25.05.2023
76. Filmfestspiele Cannes 2023

Warum der Exzess wichtig ist...

La Passsion de Dodin Bouffant
Eine Feier des Genusses und des Geschmacks...
(Foto: Cannes 2023 Media Library)

Wenn Ken Lounge und Aki Kawasaki nicht der Gipfel des Kinos sind: Nochmal gegen die Verachtung des Kulinarischen und der Opulenz – Cannes-Tagebuch, 06. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Dieser Text ist die direkte Fort­set­zung der letzten Tagebuch-Folge. Denn da musste ich eine Deadline einhalten und konnte nicht mit gebüh­render Ausführ­lich­keit und Diffe­ren­ziert­heit auf den fran­zö­si­schen Film La Passsion de Dodin Bouffant von Tran An Hungh eingehen. Man muss nämlich nicht nur benennen, was gut ist, sondern man muss es auch zeigen, sich also klar machen, was man hier sieht: Man über zwei Stunden lang Menschen kochen und essen. Nicht nur die Liebe geht hier durch den Magen, sondern einfach alles. Die gesamte Kommu­ni­ka­tion, das Humane als solche. Dies ist ein überaus huma­nis­ti­scher Film insofern, als er der zwischen­mensch­li­chen Kommu­ni­ka­tion höchste Aufmerk­sam­keit schenkt: den Blicken, den kleinen Gesten, den Bewe­gungen, der Art wie Hände nicht nur einander anfassen oder die Körper berühren, die Schultern streifen, sondern auch wie sie Essen anfassen, mit welcher Sorgfalt eine bestimmte Stelle eines Gemüses ange­schnitten wird, wie Kupfer­cas­se­rollen hin und her getragen werden, wie gerührt und gestampft und geschlagen wird, und wie dann auch gegessen wird.

Zu den Blicken: Wir sehen alles, was wir hier sehen, anfangs gewis­ser­maßen mit den Augen von Pauline. Sie ist die Nichte von Violette (Galatea Bellugi) der Küchen­hilfe der Köchin Eugenie (Juliette Binoche). Ihre Augen sind neugierig, saugend, weit aufge­rissen, immer darauf bedacht, dass ihnen nichts entgeht.
Und so entgeht auch uns nichts.
Die ersten 20 Minuten des Films sieht man eigent­lich nichts anderes als die Vorbe­rei­tung eines Abend­essens für fünf Personen.

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Die Über­schrei­tung und der Exzess sind wichtig, »das Schmut­zige«, wie ich es gestern genannt habe. Denn durch Reinheit entsteht nichts Neues, entsteht keine Spannung, wie sie für die Kunst essen­tiell ist. Auch »der Napoleon der fran­zö­si­schen Küche«, der Koch Dodin Bouffant sagt im Film, dass eine Brühe, wenn sie zu lange immer wieder geklärt wird, an Inten­sität verliert. Deshalb müssen wir das Unreine und die Über­schrei­tung, das Schmut­zige und die Inten­sität des Opulenten vertei­digen.

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Das europäi­sche Denken ist geprägt von einer Verach­tung des Kuli­na­ri­schen. Darin wird in erster Linie eine unbe­herrschte Esslust gesehen, ganz in der Tradition der Gering­s­chät­zung des Essens bereits mit Platon, der im Kochen »keine Kunst, sondern eine Geschick­lich­keit« sieht, die für ihn »vernunftlos« war.
Spätes­tens mit Augus­tinus gilt dann die Lust und der Genuss am Essen als Ursünde: Der Sünden­fall Evas und Adams begann mit dem Essen – das wird auch im Film gesagt.

Der Film nimmt sich vor, diese Tendenz des europäi­schen Denkens, die in die Esskritik des 21. Jahr­hun­derts mündet und die Feind­schaft gegen den Genuss von Essen und Trinken mit der Feind­schaft gegen die Kunst und gegen den Intellekt ebenso verbindet wie mit der Feind­schaft gegen die Verschwen­dung und den Exzess...; all diesen Ableh­nungen will dieser Film eine Feier des Genusses und des Geschmacks entge­gen­setzen.

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Warum eigent­lich muss die soge­nannte Kultur­staats­mi­nis­terin eine Pres­se­mel­dung zum Tod von Tina Turner heraus­geben? Ich bin nicht der einzige, der das versteht, aber wenn man hier ist, wo Tina Turner immerhin schon ein paar Mal war und dann zum Abschied einige der wich­tigsten Songs auf den Marches (dem Roten Teppich) gespielt werden, dann kommt einem diese Mittei­lung und ihr sülziger Ton besonders absurd und deplat­ziert vor.

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Lustige Verschreiber des Recht­schreib­pro­grammes: Ken Lounge und Aki Kawasaki.

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Im Pres­se­raum habe ich Maryam kennen­ge­lernt, eine iranische Jour­na­listin, die zum zweiten Mal hier ist. Sie berichtet für iranische (»persische« sagt sie) Inde­pen­dent-Medien, lebt aller­dings in Italien, weil es im Iran für Jour­na­listen nicht sicher ist.
Sie studiert Diplo­matie in Siena, mit Schwer­punkt auf Kultur­di­plo­matie; ihre Familie aber lebt im Iran und sie trägt wie viele Iraner Abzeichen der Unter­s­tüt­zung der Proteste in ihrer Heimat. In diesem Fall ein Armband auf dem »Zan. Zendegi. Azadi« steht, »Woman, Life, Freedom«.