18.05.2023
76. Filmfestspiele Cannes 2023

Die Inszenierung der Konflikte

Jeanne du Barry
Eine ganz gute Wahl für einen Eröffnungsfilm: Jeanne du Barry
(Foto: Cannes 2023 Media Library)

Zum Auftakt dreht das Filmfestival von Cannes ganz bewusst an der Empörungsschraube – Cannes-Tagebuch, 01. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Wenn ein Kind kurz weint, dann kann das ein treff­li­cher, besonders schöner Film­mo­ment sein. Etwa in Jeanne du Barry. Da bekommt die Mätresse vom König ein Geschenk. Das große Paket öffnet sich, erst langsam erhebt sich ein schwarzer Junge von etwa sechs Jahren. Er wird der Hofmohr der könig­li­chen Favoritin werden, und später – aber das ist nicht im Film – wird er sie verraten, denun­zieren beim Wohl­fahrts­aus­schuss, und auslie­fern an die Guil­lo­tine mit der die Anwälte einer besseren Zukunft die Gegenwart säubern.
Aber noch hat man Mitleid, noch sieht man ein verun­si­chertes, ange­sichts der Hofge­sell­schaft einge­schüch­tertes Kind. Ein paar Tränen kullern da über das schwarze Bäckchen. Eine heraus­ra­gende Szene in einem durch­schnitt­li­chen Film.

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Liber­ti­nage, Neugier, »Grace«, also Anmut – dieser Film setzt die richtigen Zeichen. Er ist im besten Sinn unzeit­gemäß.

Er zeigt das mensch­liche Leben als Leben, in dem es um Geld geht, um Macht und Karriere; es ist ein sehr unver­blümtes mensch­li­ches Streben nach Überleben und Genuss, das nicht durch Moralor­na­mente ummäntelt wird.
Und schon deswegen sympa­thisch.

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Hier aber hören die Paral­lelen zu größeren Vorbil­dern schon auf. Natürlich denkt man bei Maiwenns dies­jäh­rigem Cannes-Eröff­nungs­film Jeanne Du Barry an Barry Lyndon, aber damit hat das alles nichts zu tun; natürlich denkt man an Marie Antoi­nette von Sofia Coppola, aber auch damit hat es nur sehr, sehr wenig zu tun.

Ich fand den Film anständig, ich fand ihn nicht besonders, aber er ist insofern eine ganz gute Wahl für einen Eröff­nungs­film, weil er doch sehr viele inter­es­sante kleine einzelne schöne Einzel­heiten hat, szenische Edel­steine, viele Details, die ganz toll sind.
Dies ist auch ein Film voller Ironie und meta­tex­tu­eller Kommen­tare, die die ober­fläch­liche Behand­lung der histo­ri­schen Vorgänge kompen­sieren.

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Dieser Film hält in seinen besten Momenten unserer Zeit einen sehr scharfen, sehr fremden Spiegel vor: Radikales Form­be­wusst­sein gegen die totale Form­lo­sig­keit; Genuss gegen Puri­ta­nismus, Groß­zü­gig­keit und Mensch­lich­keit gegen Klein­geis­tig­keit und den Sans­cu­lot­tismus unserer Gegenwart.

»Le Bien Aimee«, den Viel­ge­liebten nannte man Ludwig XV. und auch, weil eben Johnny Depp diesen König spielt, sind die Paral­lelen sehr lustig: Ein Lebemann, ein König, der sehr viele Mätressen hat, der die Liber­ti­nage gefeiert hat, und über dessen Regime die Menschen, jeden­falls die der »besseren Kreise«, damals sagten, dass es sich um eine der glück­lichsten Epochen der Mensch­heits­ge­schichte gehandelt habe. Ludwig hat sich selbst das Leben schön gemacht, daran könnte man sich ein Beispiel nehmen. Und er hat auch dafür gesorgt, dass es seine Unter­tanen auch möglichst friedlich und gut hatten. Den Umständen entspre­chend.

Im Film gibt es dann Momente, in denen Johnny Depp so richtig aus dem Vollen schöpft, in denen sich witzige Kontraste und Paral­lelen zwischen der Schau­spieler-Persona und der Rolle ergeben. Hier sieht man eben auch einen Filmstar, der sich lustig macht über den Star-Betrieb und den Film­be­trieb. Der zeigt gerade auch in Cannes viele höfische Seiten.

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Alles beginnt in einer schönen idyl­li­schen Land­schaft, ein junges Mädchen wird gemalt. Männer sehen Frauen. Tja. Blöd für die Schnell-Checker, dass es sich um eine Regis­seurin handelt.
Wenn nicht eine Frau das insze­niert hätte, dann würde man von einer Männer­phan­tasie sprechen: Die Heldin ist eine Frau, die ihren Körper und ihren Geist verkauft, die alles einsetzt, um aufzu­steigen, und die damit aber so gar kein Problem hat.

Die Männer­phan­tasie wird zu einer Frau­en­phan­tasie.

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Alles ist nur Form, alles ist nur Theater, nur Perfor­mance.

Es geht hier alles um Insze­nie­rung und alles ist große Insze­nie­rung: Versailles selbst, der Auftritt des Königs dort und seiner Mätressen und der diversen verschie­denen Figuren bei Hofe; aber auch der Film selbst mit der Regis­seurin, die auch die Haupt­rolle spielt (und das zu eitel, zu über­for­dert) und mit Johnny Depp. Und natürlich auch die Film­fest­spiele von Cannes. Insofern kann man diesen Film durchaus auch als einen Kommentar auf die Film­fest­spiele begreifen.

Regis­seurin und Haupt­dar­steller sind für manche ein Grund, sich über den Film, und ihre Regie/Schau­spiel­kunst zu echauf­fieren. Denn beide sind »umstritten«.

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»Umstritten« ist das derzei­tige Codewort für »böse« und »angreifbar«. Angreifbar sind alle, die sich dem Sturm des Main­stream, dem Schwarm der Schwarm­dumm­heit nicht fügen (wollen).

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»I can*ft do my job« jammern Einkäufer zum Auftakt im Screen­daily. In Cannes herrscht Ticket-Chaos! Das schlecht funk­tio­nie­rende, zudem komplett über­buchte Online-Ticketing frus­triert die Profi-Besucher. Es benach­tei­ligt zudem all jene, die einfach pünktlich zum Filmstart im Kino sein wollen, aber morgens um 7 Uhr besseres zu tun haben, als eine Stunde lang über dem Rechner zu hängen und Festi­val­karten zu reser­vieren.
Manche Vorfüh­rungen sind dann um 7.01 Uhr ausge­bucht.

Nicht wenige haben nicht mal ein einziges Ticket buchen können. Screen zitiert BFI-Mitar­beiter, die jetzt Filme online sehen müssen, wozu man nicht den Aufent­halt in Cannes bezahlt hat.

Das ganze Verfahren, das während der Pandemie etabliert, aber seitdem beibe­halten wurde, weil es mehr Kontrolle durch das Festival ermög­licht, ist komplett intrans­pa­rent. In vorpan­de­mi­schen, vordi­gi­talen Zeiten waren die Arbeits­be­din­gungen viel besser.

Das Chaos in Cannes summierte sich dann noch, weil Ticket­in­haber trotzdem in den offenbar völlig über­buchten Kinos keine Plätze bekamen. Auch das kann man ausführ­lich bei Screen nachlesen: »Long queues formed outside the Palais du Festival for the 3pm screening of the 31-minute short in the Debussy theatre, which was followed by a Rendez­vous with conver­sa­tion session with Almodovar. The line stretched back to the Gare Maritime building, with patrons forced to queue in and around an open road with cars passing by. ... As well as posses­sing a valid ticket, many of these tick­ethol­ders had been queuing for the screening for over an hour, having arrived well within the time required for access on their tickets. ... At around 15.30, those not inside the venue were turned away regard­less of whether or not they had a ticket. Patrons unable to gain access included critics from several major publi­ca­tions including Screen Inter­na­tional; while some people who had been allowed into the building were subse­quently removed.«

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»Die weib­lichste Cannes-Ausgabe aller Zeiten« ist angekün­digt. Was soll das eigent­lich sein, was soll das heißen?

Zumal es zugleich in mancher Hinsicht auch die älteste Ausgabe genannt werden könnte. 68 Jahre alt, haben die Cahiers du Cinema gerade ausge­rechnet, sind im Durch­schnitt die männ­li­chen Regis­seure im Wett­be­werb; die Frauen im Wett­be­werb sind im Schnitt 48.

Schon der Eröff­nungs­film dreht sich um die Geschlech­ter­frage, zugleich dreht er sich auch sonst um alle möglichen, sehr aktuellen, zum Teil modischen Themen, denn man kann von diesem Film scheinbar nicht reden, ohne auf diverse Vorwürfe und Fragen der Etikette, auf die Benimm­re­geln heutiger Filmstars und Künstler einzu­gehen. Jeden­falls in Deutsch­land. In der auslän­di­schen Presse habe ich all das bemühte Gewürge um Anstand und Moral­fragen nicht gelesen.

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Wie ist denn das Programm zu beur­teilen? Ist da die richtige Mischung aus Hollywood und Autoren­kino gelungen? Cannes ist immer beides, muss immer beides sein: Spektakel und Kunst.
Am ersten Tag ist diese Frage natürlich extrem schwierig zu beant­worten, denn bisher konnte man nur den Eröff­nungs­film sehen. Man kann nur über die Papier­form urteilen.

Zugegeben: ich finde die Aussicht auch nicht wahn­sinnig spannend, einen neuen Film von Wim Wenders zu sehen oder einen neuen Film von Aki Kauris­mäki oder einen neuen Film von Ken Loach – das sind alles die Helden der 80er Jahre, viel­leicht noch der 90er, also längst vergan­gener Zeiten. Damals war das Top of the Top, heute eher Top of the Flop.

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Zugegeben: ich freue mich schon mehr auf jüngere Namen, auf ein besseres, leben­di­geres, zukünf­ti­geres Kino, das expe­ri­men­teller, auch irri­tie­render ist und vor allem über­ra­schender. Auf der anderen Seite heißt es ja nicht, dass wenn hier viele ältere Regis­seure zu sehen sind, die alle schlechte Filme machen. Genauso wenig wie ein Film nur deswegen gut ist, weil er von einer jungen Frau stammt. Das ist alles viel zu kurz geschlossen, viel zu schlicht, so funk­tio­niert Kino nicht und so funk­tio­nieren schon gar nicht die Film­fest­spiele von Cannes. Was man sagen kann, ist: die Mischung ist schon mal grund­sätz­lich ganz gut. Es sind Autoren­filme zu sehen, die sehr Verschie­denes reprä­sen­tieren.
Sonder­ba­rer­weise gibt es tatsäch­lich ein starkes Schwer­ge­wicht auf den 80er Jahren, nicht nur mit den erwähnten Namen, sondern auch wenn wir an Filme außer Konkur­renz denken: Almodóvar, Martin Scorsese, oder der neue Auftritt der Figur Indiana Jones.

Da muss man mal abwarten, wie diese ja nicht mehr ganz taufri­schen Filme­ma­cher dann bewertet werden. Aber Cannes insze­niert diesen Gene­ra­tio­nen­kon­flikt. Denn bewertet werden die Alten von Jungen. Nein, nicht deutsche Film­kri­tiker sind gemeint, sondern andere, wich­ti­gere: Jury-Präsident ist Ruben Östlund, der sich auch für PCness nicht inter­es­siert, und der auch zweimal die Goldene Palme gewonnen hat. Und Julie Ducour­neau (Titane), also eine Filme­ma­cherin, die dezidiert politisch und sehr jung ist und das Genre-Kino mag.