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Was vom Filmfest München '97 übrigbleibt (Teil II)

  17.07.1997
 
 
 
  Festivals sind nicht zuletzt dazu da, damit man sich hin und wieder davon überzeugen kann, daß nicht nur in Amerika Filme gemacht werden. Und so bot auch das Filmfest München Gelegenheit, internationale Produktionen kennenzulernen, die hierzulande keinen regulären Verleih finden.
Die Franzosen haben mit ihren Beiträgen einmal mehr konsequent hohes Niveau bewiesen. Altmeister Bertrand Tavernier setzt dem Publikum mit dem wuchtigen und komplexen Kriegsfilm CAPITAINE CONAN einen schweren, aber lohnenswerten Brocken vor.
Philippe Harel und sein Autor Eric Assous wagten mit LA FEMME DÉFENDUE eines der wenigen stilistischen Experimente des Festivals: die Geschichte einer schwierigen Liebe, mit nur zwei Sprechrollen und 100 Minuten konsequent in subjektiver Kamera aus Sicht des männlichen Partners. Erstaunlicherweise geht die Rechnung auf, was der Film nicht zuletzt seiner famosen Hauptdarstellerin Isabelle Carré verdankt.
Und selbst der arg gewollte und schleppend inszenierte ANNA OZ (Regie: Eric Rochant, Buch: Gérard Brach, Eric Rochant) vermochte immerhin, intelligent zu langweilen.
Aus Italien kam LA MIA GENERAZIONE von Wilma Labate, ein dichtes Polit-Drama, daß der Gewalt als Lösung für Mißstände eine resignierte Absage erteilt. Der tschechische Film PASSAGE von Juraj Herz, ein kafkaesker Alptraum in der Kulisse einer nächtlichen Einkaufspassage, war mir insgesamt zu forciert symbolträchtig, doch einzelne Sequenzen gehörten zum Originellsten und Faszinierendsten, was das Festival zu bieten hatte. Und DRAGON TOWN STORY (LONG CHENG ZHENG YUE, Regie: Yang Fengliang) glänzte im Vergleich mit anderen chinesischen Filmen zwar vielleicht nicht durch besondere Originalität, hatte aber alles zu bieten, was chinesische Kino-Epen gemeinhin schätzenswert macht.

Trauriger sah es dann schon bei den Produkten der hiesigen Filmwirtschaft aus. Daß ich Vorurteile gegen den aktuellen deutschen Film hege, gebe ich ja offen zu. Leider sind mir aber meine Versuche, auf dem Filmfest diese Vorurteile zu revidieren aus höchst unerfreulichen Gründen schmerzhaft deutlich im Gedächtnis geblieben - es mag an der unglücklichen Auswahl der "Gegengifte" gelegen haben. Der Versuch zu beschreiben, was an Joseph Rusnaks THE WAY WE ARE alles nicht funktioniert und/oder nervt, würde Bände füllen; eine Meinung, deren intersubjektive Überprüfbarkeit wohl dadurch angezeigt wird, daß bei keinem anderen Film auch nur annähernd soviele Leute vorzeitig die Pressevorführung verlassen haben.
Immerhin gebärdet sich Rusnaks Film jedoch nicht als der Weisheit letzter Schluß, was man von Michael Hanekes FUNNY GAMES leider nicht behaupten kann. Für mich der ärgerlichste Film des Festivals, über den lange Worte zu verlieren dieses besserwisserische, intellektülle Kasperle-Theater nur in seiner Selbsteinschätzung als wichtigen Film bestätigen würde - und genau das ist Hanekes Werk eben nicht.
Dann doch lieber Herbert Achternbuschs PICASSO IN MÜNCHEN, der in gewohnt gspinnerter Weise etliche Zumutungsgrenzen über- und handwerkliche Mindestanforderungen unterschreitet, aber dies wenigstens auf unverwechselbare, sehr persönliche Art und nicht ohne verschrobenen Charme.

Anteilmäßig die meisten schönen Filme des Festivals gab es auch dieses Jahr wieder einmal in den Retrospektiven zu sehen. Allerdings möchte man aber auch nicht einfach das ganze Filmfest im Filmmuseum zubringen. Deswegen habe ich leider nur zwei der fünf angebotenen Werkschauen (und die auch nur teilweise) gesehen. Vielleicht sollten die Veranstalter in Zukunft in diesem Programmbereich doch wieder etwas Beschränkung und klare Linie zeigen, und dafür mehr Gewicht auf die Vollständigkeit der Reihen legen.
Die Filme der Hong Kong-Regisseurin Ann Hui haben mich dabei weniger beeindruckt; ihre stilistische Handschrift ist deutlich weniger ausgeprägt als die ihrer im Westen bereits arrivierten Kollegen John Woo, Wong Kar Wei oder Tsui Hark. Dadurch vermittelten ihre Filme allerdings einen interessanten Überblick über das etwas alltäglichere Hong Kong Kino, und von DIE ROMANZE VON BUCH UND SCHWERT (als historisches Martial-Arts Epos für Ann Hui allerdings ein untypischer Film) war ich dann doch schwer angetan.

Bei den Filmen des als militanten, rechten Knallkopf verschrienen John Milius (der an seinem Image zugegebenermaßen fleißig und genußvoll mitbastelt) aber wurde mir dann klar, was dem übrigen Festivalprogramm so sehr fehlte: die Obsessionen.
Milius macht Filme, die er einfach machen muß; ohne große Rücksicht auf Karriereinteressen und Kinomoden. Wie sehr man auch gegen sein Weltbild allergisch sein mag - daß sein Herzblut in den meisten seiner Filme steckt, läßt sich unmöglich übersehen.
Zu viele der aktuellen Filme des Festivals machten den entgegengesetzten Eindruck: sie schienen gemacht, weil es gerade opportun war, sie zu machen. Filme, die als Eintrittskarten, Empfehlungsschreiben, Sprossen auf der Karriereleiter gedacht waren, Projekte, die solange nach einem Macher gesucht haben, bis sie jemandem fanden, der oder die gerade nichts brauchbareres zu tun hatte; Filme die man macht, damit man eines Tages den Film realisieren kann, von dem man wirklich träumt.
Auch solche Filme können zu großen Werken werden, wenn sich ihnen ein entsprechend geniales Talent widmet. In den Regionen üblicher Begabung aber, wo sich 99% des Lebens abspielen, reicht es nicht zur begeisternden Größe, wenn die für den Film Verantwortlichen nicht selbst mit voller Begeisterung bei der Sache sind. Und das Ergebnis ist dann eben ³nur² solides Handwerk.

Zum Glück war die John Milius-Retrospektive auf dem diesjährigen Filmfest aber dann doch nicht der einzige Ort, wo es Begeisterndes zu sehen gab. Eine Handvoll Filme aus den aktuellen Reihen hat es schließlich doch jeweils geschafft, mich aus dem eingelullten Zustand des dauernd mit Mittelmaß bombardierten Zuschauers zu reißen; jene wenigen Filme, an die ich mich auch eine Woche nach dem Festival noch genau und gerne erinnere, und von denen ich hoffe, daß diese Erinnerung mich noch länger begleiten wird.
Da waren zunächst SWINGERS (Buch: Jon Favreau, Regie: Doug Liman), GRACE OF MY HEART von Allison Anders und CHASING AMY von Kevin "CLERKS" Smith. Zugegeben, auch alles keine "großen" Filme. Aber: einige der wenigen wirklich flotten und witzigen Filme in einem Angebot, daß von langsamem Tempo bestimmt war, und Filme, denen man das persönliche Engagement ihrer SchöpferInnen in jeder Minute anmerkt. SWINGERS (siehe Kritik) war für mich darüberhinaus wie ein kleiner Urlaub im geliebten L.A., GRACE OF MY HEART schon deswegen ein kleines Wunder, weil er ein Musikfilm mit wirklich gelungenem Soundtrack war, und CHASING AMY ein kleiner Schock, da ein scheinbares Ding der Unmöglichkeit - ein erwachsener Kevin Smith-Film.
Noch viel weniger ein "guter" Film in irgendwie herkömmlicher Bedeutung war Timothy A. Careys THE WORLD¹S GREATEST SINNER, eine legendäre Rarität von 1958, vorgestellt von Careys Sohn Romeo. Carey ist dem Filmfreund als Charakterdarsteller bekannt (z.B. PATHS OF GLORY); nur einmal gelang es ihm, ein eigenes Filmprojekt zu realisieren. THE WORLD¹S GREATEST SINNER weist handwerklich, technisch und schauspielerisch (bis auf den großartig chargierenden Carey selbst, versteht sich) in etwa die selben "Qualitäten" auf wie die berüchtigten Filme Ed Woods. Aber es ist auch klar: hier ist ein Getriebener am Werk; der Film ist obsessiv bis zum Durchdrehen. Und wie meist, wenn unzureichende Mittel auf megalomanische künstlerische Energie treffen, ist das Ergebnis ein Stück faszinierender, unfreiwilliger Surrealismus.
Die Obsession zum Thema machte hingegen Lynne Stopkewichs KISSED. Ebenfalls mit sehr geringen Mitteln gedreht, doch von Amateurtum ist hier nichts zu spüren. Eine verstörend ästhetische, schöne, liebevolle und einfühlsame Annäherung an eine abstoßende Neigung, die Nekrophilie, die viel ihres Gelingens der großartigen, mutigen Hauptdarstellerin Molly Parker verdankt.
Alain Berliner widmete sich mit MA VIE EN ROSE einer deutlich weniger monströs anmutenden Abweichung vom sexualmoralischen Normschema; erzählt wird die Geschichte des kleinen Ludovic, der davon überzeugt ist, eigentlich ein Mädchen zu sein, und der damit seine Familie in bittere Nöte bringt. Gab¹s auf dem Filmfest nicht schon mehr als genug Problemfilme zu sehen? Schon, aber MA VIE EN ROSE war nicht nur einer der ergreifenderen, er war auch absolut der einzig bonbonbunte.
Eine gewisse Einzigartigkeit im Festivalprogramm darf auch Steven Soderberghs zweiter Beitrag, SCHIZOPOLIS, für sich in Anspruch nehmen. Während es sonst so schien, als hätten die Grundregeln des klassischen Erzählkinos international und genreübergreifend gesiegt, wehrt sich Soderbergh in dem reichlich wilden SCHIZOPOLIS gegen fast alles, was nach funktionierendem Framing aussieht. Sicher, die literarische Postmoderne, Richard Lester und Monty Python waren da, aus unterschiedlicher Motivation heraus, schon vor 25 Jahren, aber diese kleine Störung des allerorts herrschenden, satten ästhetischen Konsens hatte dennoch äußerst erfrischenden Charakter.
Daß das traditionelle Erzählkino selbst aber auch noch durchaus in der Lage ist, zur Hochform aufzulaufen, bewies schließlich Ang Lee (THE WEDDING BANQUET, SENSE AND SENSIBILITY) mit seinem neuen Film THE ICESTORM. Er inszeniert ein Gesellschaftsbild der USA der 1970er als Kostümfilm, und tut dies mit einer Präzision, Komplexität und distanzierten Schmerzhaftigkeit, daß ich von allen Filmen des Festivals rückblickend von THE ICESTORM noch immer am meisten zehre. So unspektakulär er zunächst beim Anschauen wirken mag: je länger man über diesen Film nachdenkt, um so besser und eindrucksvoller wird er.

Was bleibt sonst noch übrig vom Filmfest München ¹97? Die Liste der Filme, die ich gerne gesehen hätte. Manche paßten beim besten Willen nicht in den Terminplan, bei manchen warte ich auf den regulären Start, und bei einigen habe ich erst nachträglich erfahren, daß es sich unbedingt gelohnt hätte, sie anzuschauen.
Als da wären (in alphabetischer Reihenfolge, und ohne Anspruch auf Vollständigkeit): AFTERGLOW, L¹APPARTEMENT, BASTARD OUT OF CAROLINA, BIG WEDNESDAY, FAST, CHEAP AND OUT OF CONTROL, GRIDLOCK¹D, HAPPY TOGETHER, HARD EIGHT, I LOVE YOU - DON¹T TOUCH ME, KOLYA, die kompletten Max Linder-Filme, NOWHERE, SHE¹S SO LOVELY und WESTERN.
Vorerst bleibt da nur Warten - einige dieser Filme werden wohl hoffentlich in Zukunft ein weiteres Mal über Münchner Leinwände flimmern. Und dann werde ich Versäumtes nachholen. Und eigentlich ist das ja ohnehin noch viel schöner als die beste Erinnerung: Vorfreude und Hoffnung.

Thomas Willmann

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