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12.06.1997
 
 
   
 

RENDEZ-VOUS WITH DESTINY
Hollywoods Großangriff aufs "Weiße Haus"

 
INDEPENDENCE DAY
     
 
 
 
 

Früher sah man sie nur von hinten. In den meisten älteren Hollywood-Filmen wurden die US-Präsidenten wenn sie denn -selten genug- überhaupt vorkamen, nur schemenhaft, fast unbewegt und gesichtslos dargestellt. Die Person sei unwichtig, wurde damit gesagt, allein das Amt an sich zähle; und dessen Charisma kann man am reinsten darstellen, indem man es so gut wie unsichtbar macht.
Heute dagegen ist das alles ganz anders. Amerika und seine Präsidenten sind ein großer Stoff für das Hollywood-Kino geworden, allein in diesem Jahr bricht ein ganzer Sturzbach von "Präsidentenfilmen" (wie man die entstandene neue Filmgattung nennen könnte) auch über uns Europäer herein: nachdem in MARS ATTACKS! im Burtons Marsmenschen das Weiße Haus in die Luft sprengen und jetzt gerade im neuen Clint Eastwood-Reißer ABSOLUTE POWER Gene Hackman den Präsidenten als psychopathischen Mörder zeigt, werden wir noch Harrison Ford als Präsidenten-Haudegen in Wolfgang Petersens AIRFORCE ONE und Jack Lemmon als verschlagenen, unsauberen ersten Mann Amerikas in MY FELLOW AMERICANS von Peter Segal erleben dürfen. Schließlich folgt noch PRIMARY COLORS der Film zum letztjährigen Bestseller, der wenig schmeichelhaftes Insiderwisssen über Clintons Präsidentschaftswahlkampf enthüllt. Hier spielt John Travolta die Rolle Clintons.

Vielleicht haben Amtsinhaber Clinton und der Boom der Präsidentenfilme mehr miteinander zu tun, als es auf den ersten Blick scheint. Denn die Darstellung des Präsidenten ist immer wieder Anlaß zu einer Selbstreflexion der Gesellschaft geworden, in der sich Träume und Ängste, Hoffnungen und Befürchtungen wiederspiegeln.
Anfang der 90er Jahre blieb das noch Oliver Stone vorbehalten: er war der erste nach der großen Ausnahme von Alan J. Pakulas Watergate-Drama ALL THE PRESIDENTS MEN, der das -natürlich düstere- Treiben im Herzen des politischen Amerika zum Thema eines Films machte. JFK zeigte Verschwörung und Verbrechen, aber hier blieb der Präsident selbst doppelt verschont. Als Hoffnungsträger und Mordopfer ist der von Stone recht unreflektiert bewunderte John F. Kennedy ein unschuldiger Held, an dem sich die Korruption der restlichen politischen Szene nur noch deutlicher zeigen läßt.
1995 nahm sich Stone dann nach der Lichtgestalt den umstrittenen Richard Nixon vor. Eine Art Richard III. soll da im Weißen Haus von Furcht und Eigennutz besessen sein Unwesen getrieben haben. Gründlich wird das heere Image des Präsidentenamtes auseinandergenommen. Und doch verlieh Anthony Hopkins großartiges Spiel der zwilichtigen Person Nixons die tragischen Züge eines Getriebenen, der im Zuschauer auch Sympathie und Mitleid weckte. Zugleich offenbarte sich hier geheime Sehnsucht nach einem Dämonischen, das neueren Präsidenten wie Clinton zu fehlen scheint, ohne das sie dafür besonders moralisch wirken. Nixon hatte in aller Unmoral immerhin ein Format, das man sich von Clinton nicht mal im Traum vorstellen kann. Wo Nixon mit fragwürdigen Methoden wenigstens politische Ziele verfolgte, droht Clinton höchstens ein Verfahren wegen "sexual harrassment".

Doch dann kam INDEPENDENCE DAY. In imposanten Bildern wird hier die primitive, zutiefst ideologische Geschichte erzählt, wie ein moralisch intaktes Amerika sich wieder zum Hoffnungsträger der ganzen Menschheit aufschwingen kann.
Der junge Präsident (Bill Pullman) ist ein all-american-boy, der sich vom Alltagsgeschäft der Politik genervt fühlt, und lieber Jagdflieger fliegt. Zugleich eine lichte Führergestalt, die weiß, was zu tun ist. Kein Drückeberger, wie "slicky willie" Bill Clinton, sondern ein Teilnehmer des Golfkriegs. Wo andere Hollywood-Filme (ERASER, THE ROCK, MISSION IMPOSSIBLE) mit Verschwörungsszenarien bis in die höchsten Ebenen hinein zumindest oberflächlich den Zweifel an den Institutionen und deren moralischer Qualität nährten, versuchte INDEPENDENCE DAY auf plumpe Weise, die alten Verhältnisse wieder herzustellen.
Daß das zumindest filmisch nicht gelang, ist nicht zuletzt das Verdienst von Tim Burton. Sein MARS ATTACKS! wurde zum bösen Gegenstück zu ID4. In der überdrehten Komödie hat der Präsident (Jack Nicholson) längst versagt, nur klebrige Rhetorik hilft ihm noch, an der Macht zu bleiben. Kurzfristig rührt der präsidentielle Schmierenkomödient sogar die Marsmenschen zu Tränen. Hier ist aller Respekt vor Washington dahin.
Der höchst unterschiedliche Kassenerfolg beider Streifen zeigt aber auch, woher derzeit der Wind weht. Offenbar ist die moralisch-gesellschaftliche Lage in den USA derart, daß die Primitiv-Diagnose aus INDEPENDENCE DAY nicht nur angenommen und die vorschlagenen Heilmittel für richtig erkannt wird, sondern daß ein derartiges Szenario selbst dem US-Präsidenten bei einer Vorführung im weißen Haus bereits als positiv-utopische Ausflucht aus den Krisen der Gegenwart erscheinen kann.

Der Boom der Präsidenten-Filme verrät die unausgesprochene Sehnsucht nach politischem Charisma, nach ästhetischer Politik. Wo Helden und Schurken fehlen, und die Wirklichkeit banal und langweilig wird, da muß das Kino in die Bresche springen.

Rüdiger Suchsland

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