Wenn die Leute einem zuhören sollen, reicht es
nicht, ihnen einfach auf die Schulter zu tippen. Man muss
sie mit einem Vorschlaghammer treffen. Erst dann können
sie sich ihrer Aufmerksamkeit gewiss sein.
John Doe in SIEBEN
Die 90er Jahre brachten eine neue Generation von Filmemachern
mit sich, denn der Strukturwandel des Fernsehens hin zu privaten
Anbietern, Spartenkanälen und Digitalisierung und nicht
zuletzt die rasanten Entwicklungen des World Wide Webs beeinflussten
nachhaltig die Ästhetik des Spielfilms. Im Kino sehen
wir mittlerweile immer mehr Filme, deren Regisseure mit Werbespots
und Musikvideos ihre Karriere begonnen haben und oftmals verdanken
wir ihnen die seltener werdenden Kinoerlebnisse, in denen
wir uns vollkommen der Audiovision hingeben, im Sog der Bilder
und Töne. David Fincher ist sicherlich einer der prominentesten
und begabtesten Vertreter dieses neuen Kinos, das sich nicht
mehr an überkommene dramaturgische Muster klammert, sondern
auf spielerische und manchmal atemberaubende Art und Weise
dem Medium Kino auch im Zeitalter des digitalen Home Cinema
seine Legitimation verschafft. Obwohl die Filmographie Finchers
erst fünf "richtige" Spielfilme umfasst, wird
ihm heute eine solch breite Aufmerksamkeit gewidmet, dass
man ihn zweifellos als einen der zur Zeit bedeutendsten Regisseure
bezeichnen darf. Der Medienrummel und die teilweise überzogenen
Erwartungshaltungen in Bezug auf den Start von "Panic
Room" haben das erneut gezeigt.
So wurde es wohl Zeit, dass sich auch die Filmliteratur mit
dem Phänomen Fincher auseinandersetzt und einmal mehr
ist es der Bertz-Verlag, der mit einem fundierten Sammelband
zum Oeuvre des Regisseurs die Messlatte setzt. Der elfte Band
der "film"-Reihe, herausgegeben von Frank Schnelle,
nähert sich Fincher in Essays zu seinem Gesamtwerk und
seinen Spot- und Clip-Produktionen, sowie in ausführlichen
Einzelbetrachtungen seiner Spielfilme, ergänzt durch
detaillierte Filmo- und Bibliografien. Die passende Eröffnung
bildet hierzu ein Beitrag zu Finchers Vorspann-Philosophie,
denn die Filmanfänge von "Seven", "Fight
Club" und "Panic Room" dürften zu den
innovativsten Main Titles seit dem Schaffen von Saul Bass
gelten. David Fincher ist sich der immensen Bedeutung des
Vorspanns für die Filmrezeption bewusst, als Experte
für filmische Kurzformen wie Werbespots oder Musikvideos
verliert er keine Zeit und zieht den Zuschauer von Anfang
an in seinen Bann. Die Stories seiner Filme zeichnen sich
meist durch komplexe Konstruktionen mit sehr künstlichen
Momenten der Auflösung aus, sei es das unfreiwillige
Spiel des Nicholas Van Orton in "The Game", die
Mordserie nach der Vorlage der Todsünden in "Seven"
oder die dem Zuschauer lange vorenthaltene Schizophrenie des
Protagonisten in "Fight Club". Im Buch wird die
Vorliebe des Regisseurs für solche Geschichten unter
den Stichworten Tricks, Täuschungen und Doppelstrategien
treffend zusammengefasst. Zwei Interviews reflektieren die
Entstehungsprozesse von "The Game" und "Fight
Club" und stellen eine bislang offenbar rare Textquelle
für die Intentionen und Hintergründe des filmischen
Schaffens David Finchers dar, der offensichtlich nicht besonders
an Interviews interessiert ist. Lars-Olav Beier erhellt in
seinem Beitrag zu den Spots und Clips die Wurzeln der Fincher-Ästhetik,
dessen Filmografie dieser Kurzformen sich wie ein Who-is-Who
der Popkultur der 80er und 90er liest: Sting, Paula Abdul,
Aerosmith, Madonna, Billy Idol, George Michael, Iggy Pop,
Michael Jackson, The Rolling Stones auf der Seite der Popstars
und AT&T, Budweiser, Chanel, Coca-Cola, Converse, Honda,
Levi's, Nike, Pepsi als globale Trademarks. Die Beiträge
zu den Spielfilmen gehen den Figuren, der Erzählstruktur
und den Motiven näher auf den Grund, unterstützt
durch zahlreiche Bildsequenzen mit insgesamt 774 Abbildungen,
die gerade für das Verständnis eines so visuell
geprägten Gesamtwerks von fundamentaler Bedeutung sind.
Bei der Lektüre des Buches vergegenwärtigt man
sich immer wieder einen Gedanken, der einem nach dem Betrachten
eines Fincher-Films verfolgt, nämlich die Verwunderung
darüber, wie sehr dieser Regisseur mich als Zuschauer
im Griff hat. Diese Erfahrung geht über ein Spannungs-
oder Thrill-Erlebnis im üblichen Maße hinaus, die
Machart dieser Filme lässt einen Sog entstehen, dem man
sich kaum entziehen kann, weder psychisch noch physisch. Denn
was seine Filme letztlich erzählen, ist ja gar nicht
so sonderlich innovativ oder spannend - siehe jüngst
in "Panic Room"-, es liegt vielmehr daran, wie er
es umsetzt. Dies unterscheidet ihn schließlich auch
von den großen Filmemachern der vergangenen Jahrzehnte
und macht ihn zu einem Regisseur, der absolut auf der Höhe
der Zeit ist. Einer Zeit, in der alle Geschichten längst
erzählt sind und in der Kino ein Spiel mit den Zeichen
und mit dem Zuschauer sein darf.
Michael Staiger
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