KINO MÜNCHEN FILM AKTUELL ARCHIV FORUM LINKS SITEMAP
24.02.2000
 
 
   
 

Das durchschnittene Auge
Begierde und Geheimnis: Luis Buñuels 100. Geburtstag und ein neues Buch

 
Luis Buñuel
     
 
 
 
 

Das Licht im Kino geht aus, eine Bombe explodiert. Unmittelbar danach schnappt eine Mausefalle in Großaufnahme zu. Eine Abendgesellschaft, die plötzlich übereinander herfällt. Skorpione, wieder in Großaufnahme, Erläuterungen ihrer Gefährlichkeit, dann deren Demonstration: ein Skorpion tötet eine Ratte. Eine Rasierklinge, die den Augapfel einer Frau durchdringt, wie ein Stück Butter - allesamt schockierende Momente, die sich nie wieder aus dem Gedächtnis dessen tilgen lassen, der sie sah. Sie haben unseren Blick auf die Dinge verändert. Das durchschnittene Auge in "Ein andalusischer Hund" sollte zu einer der berühmtesten Filmszenen aller Zeiten werden.

"Ich bin ein Feind der Wissenschaft und ein Freund des Geheimnisses." – Glücklicherweise war Luis Buñuel, Surrealist und Bourgeois, Atheist und Katholik, Anti-Kommunist und Marxist, Filmemacher und Schriftsteller so inkonsequent wie genial und hat weder aus seiner Kunst noch aus seinem Leben je ein Geheimnis gemacht. Im Gegenteil: "Catherine Deneuve ist nicht unbedingt mein Frauentyp, aber mit nur einem Bein und geschminkt, finde ich sie sehr attraktiv." Oder: "Ich bin Sadist, aber ein vollkommen normales Wesen." Äußerungen wie diese – oft mit jenem "aber" versehen, in dem Buñuel seine eigene Widersprüchlichkeit bereits reflektiert – finden sich in "Objekte der Begierde", einem jetzt erschienenen Sammelband, der wie in einem Lexikon alphabetisch geordnet Äußerungen und Kommentare des genialen Tausendsassas und wunderbaren Provokateurs zusammenfaßt.
Von Gott und der Welt ist da die Rede, von "Abel Gance" bis "Zugtraum" reicht die Liste. Da liest man von Lieblingsfilmen (unter anderem "Paths of Glory" von Kubrick, "Roma" von Fellini, "Panzerkreuzer Potemkin" vom Eisenstein) und Gottesbeweisen ("Wenn es einen Gott gibt, soll mich auf der Stelle der Blitz treffen"), Kollegen (Breton, Dalí, de Sica, Garcia Lorca) und Feinden ("Hollywood", "Stalinismus"). Daneben findet man einige wichtige Aufsätze, sowie Erinnerungen von Freunden und Buñuels Lebensgefährtin Jeanne Rucar Buñuel.

Vor hundert Jahren – am 22.2.1900- wurde Buñuel in Nordspanien geboren. Während seines Studiums (Biologie und Geschichte) lernte er André Breton kennen, bald schloß er sich den Surrealisten und der spanischen Literatengruppe der "Generation von 1927" an. Nach den beiden bahnbrechenden Frühwerken "Ein andalusischer Hund" und "Das Goldene Zeitalter" drehte Buñuel fast 20 Jahre keinen Spielfilm, nur 1933 die Dokumentation "Land ohne Brot". Vor den spanischen Faschisten floh er in die USA und nach Mexiko, schlug sich dort mit Handlangerarbeiten durch, nebenbei schrieb er Prosatexte und Gedichte. So kam es, dass einer der vielseitigsten, interessantesten Künstler des Jahrhunderts seine berühmtesten und wichtigsten Filme – eben bis auf die beiden ganz frühen – erst schuf, als er bereits über 50 Jahre alt war. Richtig entdeckt wurde er erst in den 60er und 70er Jahren, nachdem er mit "Viridiana" 1961 in Cannes die Goldene Palme gewonnen hatte. Da war er bereits über 60.

Buñuel war ein Idol der Jahre der Kulturrevolution in den westlichen Industriestaaten, der Zeit des politischen Optimismus und der ästhetischen Abstraktion. Doch er selbst, der sich bis zu seinem Tode als Surrealist verstand - "Ich lehne es ab, ein theoretischer Terrorist zu sein" -, protestierte auch gegen die neuen Verbindlichkeiten. So schlossen sich in seinem Werk poetisches Erzählkino, Absage an Sozialromantik, subjektpsychologischer Feinsinn und politische Rebellion nie aus.

Oft sind es Bilder von Gewalt, Dokumente des grausamen Lebenskampfes. "Alles, was nicht die Gesellschaft und ihre Institutionen angreift, ist nicht surrealistisch." Und oft geht es dabei um Blendungen oder Sehstörungen. So wie am Beginn von Luis Buñuels Werk der Schnitt durchs Auge geht, wird in seinem zweiten Film ein Blinder zum Objekt. Wenn die Rasierklinge in den Augapfel einschneidet, reagieren die Betrachter mit Wegsehen. Aber immer wieder verstand Buñuel es so einzurichten, dass man hinschauen mußte. Durch Schocks oder durch Komposition.
"Auge des Jahrhunderts" hat man ihn genannt. Und tatsächlich scheinen wenige andere Bilder in ähnlicher Weise als Metapher der verstörend-faszinierenden Erfahrungen des letzten (20.)Jahrhunderts zu taugen, wie die seinen: Der Schnitt durchs Auge ist auch einer durch die Zeiten und das Bewußtsein.


Literatur:
Luis Buñuel: "Objekte der Begierde"; Wagenbach Verlag, Berlin; 189 S., 22,80 Mark.

Im gleichen Verlag erschien auch:
"Die Flecken der Giraffe", ein Sammelband mit frühen Texten, Gedichten und Aufsätzen zum Kino, sowie zwei Bände mit Gesprächen und Interviews.

Das Münchner Filmmuseum zeigt derzeit eine Buñuel-Reihe.

Rüdiger Suchsland

  top
   
 
 
[KINO MÜNCHEN] [FILM AKTUELL] [ARCHIV] [FORUM] [LINKS] [SITEMAP] [HOME]