Zhao ist ein unverbesserlicher Optimist, der grundsätzlich
nicht weiter sieht als bis zum Tellerrand - alles andere wäre
auch entsetzlich deprimierend. Und so schwindelt der pensionierte
Fabrikarbeiter einer geldgierigen Heiratskandidatin ohne mit
der Wimper zu zucken vor, er sei ein wohlhabender Mann. Um
das Geld für die Hochzeit aufzutreiben, verwandelt er
das Wrack eines Autobusses mit viel rosa Farbe in ein romantisches
Stundenhotel für Verliebte - in Beijing ein lukratives
Geschäft.
Figuren wie Zhao aus Zhang Yimous diese Woche startendem
Film HAPPY TIMES sind
die neuen Helden des chinesischen Kinos. Wie eine Bombe ist
der Kapitalismus ins diktatorische China eingeschlagen, und
eine ungeheure Urbanisierungswelle hat das Leben von Millionen
Menschen umgekrempelt. Sie hausen in den Armenquartieren der
Städte und schlagen sich mit illegalen Jobs oder dubiosen
Geschäftsideen irgendwie durch.
Unerhört gesellschaftskritisch kommen Chinas Filmemacher
derzeit daher. Bereits nach dem Ende der Kulturrevolution
entstanden im günstigen Wind des chinesischen Frühlings
Filme, die aktuelle gesellschaftliche Missstände in Geschichten
aus der Vergangenheit verpackten. Zu den ersten Absolventen
der 1978 gegründeten Pekinger Filmakademie gehören
inzwischen weltweit anerkannte Regisseure wie Zhang Yimou
und Chen Kaige, die sogenannte Fünfte Generation chinesischer
Filmemacher. Bereits 1989 machte das Massaker von Platz des
Himmlischen Friedens der neungewonnenen Freiheit ein Ende.
Doch das Autorenkino in China ist nicht so leicht totzukriegen.
Während international bekannte Regisseure derzeit ihre
Filme überwiegend im Ausland drehen oder finanzieren,
profitieren noch unbekannte Filmemacher von der billigeren
Digitaltechnik. Und so sind derzeit im Reich der Mitte viele
idealistische jungen Filmschaffende am Werk. Statt ihren Landsleuten
Kinomärchen als neunzigminütige Fluchten aus der
tristen Realität anzubieten, erzählen die neue und
die alte Generation chinesischer Autorenfilmer Geschichten
von kleinen Leuten, die mit Humor und Phantasie dem bedrückenden
Alltag ein Schnippchen schlagen.
Zhao, genial improvisiert von Chinas Starkomiker Zhao Benshan,
beispielsweise hat schon bald die Stieftochter seiner Verlobten
am Hals, ein blindes junges Mädchen, dem er in seinem
Happy Times Hotel einen Job als Masseuse verschaffen soll.
Dummerweise wird seine lukrative Einnahmequelle zum Schrottplatz
entsorgt. Und so zimmert er mit Hilfe seiner Freunde in einer
leeren Fabrikhalle einen fiktiven Massagesalon für Wu
Ying zusammen. Obwohl das blinde Mädchen die gutgemeinte
Intrige bald durchschaut, spielt sie die Scharade mit, bis
sie sich schließlich allein auf den Weg in eine ungewisse
Zukunft macht.
Ebenso poetisch wie komisch ist auch der Beitrag 100 FLOWERS
HIDDEN DEEP von Chen Kaige, der in dem Kurzfilmreigen TEN
MINUTES OLDER - THE TRUMPET zu sehen ist. Kaige erzählt
die Geschichte eines freundlichen alten Mannes, der ein Umzugunternehmen
engagiert. Doch vor Ort müssen die Männer feststellen,
dass das Haus des alten Herren längst dem Boden gleichgemacht
wurde - ein Umstand, den der Alte beharrlich ignoriert. Doch
dann erweist sich die fiktive Realität des verschrobenen
Kunden als höchst ansteckend.
In eine Traumwelt flüchten sich auch CHEN MO UND MEITING,
die Protagonisten von Liu Haos erstem Spielfilm, der seit
letzter Woche bei uns läuft. Der Blumenverkäufer
ohne Lizenz lernt bei der Flucht vor der Polizei eine Friseuse
kennen. Als die junge Frau gefeuert wird, schlüpft sie
bei ihm unter. In ihrer Sehnsucht nach Geborgenheit schließen
die zwei einen ungewöhnlichen Pakt: Den einen Tag spielt
Meiting die liebevolle Mutter für Chen Mo, am nächsten
Tag übernimmt er die Rolle des fürsorglichen Vaters.
Auch hier wird die bewusste Wirklichkeitsflucht zur positiven
Kraft.
Happy Ends sind in den Drehbüchern aus dem Reich der
Mitte derzeit jedoch nicht vorgesehen. Gestohlene Momente
eines Glücks auf Zeit sind alles, was die kleinen Leute
in China derzeit nicht vom Leben erhoffen können. Eine
weise Einsicht, die nicht nur in China Gültigkeit hat,
sondern vielleicht überall auf der Welt.
Nani Fux
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