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15.08.2002
 
 
     

Schwaches Piazzaprogramm, starker Wettbewerb
Das 55. Internationale Filmfestival von Locarno

 
 
 
 
 

Das Festival am Schweizer Ufer des Lago Maggiore will für jeden Geschmack etwas bieten. Während Cineasten tagsüber im Wettbewerb und anderen Sektionen mehr oder weniger gelungene Filmkunst vorgesetzt wird, soll am Abend auf der Piazza Grande, zweifellos einem der schönsten Open-Air Kinos, großes Unterhaltungskino für Einheimische und Touristen geboten werden. Letzteres gelang in diesem Jahr allerdings nur selten, denn das Abendprogramm passte sich weitgehend dem widrigen Wetter an.

Hätte die Eröffnung mit Oliver Parkers schwungvoller und wunderbar ironischer, allerdings auch harmloser Adaption von Oscar Wildes "The Importance of Being Earnest" eine stimmungsvolle Open-Air-Premiere verdient, so passten wiederholte Regengüsse durchaus zu Pavel Lounguines im Stile von "Tatort"-Folgen inszeniertem Politthriller UN NOUVEAU RUSSE oder zu Takashi Miikes enttäuschendem futuristischen Action-Film DEAD OR ALIVE FINAL. Von der stilistischen Brillanz, die AUDITION auszeichnet, ist im letzten Werk des Japaners nichts zu sehen. Schnell heruntergedreht wurde diese Geschichte vom Kampf eines Replikanten gegen einen die Bevölkerungsentwicklung kontrollierenden Diktators, und Miike recycelt uninspiriert Motive nicht nur aus BLADE RUNNER und MATRIX.

Als noch enttäuschender erwies sich auf der Piazza nur Marc Evans MY LITTLE EYE, in dem der Waliser aus einer "Big Brother"- Situation mittels terroristischer Bild- und Tongestaltung einen reißerischen Schocker entwickelt. Zunehmend bedroht fühlen sich bei Evans fünf junge Menschen, die sich für 1 Million Dollar sechs Monate in einem abgelegenen Haus einsperren und dabei ständig von Überwachungskameras filmen lassen. Im Stile von BLAIR WITCH PROJECT soll dabei die ausschließliche Verwendung von Aufnahmen dieser Videokameras Evans Film Authentizität verleihen.

Mit besserem Wetter gegen Mitte des Festivals steigerte sich dann aber diese Programmschiene. So gelang Stephen Beckner und Mike Huber mit BIRDSEYE mmerhin eine sehr einfallsreiche, wenn auch in seiner Videoästhetik kaum kinotaugliche fingierte Dokumentation, in der im Stile von Woody Allens ZELIG in den USA ein Sheriff verbissen nach dem verschwundenen Schweizer Urs Vogelaug fahndet. Christopher Nolan dagegen legte mit INSOMNIA, der mit 10800 Besuchern neuen Piazza-Rekord erzielte, zumindest einen routiniert inszenierten, allerdings überraschend geradlinigen Polizistenthriller vor, dem die unverbrauchte Kulisse Alaskas und ein brillanter Al Pacino als ambivalenter Cop einigen Reiz verleihen.

Das allerdings wieder wegen Regens in die Säle verlegte Prunkstück dieser Sektion des Festivals war aber Gurinder Chadhas multikulturelle Komödie BEND IT LIKE BECKHAM, die auch mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Eine Tochter, deren ganze Liebe dem Fußball gilt, stellt schon für die englische Mutter ein Problem dar, für eine traditionelle Inderin ist eine Zukunft ihrer Tochter als Profifußballerin aber undenkbar. Wie in EAST IS EAST oder MY BEAUTIFUL LAUNDRETTE prallen hier indische Traditionen und das moderne England aufeinander, doch alles löst sich in diesem tempo- und einfallsreichen Feelgood-Movie in Wohlgefallen auf. Die Schärfe mag Chadhas Film fehlen, zu leicht mag die Problemlösung vonstatten gehen, doch dem Glücksgefühl, das BEND IT LIKE BECKHAM hinterlässt können diese Einwände kaum etwas anhaben.

Dominierten auf der Piazza mit Ausnahme von letztgenanntem die Männerfilme, so standen im Zentrum der meisten der 22 großteils sehr starken Wettbewerbsfilme Frauen.
So erzählt der Iraner Rassul Sadr-Ameli in ICH HEISSE TARANEH UND BIN 15 JAHRE ALT in klarer Bildsprache von den Schwierigkeiten einer schwangeren jungen Frau in Teheran. Der am Anfang straff inszenierte Film verliert aber gegen Ende durch einen allzu nüchternen und einfallslosen Erzählstil an Eindringlichkeit.
Schwanger und unsicher, wie es nun weitergehen soll, ist auch die 20-jährige Hauptfigur in Michael Hofmanns SOPHIIIIE!. In ihrer Verzweiflung stürzt sich die von Katharina Schüttler großartig gespielte junge Frau in einen selbstzerstörerischen Trip durchs nächtliche Hamburg. Hofmann folgt ihr mit der digitalen Videokamera immer hautnah durch Bars und Nachtclubs. Drastische Szenen mit Vergewaltigungen und Alkoholexzessen fehlen dabei nicht, aber gerade dadurch entsteht in diesem Film, der sowohl in seiner Unmittelbarkeit und Authentizität als auch in seiner menschlichen Wärme an die Werke Andreas Dresens erinnert, ein eindringliches Bild der schwierigen Situation der Protagonistin.

Die etwa gleich alte Muriel dagegen strebt in MEISJE (EIN MÄDCHEN) nach Unabhängigkeit, verlässt - gegen den Willen der Mutter - ihre Eltern und bezieht eine eigene Wohnung bei der 37-jährigen Laura, die sich nach einem Kind sehnt. Psychologisch sehr genau und einfühlsam zeichnet die Belgierin Dorothee Van den Berghe in ihrem Debüt diese drei Frauen unterschiedlichen Alters und lässt ihnen in langen Einstellungen viel Zeit und Raum, ihre Gefühle auszudrücken.
Ausbrechen aus dem monotonen Alltag wollen wiederum zwei Punk-Ladies in Buenos Aires und nehmen die übergewichtige Marcia kurzerhand mit auf ihren Ausflug ans Meer und weiter zu einer alten Tante. Wunderbar lakonisch mit teils komischen teils berührenden Szenen plädiert Diego Lerman in seinem grobkörnigem Schwarzweiss gefilmten Debüt TAN DE REPENTE (UND DANN GANZ PLÖTZLICH) für den Mut, sich auf das Abenteuer "Leben", auf neue Begegnungen und Erfahrungen einzulassen.

Ähnlich ist die Ausgangssituation in SZEP NAPOK (VERGNÜGLICHE TAGE) des Ungarn Kornel Mundruczó, doch der Titel ist hier nur ironisch zu verstehen, denn fröhliche oder glückversprechende Momente gibt es für die drei jugendlichen Hauptfiguren nicht. Wie in den Waschmaschinen im Waschsalon, in dem Maria arbeitet, werden sie herumgeschleudert und drehen sich doch nur im Kreis. Trostlosigkeit vermittelt die ständige Nähe der Kamera, die keinen Blick in die Weite zulässt und kaum einmal einen Himmel zeigt. Trostlos sind auch die Schauplätze vom Waschsalon über die engen Wohnungen bis zu einem Parkplatz. Musik erklingt fast nur über Mayas Disc-Man, mit dem sie sich in eine bessere Welt zu flüchten scheint, doch jedes Verlangen nach Nähe kippt in Aggressivität. In seiner Stille, seinen kargen Bildern und der Natürlichkeit der SchauspielerInnen gelingen Mundruczó in seinem zweiten Spielfilm, der in seiner Körperlichkeit und in seinem radikalen sozialen Realismus, der keinen Blick auf die Umwelt öffnet und sich konsequent auf die Hauptpersonen konzentriert, an die Werke der belgischen Brüder Dardenne erinnert, sehr dichte Momente der von Beziehungsunfähigkeit und Ausweglosigkeit gekennzeichneten ungarischen Jugend.

Auf der Suche nach ihrem Platz im Leben ist die 25-jährige Anne, die in Alain Raousts LA CAGE nach einer mehrjährigen Haftstrafe aus dem Gefängnis entlassen wird. Doch wahre Freiheit erlangt sie erst, wenn der Vater des von ihr ermordeten Kindes ihr vergibt. Welche Überwindung Anne dieser Weg kostet und wieviel Zeit Verzeihung benötigt, wird dabei durch die langen, fast wortlosen Einstellungen erfahrbar.

Noch strenger als Raoust inszenierte Iain Dilthey seinen Abschlussfilm für die Filmakademie Baden-Württemberg. Zwischen dem Pfarrersehepaar in DAS VERLANGEN stört oft nur das Ticken der Küchenuhr die Stille. Wie Michael Haneke schaut auch Dilthey unerbittlich und unerträglich lange hin. Unbewegte Einstellungen, die minimalistische Ausstattung und der Verzicht auf Musik betonen die Beherrschtheit und Starrheit der Figuren. Auf Dauer ist diese Triebunterdrückung aber nicht auszuhalten, und so brechen die Gefühle bei der Pfarrersfrau schliesslich mit umso grösserer Gewalt hervor.

Erinnert Diltheys Tragödie in Milieu und Kargheit an die Filme des Dänen Carl Theodor Dreyer, so schlug gerade der Wettbewerbsbeitrag aus diesem skandinavischen Land heitere Töne an. Um Beruf, Tochter, Ehemann und ihren todkranken Vater möchte sich Nete kümmern, doch schliesslich herrscht in Jesper W. Nielsens OKAY, der durch sein hohes Tempo und seine Liebe zu den hinreißend gezeichneten Figuren zu begeistern vermag, nur noch Chaos.

Männer spielten dagegen fast nur in Mark Romaneks konzentriertem Psychogramm eines einsamen Fotolaboranten (ONE HOUR PHOTO) und in Gus van Sants GERRY Hauptrollen. Zur allgemeinen Überraschung legte van Sant, der sich mit GOOD WILL HUNTING und FINDING FORRESTER dem glatten Mainstream-Kino zuwandte, mit seinem neuesten Film den formal radikalsten und kühnsten Wettbewerbsbeitrag vor. Der Amerikaner lässt in diesem reinen Open-Air-Film Matt Damon und Casey Affleck mit dem Wagen in die Wüste fahren. Dort steigen sie aus und wandern 100 Minuten durch die immer lebensfeindlicher werdende Landschaft. Grandios sind die Totalen mit brauner Wüste und blauem Himmel, wunderbar stimmig Arvo Pärts Musik und der langsame, sehr meditative Erzählrhythmus lässt den Zuschauer zunächst in diesem Filmgedicht versinken. Die filmsprachliche Präzision ist unübersehbar und doch, da kaum gesprochen wird, fühlt sich der Zuschauer mit Fortdauer des Films mit den Bildern, die ihm förmlich zur freien Assoziation vor die Augen geworfen werden, allein gelassen. Ein hermetisches Werk, bei dem Qualitäten und Schwächen wohl erst bei mehrmaliger Betrachtung sichtbar werden.

Walter Gasperi
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