Das Festival am Schweizer Ufer des Lago Maggiore will für
jeden Geschmack etwas bieten. Während Cineasten tagsüber
im Wettbewerb und anderen Sektionen mehr oder weniger gelungene
Filmkunst vorgesetzt wird, soll am Abend auf der Piazza Grande,
zweifellos einem der schönsten Open-Air Kinos, großes
Unterhaltungskino für Einheimische und Touristen geboten
werden. Letzteres gelang in diesem Jahr allerdings nur selten,
denn das Abendprogramm passte sich weitgehend dem widrigen
Wetter an.
Hätte die Eröffnung mit Oliver Parkers schwungvoller
und wunderbar ironischer, allerdings auch harmloser Adaption
von Oscar Wildes "The Importance of Being Earnest"
eine stimmungsvolle Open-Air-Premiere verdient, so passten
wiederholte Regengüsse durchaus zu Pavel Lounguines im
Stile von "Tatort"-Folgen inszeniertem Politthriller
UN NOUVEAU RUSSE oder zu Takashi Miikes enttäuschendem
futuristischen Action-Film DEAD OR ALIVE FINAL. Von der stilistischen
Brillanz, die AUDITION auszeichnet, ist im letzten Werk des
Japaners nichts zu sehen. Schnell heruntergedreht wurde diese
Geschichte vom Kampf eines Replikanten gegen einen die Bevölkerungsentwicklung
kontrollierenden Diktators, und Miike recycelt uninspiriert
Motive nicht nur aus BLADE RUNNER und MATRIX.
Als noch enttäuschender erwies sich auf der Piazza
nur Marc Evans MY LITTLE EYE, in dem der Waliser aus einer
"Big Brother"- Situation mittels terroristischer
Bild- und Tongestaltung einen reißerischen Schocker
entwickelt. Zunehmend bedroht fühlen sich bei Evans fünf
junge Menschen, die sich für 1 Million Dollar sechs Monate
in einem abgelegenen Haus einsperren und dabei ständig
von Überwachungskameras filmen lassen. Im Stile von BLAIR
WITCH PROJECT soll dabei die ausschließliche Verwendung
von Aufnahmen dieser Videokameras Evans Film Authentizität
verleihen.
Mit besserem Wetter gegen Mitte des Festivals steigerte sich
dann aber diese Programmschiene. So gelang Stephen Beckner
und Mike Huber mit BIRDSEYE mmerhin eine sehr einfallsreiche,
wenn auch in seiner Videoästhetik kaum kinotaugliche
fingierte Dokumentation, in der im Stile von Woody Allens
ZELIG in den USA ein Sheriff verbissen nach dem verschwundenen
Schweizer Urs Vogelaug fahndet. Christopher Nolan dagegen
legte mit INSOMNIA, der mit 10800 Besuchern neuen Piazza-Rekord
erzielte, zumindest einen routiniert inszenierten, allerdings
überraschend geradlinigen Polizistenthriller vor, dem
die unverbrauchte Kulisse Alaskas und ein brillanter Al Pacino
als ambivalenter Cop einigen Reiz verleihen.
Das allerdings wieder wegen Regens in die Säle verlegte
Prunkstück dieser Sektion des Festivals war aber Gurinder
Chadhas multikulturelle Komödie BEND IT LIKE BECKHAM,
die auch mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Eine
Tochter, deren ganze Liebe dem Fußball gilt, stellt
schon für die englische Mutter ein Problem dar, für
eine traditionelle Inderin ist eine Zukunft ihrer Tochter
als Profifußballerin aber undenkbar. Wie in EAST IS
EAST oder MY BEAUTIFUL LAUNDRETTE prallen hier indische Traditionen
und das moderne England aufeinander, doch alles löst
sich in diesem tempo- und einfallsreichen Feelgood-Movie in
Wohlgefallen auf. Die Schärfe mag Chadhas Film fehlen,
zu leicht mag die Problemlösung vonstatten gehen, doch
dem Glücksgefühl, das BEND IT LIKE BECKHAM hinterlässt
können diese Einwände kaum etwas anhaben.
Dominierten auf der Piazza mit Ausnahme von letztgenanntem
die Männerfilme, so standen im Zentrum der meisten der
22 großteils sehr starken Wettbewerbsfilme Frauen.
So erzählt der Iraner Rassul Sadr-Ameli in ICH HEISSE
TARANEH UND BIN 15 JAHRE ALT in klarer Bildsprache von den
Schwierigkeiten einer schwangeren jungen Frau in Teheran.
Der am Anfang straff inszenierte Film verliert aber gegen
Ende durch einen allzu nüchternen und einfallslosen Erzählstil
an Eindringlichkeit.
Schwanger und unsicher, wie es nun weitergehen soll, ist auch
die 20-jährige Hauptfigur in Michael Hofmanns SOPHIIIIE!.
In ihrer Verzweiflung stürzt sich die von Katharina Schüttler
großartig gespielte junge Frau in einen selbstzerstörerischen
Trip durchs nächtliche Hamburg. Hofmann folgt ihr mit
der digitalen Videokamera immer hautnah durch Bars und Nachtclubs.
Drastische Szenen mit Vergewaltigungen und Alkoholexzessen
fehlen dabei nicht, aber gerade dadurch entsteht in diesem
Film, der sowohl in seiner Unmittelbarkeit und Authentizität
als auch in seiner menschlichen Wärme an die Werke Andreas
Dresens erinnert, ein eindringliches Bild der schwierigen
Situation der Protagonistin.
Die etwa gleich alte Muriel dagegen strebt in MEISJE (EIN
MÄDCHEN) nach Unabhängigkeit, verlässt - gegen
den Willen der Mutter - ihre Eltern und bezieht eine eigene
Wohnung bei der 37-jährigen Laura, die sich nach einem
Kind sehnt. Psychologisch sehr genau und einfühlsam zeichnet
die Belgierin Dorothee Van den Berghe in ihrem Debüt
diese drei Frauen unterschiedlichen Alters und lässt
ihnen in langen Einstellungen viel Zeit und Raum, ihre Gefühle
auszudrücken.
Ausbrechen aus dem monotonen Alltag wollen wiederum zwei Punk-Ladies
in Buenos Aires und nehmen die übergewichtige Marcia
kurzerhand mit auf ihren Ausflug ans Meer und weiter zu einer
alten Tante. Wunderbar lakonisch mit teils komischen teils
berührenden Szenen plädiert Diego Lerman in seinem
grobkörnigem Schwarzweiss gefilmten Debüt TAN DE
REPENTE (UND DANN GANZ PLÖTZLICH) für den Mut, sich
auf das Abenteuer "Leben", auf neue Begegnungen
und Erfahrungen einzulassen.
Ähnlich ist die Ausgangssituation in SZEP NAPOK (VERGNÜGLICHE
TAGE) des Ungarn Kornel Mundruczó, doch der Titel ist
hier nur ironisch zu verstehen, denn fröhliche oder glückversprechende
Momente gibt es für die drei jugendlichen Hauptfiguren
nicht. Wie in den Waschmaschinen im Waschsalon, in dem Maria
arbeitet, werden sie herumgeschleudert und drehen sich doch
nur im Kreis. Trostlosigkeit vermittelt die ständige
Nähe der Kamera, die keinen Blick in die Weite zulässt
und kaum einmal einen Himmel zeigt. Trostlos sind auch die
Schauplätze vom Waschsalon über die engen Wohnungen
bis zu einem Parkplatz. Musik erklingt fast nur über
Mayas Disc-Man, mit dem sie sich in eine bessere Welt zu flüchten
scheint, doch jedes Verlangen nach Nähe kippt in Aggressivität.
In seiner Stille, seinen kargen Bildern und der Natürlichkeit
der SchauspielerInnen gelingen Mundruczó in seinem
zweiten Spielfilm, der in seiner Körperlichkeit und in
seinem radikalen sozialen Realismus, der keinen Blick auf
die Umwelt öffnet und sich konsequent auf die Hauptpersonen
konzentriert, an die Werke der belgischen Brüder Dardenne
erinnert, sehr dichte Momente der von Beziehungsunfähigkeit
und Ausweglosigkeit gekennzeichneten ungarischen Jugend.
Auf der Suche nach ihrem Platz im Leben ist die 25-jährige
Anne, die in Alain Raousts LA CAGE nach einer mehrjährigen
Haftstrafe aus dem Gefängnis entlassen wird. Doch wahre
Freiheit erlangt sie erst, wenn der Vater des von ihr ermordeten
Kindes ihr vergibt. Welche Überwindung Anne dieser Weg
kostet und wieviel Zeit Verzeihung benötigt, wird dabei
durch die langen, fast wortlosen Einstellungen erfahrbar.
Noch strenger als Raoust inszenierte Iain Dilthey seinen
Abschlussfilm für die Filmakademie Baden-Württemberg.
Zwischen dem Pfarrersehepaar in DAS VERLANGEN stört oft
nur das Ticken der Küchenuhr die Stille. Wie Michael
Haneke schaut auch Dilthey unerbittlich und unerträglich
lange hin. Unbewegte Einstellungen, die minimalistische Ausstattung
und der Verzicht auf Musik betonen die Beherrschtheit und
Starrheit der Figuren. Auf Dauer ist diese Triebunterdrückung
aber nicht auszuhalten, und so brechen die Gefühle bei
der Pfarrersfrau schliesslich mit umso grösserer Gewalt
hervor.
Erinnert Diltheys Tragödie in Milieu und Kargheit an
die Filme des Dänen Carl Theodor Dreyer, so schlug gerade
der Wettbewerbsbeitrag aus diesem skandinavischen Land heitere
Töne an. Um Beruf, Tochter, Ehemann und ihren todkranken
Vater möchte sich Nete kümmern, doch schliesslich
herrscht in Jesper W. Nielsens OKAY, der durch sein hohes
Tempo und seine Liebe zu den hinreißend gezeichneten
Figuren zu begeistern vermag, nur noch Chaos.
Männer spielten dagegen fast nur in Mark Romaneks konzentriertem
Psychogramm eines einsamen Fotolaboranten (ONE HOUR PHOTO)
und in Gus van Sants GERRY Hauptrollen. Zur allgemeinen Überraschung
legte van Sant, der sich mit GOOD WILL HUNTING und FINDING
FORRESTER dem glatten Mainstream-Kino zuwandte, mit seinem
neuesten Film den formal radikalsten und kühnsten Wettbewerbsbeitrag
vor. Der Amerikaner lässt in diesem reinen Open-Air-Film
Matt Damon und Casey Affleck mit dem Wagen in die Wüste
fahren. Dort steigen sie aus und wandern 100 Minuten durch
die immer lebensfeindlicher werdende Landschaft. Grandios
sind die Totalen mit brauner Wüste und blauem Himmel,
wunderbar stimmig Arvo Pärts Musik und der langsame,
sehr meditative Erzählrhythmus lässt den Zuschauer
zunächst in diesem Filmgedicht versinken. Die filmsprachliche
Präzision ist unübersehbar und doch, da kaum gesprochen
wird, fühlt sich der Zuschauer mit Fortdauer des Films
mit den Bildern, die ihm förmlich zur freien Assoziation
vor die Augen geworfen werden, allein gelassen. Ein hermetisches
Werk, bei dem Qualitäten und Schwächen wohl erst
bei mehrmaliger Betrachtung sichtbar werden.
Walter Gasperi |