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Film ist Welterzeugung und jeder Kinogang der Eintritt in
ein riesiges Paralleluniversum. In der Erfahrung der Masse
von Bildern, Atmosphären und Geschichten, die da intensiv
auf den Betrachter einstürzt, gibt es kaum etwas Reizvolleres,
als das Nebeneinander-Sehen vieler Filme, und die merkwürdigen,
überraschenden Gemeinsamkeiten, die sich dabei auftun.
Man kann so untergründigen Trends und Tendenzen nachspüren,
Seelenlagen und Neugierden eines kollektiven Unterbewussten
scheinen sich plötzlich zu eröffnen.
Von vielen bemerkt wurde zuletzt etwa bei der Berlinale 2003
die etwas plump forcierte Politisierung mancher Stoffe und
ein grundsätzlicher Hang zur neuen Tristesse in vielen
Filmen, der klammheimliche Genuß am (Mit-)Leiden - was
gerade in seiner Kombination vielleicht nicht mehr ist, als
die etwas elitäre Reaktion der aufgeklärten Mittelschichten
des Westens, denen Filmemacher wie Auswahlkommissionen und
Journalisten gleichermaßen angehören, auf die plötzlich
offensichtlich gewordene "Krise".
Was in diesem Jahr besonders auffällt, ist die Rückkehr
von Atmosphären, die lange verschwunden schienen, das
Umdefinieren von Stoffen die dem Kinogänger als solche
durchaus vertraut sind, im Ergebnis aber der Renaissance eines
gar nicht wenige Jahre verschwundenen Lebensgefühls gleichkommen.
Zusammengefasst kann man von der überraschenden Wiederkehr
der 70er Jahre sprechen.
Etwa in Steven Soderberghs SOLARIS und in IT'S ALL ABOUT
LOVE von Thomas Vinterberg. Zwei miteinander auf vielerlei
Weise gut korrespondierende Wiederentdeckungen der Langsamkeit
im Kino, die nur am Rande eine Geschichte erzählen, einer
filmischen Meditation ähnlicher sind, als den Straight
Stories, den ironisch-wachen Vexierspielen und den präzisen
Psychostudien der letzten Jahre. Die reißerische Montage
und die aktivierte Kamera, die in den späten 90ern dominierten,
wurde hier abgelöst durch vorsichtige, tastende Bildbewegungen,
durch sanfte Übergänge. Ein grundsätzlich beruhigter
Blick bringt den Zuschauer in Trance, die Filme entfalten
einen leisen Sog, laden zum Wegdriften ein, ähneln den
psychodelischen Erfahrungen mancher Drogentrips, wollen genauso
im Halbschaf gespürt, wie konzentriert und wach betrachtet
werden.
Beide sind Kammerspiele des Nichts: 30 Jahre nach Tarkowskis
Bearbeitung von Stanislav Lems längst zum Klassiker avancierter
Novelle SOLARIS, bietet Soderbergh eine neue Interpretation
des Stoffs ganz aus ganz eigenem Recht. Auf dem Raumschiff
"Solaris" materialisieren sich Träume und Bewusstsein
der Stationsbewohner, vermischen sich Idee und Wirklichkeit,
wird der Gedanke zur Tat. SOLARIS ist eine spirituelle Meditation
über Ewigkeit und ewige Wiederkehr, über eine Welt,
in der nichts stirbt - und mit diesen Themen durchaus nahe
am esoterischen Traum der frühen 70er von Bewusstseinserweiterung
und Grenzerfahrungen. Im Unterschied zu Tarkowski setzt Soderbergh
Dialoge nur äußerst sparsam ein, versucht eine
Atmosphäre zu erzeugen, die an Kubricks "2001"
erinnert. Und Soderberghs Raumschiff ist eine klaustrophobisch
verengte Zelle inmitten des Nichts, gerade dadurch wird SOLARIS
zum konzentrierten philosophischen Essay über die Leere.
Und auch in Vinterbergs IT'S ALL ABOUT LOVE sind die engen,
dunklen Räume und ihr Kontrast zur trostlosen Weite der
Außenwelt nur ein Spiegel der Verengungen, Ängste
und Autismen, in denen sich die Charaktere gefangen finden.
Paranoia lautet ein weiteres Stichwort: "Things aren't
what they seem." - In SOLARIS ist es der Kurzauftritt
der von Ulrich Tukur gespielten Nebenfigur, die in der Art,
wie sie den Helden Kelvin um Hilfe bittet, schon früh
den paranoiden Takt vorgibt: "Du bist der Einzige, dem
ich trauen kann. Aber Du weißt: Sie hören uns zu!"
"Sie" sind, was in den 70ern gern "das System"
genannt wurde: Individuelle Freiheit scheint durch Gleichschaltung
ersetzt, universale Manipulation ist immer und überall,
und gerade dem empirischen Augenschein, dem Urinstrument aller
Aufklärung ist nicht mehr zu trauen: Denn die Menschen,
die man sieht könnten selbst fleischgewordene Puppen
(SOLARIS) oder künstlich erzeugte perfekte Doppelgänger
(IT'S ALL ABOUT LOVE) sein.
Vinterbergs Film erzählt als Vision eines Sterbenden
über "die letzten 7 Tage meines Lebens": Ein
Film, der sagen will, dass die wahren Gefühle verschwinden
und wir irgendwie unecht leben, dass Computer und Technik
die Menschen dumm machen, dies aber mit atemberaubenden, perfekt
computerdesignten Bildern tut, die unter anderem Afrikaner
fliegen lassen und die schöne Claire Danes vervierfachen
- ein visionärer Bildertrip, eine zweistündige psychodelische
Traumsequenz.
Depression, Stille, Kälte, gräuliche Farben - man
könnte die Grundstimmung in beiden Fällen postapokalyptisch
nennen, stünden neue Untergänge nicht andererseits
unmittelbar bevor - bei Vinterberg etwa ist die metereologische
Lage von "kosmischen Unruhen" geprägt, einer
neuen Eiszeit, die bevorsteht. Doch beide Filme zeigen eine
Erschlaffung und Verlangsamung der Lebensverhältnisse,
zeigen eine Gesellschaft in Abwesenheit von Umwälzungen,
Menschen, die sich am Ende unmittelbarer Entbehrungen zurechtfinden
müssen. Die Grundlagen sind gelegt, der Umgang mit Freiheit
statt ihrer Erkämpfung ist das Hauptproblem. "Erst
wenn die Leute keine elementaren Probleme mehr haben, können
sie spirituell werden." schrieb Baghwan, eines der Idole
der 70er. Die Menschen hier haben zuviel Zeit, doch das lässt
sie depressiv werden.
Andere Varianten einer Rückkehr von 70er-Jahre-Atmosphären
bieten (bald) Oskar Roehlers Berliner Wettbewerbsbeitrag DER
ALTE AFFE ANGST und Scorseses GANGS OF NEW YORK. Roehlers
Ehe-Kammerspiel erinnert noch da, wo er sich zuallererst hysterisch
und betont künstlich gibt, an Intensitäten menschlicher
Auseinandersetzung und Selbstzerfleischung, auch an Selbstpreisgaben
eines Regisseurs, wie man sie zuletzt vor über 20 Jahren
in Filmen von Fassbinder und Bergman gesehen hat. Und Scorsese
kehrt zumindest stilistisch wieder zu seinen Filmen der 70er
Jahre zurück. In ihrer Unmittelbarkeit, rau und düster
erinnert GANGS OF NEW YORK eher an Filme wie TAXI DRIVER und
WIE EIN WILDER STIER, verzichtet völlig auf die gefällige
Eleganz, die in GOODFELLAS oder CASINO sogar die Gewalt ansehnlich
erscheinen ließ. So schafft er magische Kinomomente,
die weitaus weniger gefällig sind, als die seines Antipoden
Spielberg. Wo dieser immer mehr fast perfekt die spätklassische
Traumfabrik der 50er und 60er imitiert, entpuppt sich Scorsese
als der wahre Erbe des New Hollywood-Aufbruchs der 70er, indem
er sich bewusst dem Kinoglück, das sich unmittelbar mitteilt,
verweigert, die Menschen entindividualisiert als Produkt einer
Umwelt zeigt.
So entdeckt das Kino gerade die Ausdrucksformen und Stile,
auch die Themen der 70er Jahre für die Gegenwart neu.
Und auch etwa Danny Boyles neues postapokalyptisches Drama
28 TAGE SPÄTER fügt sich haargenau ins Bild. Wieder
einmal könnte die Zukunft des Kinos in seiner Vergangenheit
liegen.
Alle genannten Filme eint dreierlei: Erstens sind sie keineswegs
perfekt, wohl kaum die besten Werke ihrer Regisseure, dabei
intensiv und geprägt von einer ganz eigenen Note, setzen
sie eher auf die Intensität der Erfahrung unmittelbarer
Situationen, als auf funktionierende Plots. Zweitens sind
sie grundsätzlich humorfrei - die in den Kulturwissenschaften
seit einiger Zeit grassierende These vom "Ende der Ironie"
scheint auch im Kino angekommen, das plötzlich in manchen
Filmen eine Sehnsucht nach Ernst an den Tag legt, die auch
in ihrer Biederkeit an die 70er erinnert.
Schließlich kann man eine Rückkehr der Liebe im
Kino beobachten. IT'S ALL ABOUT LOVE ist auch die Formel dafür,
dass jetzt die Welt wieder über Liebe verhandelt wird.
Denn alle Filme (nur GANGS nicht) befassen sich nicht zuletzt
mit der Frage, wie sich in diesen Zeiten über Gefühle
reden läßt, welche Form die Liebe bekommen kann.
Das Gefühl ist da, aber noch scheint es seine Form nicht
zu finden.
Zum Abschluss trotzdem eine kleine Warnung: Die Zeit der
Krise ist die Zeit der "weichen" Themen: Liebe,
Erinnerung, Langsamkeit, Stille - allesamt Ausdrucksformen
jener plötzlichen Erschöpfung, die die Gesellscaften
des Westens heimgesucht hat, fast einer Art Fin-de-Siecle-Dekadenz
nach dem Millennium.
Aber Vorsicht: Auch Gefühle können naiv sein. Zum
Dalai Lama zu gehen, das ist wie im Winter südafrikanische
Erdbeeren zu essen. Es mag sich chic anfühlen, aber es
passt einfach nicht. Vom spirituellen Imperialismus einmal
ganz zu schweigen, der oft hinter unserer Begeisterung für
"das Fremde" steht. A la: "Die Inder hungern
zwar, aber sie kennen coole Meditationstechniken" - wie
schön! Schließlich könnte es sein, dass die
westlichen Menschen einfach nicht für 10 Stunden Meditation
am Tag geeignet sind.
Und die 70er mündeten in die 80er, die schlimmste Dekade
des letzten Jahrhunderts.
Rüdiger Suchsland
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