17.11.2022

Von der Angst, gebannt zu werden

Elfriede Jelinek
Ein Film sieht Elfriede Jelinek sieht einen Film
(Foto: Farbfilmverleih)

Damit etwas draus wird, bevor es zu spät ist: Über eine filmische Reise durch mein eigenes Leben

Von Elfriede Jelinek

Ich hatte mich eigent­lich vor diesem Film gefürchtet, denn ich nähere mich dem Ende des Lebens, und nun würde eine Filme­ma­cherin das Buch vom Anfang her aufschlagen, viel­leicht wie man einen Ball aufschlägt?, das wusste ich ja nicht, und sie würde sich dann durch­ar­beiten. Ich hatte Angst, dass mir auf diesem kurzen Weg vor mir die Seiten dieses Buchs ins Gesicht schlagen würden. Man spricht ja von Ohrfeigen, die einem das Leben erteilt. Oder von Mauern, gegen die man rennt. Es war ein Blindflug für mich. Ich hatte mein Leben einer Künst­lerin und ihrem Team ausge­lie­fert, doch was würde mir da zurück­kommen?

Dann war es ganz anders. Diese filmische Reise hat eher mich mitge­nommen. Nicht dass ich davon mitge­nommen wäre, im Gegenteil. Es war keine gegen­läu­fige, sondern eine Bewegung, die mich mitge­zogen hat, durch schnee­mat­schige Straßen der stei­ri­schen Eisen­erz­stadt, durch verschneite Lift­schneisen, in deren Ferne ein Windrad sich dreht und die Luft um sich wirft, so wie dieser Film mein Leben sanft herum­schleu­dert, damit endlich was draus wird, bevor es zu spät ist. Im Fall des Windrads wird Luft in Energie verwan­delt, die Sachen voran­treibt, im Film wird meine Energie des Anfangs abgespult (wie die Nornen den Schick­sals­faden abspulen) in etwas Sanfteres, mit dem ich mich viel­leicht versöhnen kann (oder das andre mit mir versöhnen könnte), durch meinen achten Bezirk in Wien und die Maul­bertsch-Fresken der Kirche Maria Treu, in die ich als Kind immer in die Sonn­tags­messe gegangen bin. Dann durch das Panorama der Schnee­alpe bei unserem stei­ri­schen Feri­en­haus, mit Bankerl an genau der richtigen Stelle, dass man alles sieht, von links nach rechts. Und mein Leben: von vorne bis hinten und dazwi­schen.

Dann Geschrei, Lärm gegen meine bloße Vorhan­den­heit, ein Wahl­plakat der Rechten, die mich aus Kunst und Kultur ausge­stoßen sehen wollten. Meine Grund­be­find­lich­keit der Angst, die mir eine persön­liche Teilnahme am Film unmöglich gemacht hat, wurde aber ersetzt durch eine Filme­ma­cherin und ihre konge­niale Kame­ra­frau, die sich meiner buchs­täb­lich ange­nommen haben, die sich mit ihren langen, ruhigen Fahrten wie ein Schnitter mit seiner Sense durch mein Leben gemäht haben, in einer der elegan­testen und rhyth­mischsten Bewe­gungen, die ich kenne (und ich kann mit der Sense mähen!). Aus dem Archiv kamen die Ausschnitte, liefen vor meinen Augen dahin und sind wieder verschwunden, ohne Wunden in mir. Den Schnitten, die schon da waren, wurde kein neuer Streifen Mahd und keine neue Mullbinde hinzu­ge­fügt. Das ist wirklich wie ein Wunder. Den Film hat eine Frau gemacht, die mich vorher gar nicht persön­lich gekannt hat. Das ist das Erstaun­lichste daran. Und dass ich einmal Orgel spielen konnte, dass ich ein Instru­ment ganz gut gemeis­tert habe, das ist eine Entde­ckung für mich, obwohl ich es selbst gewesen bin, die da gespielt hat. Das, was war, ist jetzt. Es ist wieder da, nicht in einem vampi­ri­schen Sinn des Wieder­gän­gers, sondern als etwas, in dem Vergan­gen­heit und Gegenwart zusam­men­fallen, ohne mich dazwi­schen zu erdrücken.

Post Scriptum:

Seit dem 10. November 2022 läuft der Doku­men­tar­film Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen im Kino. Aus diesem Anlass hat die öster­rei­chi­sche Schrift­stel­lerin, die seit langem in München lebt und eine versierte Kino­gän­gerin ist, einen Text über die Erfahrung geschrieben, selbst zum Objekt eines Doku­men­tar­films zu werden.
Wir freuen uns über die Geneh­mi­gung der Autorin und der Produk­ti­ons­firma »Cala Film­pro­duk­tion« diesen Text veröf­fent­li­chen zu dürfen.
RS