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film ab: documenta goes to the movies

  04.09.1997
 
 
 
  Viel gescholten wurde die documenta und nicht nur die diesjährige zehnte. Daß gerade noch rechtzeitig vor der Jahrtausendwende erstmalig eine Frau das künstlerische Ruder übernehmen durfte (!) hat die Kritiker trotz Quotenregelung nicht eben milder gestimmt. Zu kühl, zu verkopft befand man das Ausstellungskonzept einhellig, und attestierte Macherin Catherine David prompt emotionale Defizite.

Genderpolitisch muß weibliche Intelligenz immer noch als Makel gelten, beweist sie doch, daß frau die Gesetze der natürlichen Arbeitsteilung nicht verstanden hat: das Weib gebärt die Kinder, der Mann die wirklich großen Kunstwerke. Gott schuf die Welt in sieben Tagen, Eva brachte nur das ungleiche Brüderpaar Kain und Abel zuwege und wo das hinführte, ist hinlänglich bekannt.

Zu Mord und Totschlag wird die dX wohl, Gott sei´s getrommelt, nicht führen, obwohl es zur Verhaftung des Filmemachers Christoph Schlingensief allemal gereicht hat.
Catherine David hat Künstler verpflichtet, die ihre Weltsicht nicht mehr primär auf der Leinwand und in Öl ausdrücken. Die Videobeiträge der dX präsentieren sich in Räumen, die lediglich vom Flimmern der Leinwand erhellt werden. Hier mag man sich erinnert fühlen an die Anfangstage der "bewegten Bilder", bevor das Bürgertum zu fürchten begann, daß im anarchistischen Dunkeln gut munkeln sein könnte und prompt die Notbeleuchtung einführte.

Die Filme und Filmchen der dX rangieren zwischen Spielfilmlänge und wenigen Minuten in der Endlosschleife des Projektors. Letzteres präsentiert Stan Douglas mit DER SANDMANN. Basierend auf Textfragmenten aus E.T.A. Hoffmanns gleichnamiger Novelle zeigt Douglas die Welt in einer einzigen kreisförmigen Kamerafahrt. Wo der Film auf Schnitte verzichtet, sorgt das konsequent durchgehaltene Mittel des Splitscreen dafür, daß nicht alles so glatt, so rund wirkt, wie die Kamera vorzugeben scheint. Daß die Bilder verknüpft werden mit den Worten romantischer Dichtung ist nicht so antagonistisch, wie es vielleicht scheinen mag. Schließlich ist die Literatur E.T.A. Hoffmanns in ihrer Auseinandersetzung mit künstlichen Realitäten und Automatenmenschen (Cyborgs?) 1997 aktueller denn je.

Filmemacher Hans Jürgen Syberberg geht es in seiner Installation CAVE OF MEMORY weniger um das Was als vielmehr um das Wie des Informationskonsums im Medienzeitalter. Die Technik der Collage, das Zeitmosaik nutzte Syberberg bereits in den siebziger Jahren. LUDWIG - REQUIEM FÜR EINEN KÖNIG, KARL MAY und HITLER - EIN FILM AUS DEUTSCHLAND verstanden sich als Dekonstruktionsversuche. Immer war Syberberg bemüht, eindeutige Interpretationen in einer Vielzahl von widersprüchlichen Aussagen aufzulösen.

Wo Syberbergs Spielfilme ihre Puzzleteile in linearer Anordnung präsentierten, ist die CAVE OF MEMORY Informationschaos, enervierend zunächst und bei näherer Betrachtung doch um so mehr Alltagserfahrung. Acht Videowände, ein gutes Dutzend Fernseher, sich überlagernde Tonspuren. Ob Mozarts Requiem oder Schleefs Faustinszenierung vor den geschlossenen Türen des Schillertheaters Berlin, ob Kleist oder Becket: wie mit der Fernbedienung auf dem heimatlichen Sofa bleibt dem Betrachter eine minimaldemokratische Auswahlmöglichkeit in der Konzentration auf ein Objekt. Nur ausblenden lassen sich die temporär unerwünschten Bilder und Töne bei Syberberg eben nicht.

Um die Gier der Sensationsgesellschaft nach Fakten, Fakten, Fakten, die letztendlich doch immer Fiktion bleiben, geht es auch Johan Grimonprez. DIAL H-I-S-T-O-R-Y signalisiert, daß Geschichte konstruier- und abrufbar ist, sich historische Wahrheiten aus der zeitlichen Distanz beliebig neu formulieren lassen. Dabei hat der Katastrophenkonsum im Fernsehalltag höchsten Unterhaltungswert - siehe jüngste Ereignisse in Paris.

Als Pseudo-Dokumentarfilm bezeichnet der Regisseur seinen Film, der fast abendfüllende Länge erreicht. Zu Textauszügen aus Don DeLillos WHITE NOISE und MAO II komponiert Grimonprez Bilder von Flugzeugentführungen, Attentaten, Terrorismus, Blut und Leichen, Opfern und Tätern. Der Beschallung mit belanglos-fetziger Tanzmusik zum Trotz bleibt der Totentanz schwer verdaulich. Und wenn US-Präsident Clinton sich ausschütten will vor Lachen nachdem just ein weiteres Flugzeug explodiert ist, vermittelt Grimonprez über die Montage, was Geschichtsschreibung eigentlich immer ist: gruselig.

"Das Bild", so Zbigniew Herbert, "ist Ausdruck der Sehnsucht nach der fernen, unerreichbaren, verlorenen Wirklichkeit". Oder auch einer nie Existenten, nur Erträumten. Die Bilder, bewegte und andere, der dX regen an zum Nachdenken über unsere Realität(en).

Also: allen Cineasten, die Spielbergs Saurier schon haben rennen sehen und auch ansonsten dem Sommerhit Kino nicht allzuviel Sehenswertes abgewinnen konnten, sei die Fahrt nach Kassel ans Herz gelegt, bevor die dX am 28. September ihre Pforten schließt.

Regine Welsch

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