anderen, ununterscheidbar, wären sie nicht numeriert, das Ganze gut abgesperrt und gesichert. Darin nun das große Schlummern der Wünsche, das große Schwelen des Feuers. Wer will sie, diese Bilder? Die ganze Welt, die ganzen einzelnen Mensch-Versuche. "Danke, Freund. Manchmal verwechselt man die Niedrigkeiten der Welt mit den Kränkungen gegen die Welt. Ah! Gäbe es nur Messer und Scheren, Stempel, Lanzen und Hakenbüchsen; Mörser, Sicheln und Hämmer, Kanonen, Kanonen, Dynamit." (Straub-Huillet, SICILIA!, 1998)

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"umarme die Luft, geh, ohne Grenzen
winke ihr das letzte Mal zu
und ich setze mich hin
und über mir ein jubelnder und winkender Wind
alle auf! Und ich versuche zu zaubern
Liebeserklärung an den Wind
auf! Ihr Bäume, jetzt werdet ihr mein Weg sein
Gedanke verschone mich
daß ich kein Ziel nennen kann"

Vlado Kristl, spontan gesprochenes Gedicht aus dem Film "DIESE GEDICHTE", 1975. Als Schluß einer nicht mehr zustande gekommenen Veröffentlichung 2004 - "Mensch-Versuch" - vorgesehen. Im Nachruf von Fritz Göttler, SZ vom 9.7.2004, zitiert.

Markus Nechleba

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