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27.03.2003
 
 
       

Zeit der weichen Themen
Trance, Trips, Tristesse: Die überraschende Wiederkehr der 70er Jahre

 
 
Ulrich Tukur in SOLARIS
   
 
 
 
 

Film ist Welterzeugung und jeder Kinogang der Eintritt in ein riesiges Paralleluniversum. In der Erfahrung der Masse von Bildern, Atmosphären und Geschichten, die da intensiv auf den Betrachter einstürzt, gibt es kaum etwas Reizvolleres, als das Nebeneinander-Sehen vieler Filme, und die merkwürdigen, überraschenden Gemeinsamkeiten, die sich dabei auftun. Man kann so untergründigen Trends und Tendenzen nachspüren, Seelenlagen und Neugierden eines kollektiven Unterbewussten scheinen sich plötzlich zu eröffnen.
Von vielen bemerkt wurde zuletzt etwa bei der Berlinale 2003 die etwas plump forcierte Politisierung mancher Stoffe und ein grundsätzlicher Hang zur neuen Tristesse in vielen Filmen, der klammheimliche Genuß am (Mit-)Leiden - was gerade in seiner Kombination vielleicht nicht mehr ist, als die etwas elitäre Reaktion der aufgeklärten Mittelschichten des Westens, denen Filmemacher wie Auswahlkommissionen und Journalisten gleichermaßen angehören, auf die plötzlich offensichtlich gewordene "Krise".
Was in diesem Jahr besonders auffällt, ist die Rückkehr von Atmosphären, die lange verschwunden schienen, das Umdefinieren von Stoffen die dem Kinogänger als solche durchaus vertraut sind, im Ergebnis aber der Renaissance eines gar nicht wenige Jahre verschwundenen Lebensgefühls gleichkommen. Zusammengefasst kann man von der überraschenden Wiederkehr der 70er Jahre sprechen.

Etwa in Steven Soderberghs SOLARIS und in IT'S ALL ABOUT LOVE von Thomas Vinterberg. Zwei miteinander auf vielerlei Weise gut korrespondierende Wiederentdeckungen der Langsamkeit im Kino, die nur am Rande eine Geschichte erzählen, einer filmischen Meditation ähnlicher sind, als den Straight Stories, den ironisch-wachen Vexierspielen und den präzisen Psychostudien der letzten Jahre. Die reißerische Montage und die aktivierte Kamera, die in den späten 90ern dominierten, wurde hier abgelöst durch vorsichtige, tastende Bildbewegungen, durch sanfte Übergänge. Ein grundsätzlich beruhigter Blick bringt den Zuschauer in Trance, die Filme entfalten einen leisen Sog, laden zum Wegdriften ein, ähneln den psychodelischen Erfahrungen mancher Drogentrips, wollen genauso im Halbschaf gespürt, wie konzentriert und wach betrachtet werden.

Beide sind Kammerspiele des Nichts: 30 Jahre nach Tarkowskis Bearbeitung von Stanislav Lems längst zum Klassiker avancierter Novelle SOLARIS, bietet Soderbergh eine neue Interpretation des Stoffs ganz aus ganz eigenem Recht. Auf dem Raumschiff "Solaris" materialisieren sich Träume und Bewusstsein der Stationsbewohner, vermischen sich Idee und Wirklichkeit, wird der Gedanke zur Tat. SOLARIS ist eine spirituelle Meditation über Ewigkeit und ewige Wiederkehr, über eine Welt, in der nichts stirbt - und mit diesen Themen durchaus nahe am esoterischen Traum der frühen 70er von Bewusstseinserweiterung und Grenzerfahrungen. Im Unterschied zu Tarkowski setzt Soderbergh Dialoge nur äußerst sparsam ein, versucht eine Atmosphäre zu erzeugen, die an Kubricks "2001" erinnert. Und Soderberghs Raumschiff ist eine klaustrophobisch verengte Zelle inmitten des Nichts, gerade dadurch wird SOLARIS zum konzentrierten philosophischen Essay über die Leere. Und auch in Vinterbergs IT'S ALL ABOUT LOVE sind die engen, dunklen Räume und ihr Kontrast zur trostlosen Weite der Außenwelt nur ein Spiegel der Verengungen, Ängste und Autismen, in denen sich die Charaktere gefangen finden.
Paranoia lautet ein weiteres Stichwort: "Things aren't what they seem." - In SOLARIS ist es der Kurzauftritt der von Ulrich Tukur gespielten Nebenfigur, die in der Art, wie sie den Helden Kelvin um Hilfe bittet, schon früh den paranoiden Takt vorgibt: "Du bist der Einzige, dem ich trauen kann. Aber Du weißt: Sie hören uns zu!" "Sie" sind, was in den 70ern gern "das System" genannt wurde: Individuelle Freiheit scheint durch Gleichschaltung ersetzt, universale Manipulation ist immer und überall, und gerade dem empirischen Augenschein, dem Urinstrument aller Aufklärung ist nicht mehr zu trauen: Denn die Menschen, die man sieht könnten selbst fleischgewordene Puppen (SOLARIS) oder künstlich erzeugte perfekte Doppelgänger (IT'S ALL ABOUT LOVE) sein.

Vinterbergs Film erzählt als Vision eines Sterbenden über "die letzten 7 Tage meines Lebens": Ein Film, der sagen will, dass die wahren Gefühle verschwinden und wir irgendwie unecht leben, dass Computer und Technik die Menschen dumm machen, dies aber mit atemberaubenden, perfekt computerdesignten Bildern tut, die unter anderem Afrikaner fliegen lassen und die schöne Claire Danes vervierfachen - ein visionärer Bildertrip, eine zweistündige psychodelische Traumsequenz.

Depression, Stille, Kälte, gräuliche Farben - man könnte die Grundstimmung in beiden Fällen postapokalyptisch nennen, stünden neue Untergänge nicht andererseits unmittelbar bevor - bei Vinterberg etwa ist die metereologische Lage von "kosmischen Unruhen" geprägt, einer neuen Eiszeit, die bevorsteht. Doch beide Filme zeigen eine Erschlaffung und Verlangsamung der Lebensverhältnisse, zeigen eine Gesellschaft in Abwesenheit von Umwälzungen, Menschen, die sich am Ende unmittelbarer Entbehrungen zurechtfinden müssen. Die Grundlagen sind gelegt, der Umgang mit Freiheit statt ihrer Erkämpfung ist das Hauptproblem. "Erst wenn die Leute keine elementaren Probleme mehr haben, können sie spirituell werden." schrieb Baghwan, eines der Idole der 70er. Die Menschen hier haben zuviel Zeit, doch das lässt sie depressiv werden.

Andere Varianten einer Rückkehr von 70er-Jahre-Atmosphären bieten (bald) Oskar Roehlers Berliner Wettbewerbsbeitrag DER ALTE AFFE ANGST und Scorseses GANGS OF NEW YORK. Roehlers Ehe-Kammerspiel erinnert noch da, wo er sich zuallererst hysterisch und betont künstlich gibt, an Intensitäten menschlicher Auseinandersetzung und Selbstzerfleischung, auch an Selbstpreisgaben eines Regisseurs, wie man sie zuletzt vor über 20 Jahren in Filmen von Fassbinder und Bergman gesehen hat. Und Scorsese kehrt zumindest stilistisch wieder zu seinen Filmen der 70er Jahre zurück. In ihrer Unmittelbarkeit, rau und düster erinnert GANGS OF NEW YORK eher an Filme wie TAXI DRIVER und WIE EIN WILDER STIER, verzichtet völlig auf die gefällige Eleganz, die in GOODFELLAS oder CASINO sogar die Gewalt ansehnlich erscheinen ließ. So schafft er magische Kinomomente, die weitaus weniger gefällig sind, als die seines Antipoden Spielberg. Wo dieser immer mehr fast perfekt die spätklassische Traumfabrik der 50er und 60er imitiert, entpuppt sich Scorsese als der wahre Erbe des New Hollywood-Aufbruchs der 70er, indem er sich bewusst dem Kinoglück, das sich unmittelbar mitteilt, verweigert, die Menschen entindividualisiert als Produkt einer Umwelt zeigt.

So entdeckt das Kino gerade die Ausdrucksformen und Stile, auch die Themen der 70er Jahre für die Gegenwart neu. Und auch etwa Danny Boyles neues postapokalyptisches Drama 28 TAGE SPÄTER fügt sich haargenau ins Bild. Wieder einmal könnte die Zukunft des Kinos in seiner Vergangenheit liegen.
Alle genannten Filme eint dreierlei: Erstens sind sie keineswegs perfekt, wohl kaum die besten Werke ihrer Regisseure, dabei intensiv und geprägt von einer ganz eigenen Note, setzen sie eher auf die Intensität der Erfahrung unmittelbarer Situationen, als auf funktionierende Plots. Zweitens sind sie grundsätzlich humorfrei - die in den Kulturwissenschaften seit einiger Zeit grassierende These vom "Ende der Ironie" scheint auch im Kino angekommen, das plötzlich in manchen Filmen eine Sehnsucht nach Ernst an den Tag legt, die auch in ihrer Biederkeit an die 70er erinnert.
Schließlich kann man eine Rückkehr der Liebe im Kino beobachten. IT'S ALL ABOUT LOVE ist auch die Formel dafür, dass jetzt die Welt wieder über Liebe verhandelt wird. Denn alle Filme (nur GANGS nicht) befassen sich nicht zuletzt mit der Frage, wie sich in diesen Zeiten über Gefühle reden läßt, welche Form die Liebe bekommen kann. Das Gefühl ist da, aber noch scheint es seine Form nicht zu finden.

Zum Abschluss trotzdem eine kleine Warnung: Die Zeit der Krise ist die Zeit der "weichen" Themen: Liebe, Erinnerung, Langsamkeit, Stille - allesamt Ausdrucksformen jener plötzlichen Erschöpfung, die die Gesellscaften des Westens heimgesucht hat, fast einer Art Fin-de-Siecle-Dekadenz nach dem Millennium.
Aber Vorsicht: Auch Gefühle können naiv sein. Zum Dalai Lama zu gehen, das ist wie im Winter südafrikanische Erdbeeren zu essen. Es mag sich chic anfühlen, aber es passt einfach nicht. Vom spirituellen Imperialismus einmal ganz zu schweigen, der oft hinter unserer Begeisterung für "das Fremde" steht. A la: "Die Inder hungern zwar, aber sie kennen coole Meditationstechniken" - wie schön! Schließlich könnte es sein, dass die westlichen Menschen einfach nicht für 10 Stunden Meditation am Tag geeignet sind.
Und die 70er mündeten in die 80er, die schlimmste Dekade des letzten Jahrhunderts.

Rüdiger Suchsland

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