14.05.2023
38. DOK.fest München 2023

Fast, quick & dirty

Dokfest

Kurzkritiken zum 38. DOK.fest München, in Zusammenarbeit mit der LMU München und dem Filmkritik-Nachwuchs, Teil 2

Von Redaktion

Non-Aligned: Scenes From The Labudović Reels
R: Mila Turajlić, FR/HR/ME/QA/RS 2022 | DOK.inter­na­tional

Non-aligned
(Foto: DOK.fest München | Mila Turajlić)

Stevan Labudović lernen wir als einfachen, nost­al­gi­schen, alten Herren kennen, bis peu à peu die unglaub­liche Tragweite seines Lebens­werks auf die Leinwand kommt – war er doch Kame­ra­mann von Tito. Als ehemalige Forscherin bei Arte, BBC und Discovery Channel zieht die serbische Regis­seurin Mila Turajlić ihr Publikum mit einer heraus­ra­gend recher­chierten Geschichte in ihren Bann. Hier wird die poli­ti­sche Geschichte von Jugo­sla­wien als meinungs­füh­rende Nation der »block­freien« Staaten der soge­nannten »Dritten Welt« erzählt, mit dem Ziel, eine neue Welt­ord­nung inmitten des Kalten Kriegs zu schaffen. Es sind Länder, die beginnen mit Kamera und Ton ihre eigene Geschichte zu erzählen. Turajlić zeigt uns atem­be­rau­bend den Einfluss von Film in der Gesell­schaft auf: Es ist die Geschichte des Kame­ra­manns Labudović auf der Seite von Jugo­sla­wien mit dem Ziel, eine gerech­tere Welt zu schaffen. (Thomas Sattler / HFF München)
[DOK.edit Award 2023; Infos/Tickets]

Sam Now
R: Reed Harkness, USA 2022 | BEST OF FESTS

»Just very romantic.« So beschreibt Jois Harkness ihre Entschei­dung, die eigene Familie ohne eine Nachricht für immer zu verlassen. Regisseur Reed Harkness erzählt in Sam Now seine Fami­li­en­ge­schichte, im Film macht er sich mit seinem Bruder Sam auf die Suche nach der verschwun­denen Mutter. Kindliche Super­helden-Aufnahmen treffen auf die Naivität, alles könne wieder so werden, wie zuvor, und schließ­lich die Konfron­ta­tion mit der Mutter, die mit ihrer Familie abge­schlossen hat, erzeugen eine erschüt­ternde Ehrlich­keit. Reed Harkness zeigt das Fami­li­en­leben über 30 Jahre hinweg, seine Kamera ist ein ständiger, unsicht­barer Begleiter. Wut, Trauer und Enttäu­schung werden ohne Hemmung und unge­schönt vermit­telt. Das paradoxe Verhalten der Mutter lässt nicht nur die Fami­li­en­mit­glieder empört und über­for­dert zurück. (Helena Bublak / LMU München)
[Infos/Tickets]

Pripyat
Öster­reich 1999, Regie: Nikolaus Geyr­halter, Hommage

Die Zone, sie ist tot. Das sagt jeder, der danach gefragt wird, was und wie »die Zone« ist. Die Zone, das ist der abge­rie­gelte Bereich 30 Kilometer rund um das Atom­kraft­werk Tscher­nobyl. Mitten­drin liegt die Stadt Pripyat, einst Heimat der Arbeiter des AKW. Regisseur Nikolaus Geyr­halter zeigt in seinem Film von 1999 in so kühlem wie schlichtem und doch aussa­ge­kräf­tigen Schwarz-Weiß die Menschen dort 12 Jahre nach dem verhee­renden Unglück. Eigent­lich kommen in die Sperrzone nur noch die, die dort arbeiten; manche aber wurden entweder immer noch nicht ausgie­se­delt oder sind zurück­ge­kehrt. Sie alle kommen zu Wort, geben eine Führung durch das, was einmal ihr Leben war und ihre Heimat ist. Dabei kommt alles zur Sprache, von Verstrah­lung bis Behör­den­ver­sagen. Man fühlt den Tod des Ortes durch die Leinwand – und doch stehen die Leute im Mittel­punkt, die noch in diesem Tod leben. Ein Film, der unter die Haut geht und der leider nicht aufhört, aktuell zu sein.
(Paula Ruppert)
[Infos/Tickets]

Tanja – Tagebuch einer Gueril­lera
R: Marcel Mettel­siefen / D 2023 / DOK.horizonte

Aus dem geka­chelten hollän­di­schen Reihen­haus in den kolum­bia­ni­schen Dschungel. Marcel Mettel­siefen porträ­tiert eine mitt­ler­weile 45-jährige Frau in all ihren Wider­sprüchen. Der Lange­weile entkommen wollte die Studentin Tanja Nijmeijer und trat deshalb eine Stelle als Englisch­leh­rerin in Bogota an. Ohnehin links einge­stellt, poli­ti­sierte sich die Nieder­län­derin ange­sichts des horrenden Armuts­ge­fälles in Kolumbien immer stärker und schloss sich nach einer Rundreise der Rebel­len­armee FARC an. Dort avan­cierte die mehr­spra­chige Gueril­lera bis in die Führungs­ebene. Sie vertrat ihre revo­lu­ti­onäre »Familie« sogar bei den Verhand­lungen mit der Regierung, die mit dem Frie­dens­no­bel­preis gekrönt wurden. Als 2007 ihre FARC-kriti­schen Tage­bücher im Dschungel entdeckt wurden, Tanja selbst aber jahrelang verschwunden blieb, machte das weltweit Schlag­zeilen. Ein fesselnder, dialek­ti­scher Film über eine Lebens­ent­schei­dung, die sich nicht revi­dieren lässt: Nijmeijer wird von Interpol gesucht. (Katrin Hill­gruber)
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La EmpresaR: André Siegers, DE 2023 | DOK.inter­na­tional

Aus der Perspek­tive eines deutschen Filmteams erzählt, beleuchtet André Siegers Doku­men­tar­film eine der selt­samsten Touris­ten­at­trak­tionen der Welt: Eine Simu­la­tion des illegalen Gren­zü­ber­tritts aus Mexico in die USA aus dem Dorfe El Alberto.
Hierbei steht nicht nur der Übertritt an sich im Vorder­grund, sondern auch die Bewohner des Dorfes, an dem die Touris­ten­at­trak­tion statt­findet. Dieje­nigen, die Familie auf der anderen Seite der Grenze haben. Dieje­nigen, die den Übertritt selbst eventuell noch vor sich haben. Und dieje­nigen, die wissen, dass sie auf ihrer Seite der Grenze ein gutes Leben haben.
Ehrlich, in schönem Schwarz-Weiß gehalten, zeigt dieser Essayfilm nicht nur, wie einfach es ist, Grenzen selber zu erschaffen, sondern auch, wie man diese über­winden kann. (Stella Kluge / LMU München)
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Eigent­lich eigent­lich Januar
R: Jan Peters / D 2022 / Best of Fests

Jan Peters
(Foto: DOK.fest München | Jan Peters)

Den Januar, den nüch­ternsten aller Monate, will er in 31 Sequenzen à drei Minuten fest­halten – so Jan Peters‘ Plan. Was folgt, ist eine einzige herrliche Abschwei­fung auf altem, zum Teil der Zerset­zung durch das Erdreich und andere Substanzen preis­ge­ge­benem Film­ma­te­rial. Mit dieser Methode mate­ria­li­siert der manische Tage­buch­schreiber Peters die verrin­nende Zeit und seine Refle­xionen darüber: Sei es zum »Bild­ab­fall der Geschichte«, zum »Unglücks­ver­spre­chen deutscher Punktexte«, zu Schreib­blo­ckaden oder To-Do-Listen, die sich immer weiter perp­etu­ieren. Indem er über alte Fotos seiner eigenen Familie nachsinnt und ab welchem Punkt diese zu »Waisen­bil­dern« werden, holt Peters wie nebenbei die jüngere deutsche Geschichte in seinen Mahlstrom aus Gedanken. So überzeugt sein Film neben der origi­nellen Optik auch sprach­lich – als essay­is­ti­scher Hoch­ge­nuss, der in seinen besten Momenten an lite­ra­ri­sche Colla­gisten wie Arno Schmidt oder Rolf Dieter Brinkmann erinnert. (Katrin Hill­gruber)
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Für immerR: Pia Lenz, DE 2023 | DOK.deutsch

»Für immer« sind die Worte, an die sich fast jedes Liebes­paar vehement fest­zu­klam­mern scheint. Doch was bedeuten sie wirklich? Für immer ohne eine Pause vonein­ander? Was, wenn Schick­sals­schläge jene Vision in eine Illusion umwandeln?
Dieter und Eva sind bereits seit 70 Jahren ein Paar. Jedoch haben Höhen und Tiefen, Neuzu­wachs und Verlust gezeigt, dass Geduld der wich­tigste Bestand­teil einer so langen Liebes­be­zie­hung ist.
Ganz in diesem Sinne erzählt Pia Lenz in Für immer über die Beziehung der Hoch­be­tagten. Still und anmutig begleitet sie der Film in ihren alten Jahren und hört ihnen mit so einer Seelen­ruhe zu, dass das Gefühl von Hoffnung auf eine unend­liche Zwei­sam­keit verbreitet wird, die einen mit einem süßen Nach­ge­schmack aus dem Film rausgehen lässt.
(Stella Kluge / LMU München)
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Manifesto
R: Angie Vinchito, Russland 2022 | DOK.focus POWER OF MEDIA?

Ein Mädchen, blond, um die zwölf, wünscht dem Land einen guten Morgen. Sie nuschelt verschlafen, ist offen­sicht­lich gerade erst aufge­wacht. Die Kamera wackelt, sie filmt sich. Zu Beginn zeigt Manifesto, wie viel Teenager von ihrem Leben im Internet doku­men­tieren, von der ersten Tasse Tee ab, egal wie scheinbar insi­gni­fi­kant. Dann wünscht man sich diese Insi­gni­fi­kanz zurück. Manifesto ist ein Mosaik aus Videos, das Regisseur:in Angie Vinchito aus Social-Media-Videos russi­scher Teenager zusam­men­ge­fügt hat. Viele dieser Clips sind schwer anzusehen, sie zeigen sexuelle und physische Gewalt, Selbst­ver­let­zung und Amokläufe. Alles wird durch die Linse der Teenager gezeigt, teils kommen­tieren sie, weinen, singen, schreien Parolen, manche filmen mit stiller Anklage. Der Film zeigt jedoch auch, wie univer­sell Szenen von Schul­strei­chen und Gekicher wirken. Die Unschuld, die auf die Gewalt prallt, berührt und verstört. (Maria Krampfl / LMU München)
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Paradise
R: Alexander Abaturov, FR/CH 2022 | DOK.inter­na­tional

Mit dem Schmelzen des letzten Schnees beginnt für die Menschen im Nordosten Sibiriens ein Kampf gegen die Wald­brände: ein Kampf gegen Goliath. Es ist, so das Gesetz, gegen die sich wuchtig ausbrei­tenden »Feuer­dra­chen« keine profes­sio­nelle, staat­liche Inter­ven­tion zu erwarten. Abaturov und sein Kame­ra­mann Paul Guilhaume (Best Cine­ma­to­graphy IDFA 2022) nehmen uns auf eine bild­ge­wal­tige Reise in eine Hölle mit, in der viel gelacht wird. Harte Fakten über das Leben der Dorf­be­wohner werden kontras­tiert mit einer lokalen Thea­ter­probe, was für den Zuschauer eine magische Flucht vor der Realität zulässt. Bis uns wieder das tosende Inferno einholt. Ein Film über Menschen, die trotz allem immer an ihre Nächsten denken – und ein Film, der auf den Haupt­preis hoffen darf. (Thomas Slatter / HFF München)
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