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25.04.2002
 
 
       

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David Finchers audiovisuelle Angriffe auf das Kinopublikum

 
 
Frank Schnelle (Hrsg.) David Fincher
Hardcover, EUR 19,90, Bertz
   
 
 
 
 

Wenn die Leute einem zuhören sollen, reicht es nicht, ihnen einfach auf die Schulter zu tippen. Man muss sie mit einem Vorschlaghammer treffen. Erst dann können sie sich ihrer Aufmerksamkeit gewiss sein.
John Doe in SIEBEN

Die 90er Jahre brachten eine neue Generation von Filmemachern mit sich, denn der Strukturwandel des Fernsehens hin zu privaten Anbietern, Spartenkanälen und Digitalisierung und nicht zuletzt die rasanten Entwicklungen des World Wide Webs beeinflussten nachhaltig die Ästhetik des Spielfilms. Im Kino sehen wir mittlerweile immer mehr Filme, deren Regisseure mit Werbespots und Musikvideos ihre Karriere begonnen haben und oftmals verdanken wir ihnen die seltener werdenden Kinoerlebnisse, in denen wir uns vollkommen der Audiovision hingeben, im Sog der Bilder und Töne. David Fincher ist sicherlich einer der prominentesten und begabtesten Vertreter dieses neuen Kinos, das sich nicht mehr an überkommene dramaturgische Muster klammert, sondern auf spielerische und manchmal atemberaubende Art und Weise dem Medium Kino auch im Zeitalter des digitalen Home Cinema seine Legitimation verschafft. Obwohl die Filmographie Finchers erst fünf "richtige" Spielfilme umfasst, wird ihm heute eine solch breite Aufmerksamkeit gewidmet, dass man ihn zweifellos als einen der zur Zeit bedeutendsten Regisseure bezeichnen darf. Der Medienrummel und die teilweise überzogenen Erwartungshaltungen in Bezug auf den Start von "Panic Room" haben das erneut gezeigt.

So wurde es wohl Zeit, dass sich auch die Filmliteratur mit dem Phänomen Fincher auseinandersetzt und einmal mehr ist es der Bertz-Verlag, der mit einem fundierten Sammelband zum Oeuvre des Regisseurs die Messlatte setzt. Der elfte Band der "film"-Reihe, herausgegeben von Frank Schnelle, nähert sich Fincher in Essays zu seinem Gesamtwerk und seinen Spot- und Clip-Produktionen, sowie in ausführlichen Einzelbetrachtungen seiner Spielfilme, ergänzt durch detaillierte Filmo- und Bibliografien. Die passende Eröffnung bildet hierzu ein Beitrag zu Finchers Vorspann-Philosophie, denn die Filmanfänge von "Seven", "Fight Club" und "Panic Room" dürften zu den innovativsten Main Titles seit dem Schaffen von Saul Bass gelten. David Fincher ist sich der immensen Bedeutung des Vorspanns für die Filmrezeption bewusst, als Experte für filmische Kurzformen wie Werbespots oder Musikvideos verliert er keine Zeit und zieht den Zuschauer von Anfang an in seinen Bann. Die Stories seiner Filme zeichnen sich meist durch komplexe Konstruktionen mit sehr künstlichen Momenten der Auflösung aus, sei es das unfreiwillige Spiel des Nicholas Van Orton in "The Game", die Mordserie nach der Vorlage der Todsünden in "Seven" oder die dem Zuschauer lange vorenthaltene Schizophrenie des Protagonisten in "Fight Club". Im Buch wird die Vorliebe des Regisseurs für solche Geschichten unter den Stichworten Tricks, Täuschungen und Doppelstrategien treffend zusammengefasst. Zwei Interviews reflektieren die Entstehungsprozesse von "The Game" und "Fight Club" und stellen eine bislang offenbar rare Textquelle für die Intentionen und Hintergründe des filmischen Schaffens David Finchers dar, der offensichtlich nicht besonders an Interviews interessiert ist. Lars-Olav Beier erhellt in seinem Beitrag zu den Spots und Clips die Wurzeln der Fincher-Ästhetik, dessen Filmografie dieser Kurzformen sich wie ein Who-is-Who der Popkultur der 80er und 90er liest: Sting, Paula Abdul, Aerosmith, Madonna, Billy Idol, George Michael, Iggy Pop, Michael Jackson, The Rolling Stones auf der Seite der Popstars und AT&T, Budweiser, Chanel, Coca-Cola, Converse, Honda, Levi's, Nike, Pepsi als globale Trademarks. Die Beiträge zu den Spielfilmen gehen den Figuren, der Erzählstruktur und den Motiven näher auf den Grund, unterstützt durch zahlreiche Bildsequenzen mit insgesamt 774 Abbildungen, die gerade für das Verständnis eines so visuell geprägten Gesamtwerks von fundamentaler Bedeutung sind.

Bei der Lektüre des Buches vergegenwärtigt man sich immer wieder einen Gedanken, der einem nach dem Betrachten eines Fincher-Films verfolgt, nämlich die Verwunderung darüber, wie sehr dieser Regisseur mich als Zuschauer im Griff hat. Diese Erfahrung geht über ein Spannungs- oder Thrill-Erlebnis im üblichen Maße hinaus, die Machart dieser Filme lässt einen Sog entstehen, dem man sich kaum entziehen kann, weder psychisch noch physisch. Denn was seine Filme letztlich erzählen, ist ja gar nicht so sonderlich innovativ oder spannend - siehe jüngst in "Panic Room"-, es liegt vielmehr daran, wie er es umsetzt. Dies unterscheidet ihn schließlich auch von den großen Filmemachern der vergangenen Jahrzehnte und macht ihn zu einem Regisseur, der absolut auf der Höhe der Zeit ist. Einer Zeit, in der alle Geschichten längst erzählt sind und in der Kino ein Spiel mit den Zeichen und mit dem Zuschauer sein darf.

Michael Staiger

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