16.02.2023
73. Berlinale 2023

73. Berlinale: Kurzkritiken

73. Berlinale 2023

Kurz, aber schnell: Die »artechock«-Schlaglichter auf Filme aus allen Sektionen

Von Redaktion

Sonntag, 26. Februar 2023

Past Lives (USA 2022 · R: Celine Song · Wett­be­werb)

Stell dir vor, du schreibst ein Drehbuch, das du jedem Publikum der Welt vorsetzen kannst, weil es univer­sell ist und dennoch spezi­fisch erzählt? Das von unserer Zeit, aber irgendwie auch allen anderen Zeiten handelt? Wo mindes­tens die Hälfte mit feuchten Augen aus dem Kino rauskommt, weil diese Geschichte nach­fühlbar persön­lich ist und Mut zur Emotio­na­lität hat, ohne dabei ins Kitschige abzu­gleiten? Die neben dem Liebes­thema spie­le­risch und dennoch profund meta­phy­si­sche Themen bespielt, die einen riesigen Raum öffnen, daneben aber auch Poli­ti­sches, wie etwa zwischen zwei Welten zu leben, oder verdammt nochmal, zwischen zwei Männern aus zwei verschie­denen Welten? In die du auch noch produktiv deine Auto­ren­per­spek­tive und das Wesen des Fiktio­nalen verpackst? Stell dir vor, das ist dann auch noch ein Debüt...?
Und jetzt stell dir vor, es gewinnt so ein Nicht-Drehbuch wie das von „Music“ die Kategorie – das nennt man dann wohl Berlinale. See you at next year’s Oscars, baby. (Sedat Aslan)

Samstag, 25. Februar 2023

Roter Himmel (D 2023 · R: Christian Petzold · Wett­be­werb)

Roter Himmel, oder: Wie sich das Bürgertum selbst begafft. Ja, der Film hat Humor und Thomas Schubert verleiht einer eindi­men­sional geschrie­benen Figur so viel von seinem beson­deren Charme, dass man bei der Stange bleibt. Doch die Themen – der kreative Schaf­fens­pro­zess, die binäre und nicht-binäre Liebe, Grup­pen­dy­na­miken, nicht zuletzt die Vergäng­lich­keit – kommen übers Triviale nicht hinaus. Der Film existiert in seiner eigenen Blase, und nur in dieser Blase findet er auch Resonanz. Eine Blase, in der die Leute dankbar sind, wenn man in einem durch und durch lite­ra­ri­schen Film auch mal schmun­zeln darf. Entspre­chend kritisch muss man die Ästhetik des petzold’schen Grundkurs Filme­ma­chen durch­leuchten: Um eine hypno­tisch-traum­ar­tige Wirkung zu erzielen, die nicht aus dem Material heraus entspringt, klatsche man einen entspre­chenden Song an Anfang, Mitte und Ende; wenn dem Film Poesie abgeht, überhöhe man die Frau­en­figur bis hin zum puren Symbo­lismus und lasse jemanden nicht ein-, sondern gleich zweimal Heine im On rezi­tieren; in einer Szene mehr als 1-2 Sachen zu verhan­deln, würde ja die Möglich­keiten des Mediums ausreizen, damit wollen wir gar nicht erst anfangen; und der bildungs­bür­ger­liche Seiten­blick auf die Antike (hier: Pompeji) darf natürlich auch nicht fehlen. In einer besseren Film­kultur würden die jungen Film­schaf­fenden sich an Leinwände fest­kleben und sagen, es war lange gut, aber jetzt brauchen wir etwas Neues – anstatt dieses Kino auch noch nach­zu­ahmen und zu einer de-facto Mono­kultur zu machen. (Sedat Aslan)

After (F 2023 • R: Anthony Lapia • Panorama)

Die Nacht endet trostlos. Eben noch im eksta­ti­schen Taumel, Flirten, Heimweg, die Party zu Hause ausklingen lassen. Dann: Diskurs über Armut, Dekadenz, Klas­sen­ver­hält­nisse, Über­heb­lich­keit, bis der Raum ins Dunkel stürzt. Die Zeit der Welt­flucht ist vorbei. Anthony Lapia insze­niert selbige in einigen der inten­sivsten Party­szenen der letzten Jahre. Konse­quent übersetzt er die Ausschwei­fung des Tanzes in filmische Form und haptische Bilder. Körper­frag­mente, Rauschen, Dunkel­heit, entfes­selte Kamera, Stro­bo­skop, Musik, die Worte verschluckt. Eine Zeit, die Grenzen auflöst und Menschen zur kulti­schen Masse formt. Setzt sie sich im Alltag erneut zu einer revo­lu­ti­onären zusammen? Techno als Utopie. (Janick Nolting)

Seneca (DEU/MAR 2023 • R: Robert Schwentke • Berlinale Special)

Die große John-Malkovich-Show oder: Volks­bühne im alten Rom. Wobei, Rom ist schon unter­ge­gangen. Da stehen teils nur noch Kulissen-Reste im Nirgendwo. Gestern und Heute im Kollaps: Soldaten reiten an Strom­trassen vorbei. Geschichts­kino mit V-Effekt. Seneca, der große Prophet und Sozi­al­kri­tiker oder doch nur ein dreister Oppor­tu­nist, der von dem zehrt, das er anpran­gert? Schwentke holt in alle Rich­tungen aus, lässt seinen Anti­helden quasseln und quasseln und über­schätzt viel­leicht seine konstru­ierte Ambi­va­lenz. Aber, meine Güte, was für ein wahn­wit­ziges, blut­spru­delndes Sterbe-Spektakel, was für ein hemmungs­loser Exzess! Filmi­sches Bürger­schreck-Theater. (Janick Nolting)

De Facto (DEU, AT 2023 • R: Selma Doborac • Forum)

Der wahr­schein­lich extremste Berlinale-Film 2023. Mit Sicher­heit einer der klügsten. Selma Doborac gelingt ein unheim­lich faszi­nie­rendes Ringen mit psycho­lo­gi­schem Spiel. Zwei Darsteller sitzen im grünen Idyll und lesen zwei Stunden in langen Einstel­lungen Barba­rischstes vor, inspi­riert von den Verbre­chen des Dritten Reichs. Welche Perfor­ma­ti­vität kann ein Film allein über verbale Äuße­rungen herstellen? Gesagtes und Gezeigtes erscheinen im vers­tö­renden Kontrast. Wann wird der Darsteller zu dem, was er spricht? Welche Distanz kann er wahren, um das Böse zu spielen? Der Körper mit seinen Regungen ist immer schlauer. Spielend in den Abgrund steigen, der Tempel Bildung ist seiner Unschuld beraubt und langsam geht die Sonne unter. Dann der Lärm. Meis­ter­hafte Form­strenge! (Janick Nolting)

Freitag, 24. Februar 2023

Bis ans Ende der Nacht (D 2023 · R: Christoph Hoch­häusler · Wett­be­werb)

Robert ist Cop und liebt Lennart, der Drogen vertickt und Frau werden will. Beides findet Robert nicht so toll. Lennart, nunmehr Leni und im Knast, bekommt das Angebot auf Haft­ver­kür­zung, wenn sie mit Robert den ehema­ligen DJ und jetzigen Drogen­händler Victor inkognito zur Strecke bringt, bei dem sie früher (als Lennart) Tonin­ge­nieur war – und da fängt der Film erst an! Es spricht für Hoch­häusler, dass man ihm die wacklige Grund­prä­misse abkauft. Was man ihm nicht abkauft: dass Michael Sideris ein geris­sener Geschäfts­mann/Krimi­neller sein soll; behaup­tete Szenen wie die am Sport­platz; sowie das arg klassisch geratene Ende mit unnötigem „Deppen-Doinel“ (s. „Totem“ – dass es dafür noch keine Website gibt…?!) Was man ihm aber sehr gerne abkauft: die Lust am Genre; die beiden Casting-Voll­treffer Timocin Ziegler und Thea Ehre, die sich faszi­nie­rend abstoßen und sogleich wieder anziehen; wie er Frankfurt am Main gekonnt als facet­ten­rei­chen Spielort nutzt, ohne ins Klischierte oder Pitto­reske abzu­gleiten; und wie er der Versu­chung nicht unter­liegt, die Trans-Frau zu objek­ti­fi­zieren. Ein grafesker, manchmal sogar lynche­sker Nachttrip, auf den man sich einlassen sollte. (Sedat Aslan)

Donnerstag, 23. Februar 2023

Limbo (AUS 2023 · R: Ivan Sen · Wett­be­werb)

Slowb­urner unter der gleißenden Sonne Austra­liens: Ivan Sen ist Kame­ra­mann, Regisseur und Editor dieses Neo-Noirs, der die prähis­to­risch-karge Land­schaft des austra­li­schen Outbacks, analog zu den seeli­schen Narben der Figuren, in schwarz-weiß und Cine­ma­scope in Szene setzt. Der Gegenpol sind die allge­gen­wär­tigen Höhlen und Grotten als Sinnbild für äußere und innere Exile. Obwohl der Prot­ago­nist, einem 20 Jahre zurück­lie­genden Mordfall mit offenbar rassis­ti­schem Hinter­grund auf der Spur, über die endlos weite Prärie brettert, hat der Film ein gemäch­li­ches Tempo, setzt auf Atmo­sphäri­sches statt auf Knall­ef­fekte, zerzwie­belt tief verwur­zelte Traumata statt auf ein befrie­di­gendes Ermitt­lungs­er­gebnis hinzu­ar­beiten. Ein gelun­gener (mono­chromer) „Farb­tupfer“ im Wett­be­werb. (Sedat Aslan)

Cidade Rabat (PRT/FRA 2023 ⋅ R: Susana Nobre ⋅ Forum)

Helena lässt das Leben wie etwas geschehen, was ihr einfach zustößt. Lässt es über sich ergehen, als hätte sie jede Möglich­keit eingebüßt, ein Reso­nanz­ver­hältnis zur Wirk­lich­keit zu erzeugen. Als ihre alte Mutter anfängt, Erin­ne­rungs­fotos eines nach dem anderen zu zerreißen, schaut sie durch ihre großen Bril­len­gläser zwar befremdet, vermag aber nicht, auf die Zeichen des Abschieds zu reagieren. Dann erstarrt die Wirk­lich­keit in proto­kol­la­ri­schen Abläufen: Routinen des Alltags, Begräbnis, Behörden, Auflösung der Wohnung der Mutter in der Rua Cidade Rabat.
Susana Nobre zeichnet eine subtil diagnos­ti­sche Studie in Entfrem­dung, die immer Raum für Empathie bereit­hält. Das Ende bietet einen versöhn­li­chen Weg zurück ins Zusammen-Leben mit den anderen, wirkt aber viel­leicht doch zu schlicht und ergrei­fend. (Wolfgang Lasinger)

Notes from Eremocene (SVK/ CZE 2023 ⋅ R: Viera Čákanyová ⋅ Forum)

Zwischen analoger Nostalgie und digitaler Euphorie, so lotet Viera Čákanyová unsere Gegenwart als die Zeit aus, in der womöglich alles vergeigt worden sein wird. Die Filme­ma­cherin proji­ziert sich als virtu­elles Ich in die Zukunft und wirft von dort einen Blick zurück auf unsere Epoche. Spuren hinter­lassen, Zeugnis ablegen – die Stimme einer künst­li­chen Intel­li­genz tritt dabei in Zwie­sprache mit der natür­li­chen Stimme der Regis­seurin und steckt eine beklem­mende Zone ab, die des Eremozäns. So nennt der ameri­ka­ni­sche Biologe Edward O. Wilson das auf das Anthro­pozän folgende Zeitalter der Isolation, das unsere nämlich. Dieser Film ist ein expe­ri­men­tell-spie­le­ri­scher Essay, der auf sensa­tio­nelle Weise Intel­li­genz und Sinn­lich­keit verknüpft. (Wolfgang Lasinger)

Im toten Winkel (DEU 2023 · R: Ayşe Polat · Encoun­ters)

Jeder Täter kann das nächste Opfer sein. Ayşe Polats komplexes Drama über Täter wie Opfer im türkisch-kurdi­schen Konflikt über­rascht mit einem gelun­genen multi­per­spek­ti­vi­schen Ansatz, der vor allem mit der subtilen Schil­de­rung von Lebens­alltag überzeugt und einer unheim­li­chen, aber sinn­vollen Einbe­zie­hung trans­ge­ne­ra­tio­naler Traumata, wie wir es aus dem Shoa-Kontext und filmisch in Who’s afraid of Alice Miller? kennen. Hier ist aber nichts doku­men­ta­risch, sind es die Geister, die einst gerufen, nicht mehr gehen und ein knall­harter Polit-Thriller-Plot, der die kurdische Tragödie gelungen mit dem türki­schen Blick verschränkt auch noch die Frag­wür­dig­keit west­li­cher Anteil­nahme in den Raum stellt. (Axel Timo Purr)

Mal viver (PT 2023 · R: João Canijo · Wett­be­werb)

Ein Rätsel der Berlinale lautet, warum sich das Diptychon Mal viverViver mal des Portu­giesen João Canijo auf die zwei Sektionen Wett­be­werb und Encoun­ters aufteilt. Gab es zu wenig Filme für den Wett­be­werb? In dem Zwei­teiler, der wie Alain Resnais’ Smoking/No Smoking zwei Mal die gleiche Story in Variation erzählt, treffen drei Frau­en­ge­nera­tionen aufein­ander: die erwach­sene Tochter, die Mutter, die Groß­mutter. Im mondänen Hotel, das im Fami­li­en­be­sitz ist, hebt eine heftige Fami­li­en­auf­stel­lung gegen­sei­tiger Schuld­zu­wei­sungen und psych­ia­tri­scher Selbst­dia­gnosen an. In langen Einstel­lungen bettet sich der Streit der Frauen in die warme Holz­ar­chi­tektur des Hotels, vor dem symbo­lisch aufge­laden der Swim­ming­pool lockt. (Dunja Bialas)

Viver mal (PT 2023 · R: João Canijo · Encoun­ters)

Das Echo zu Mal viver, dem ersten Teil des portu­gie­si­schen Dipty­chons, das sich auf zwei Berlinale-Sektionen verteilt. Der zweite Teil ist nicht so sehr Gegen­schuss, wie im Programm­heft angekün­digt, vielmehr Seiten­blick auf das etablierte Thema: das allzu proble­ma­ti­sche Mutter-Tochter-Verhältnis. In drei Episoden tauchen wir in das verkorkste Leben dreier Familien ein, das im Hotel der Haupt­fa­milie seinen Höhe- und Endpunkt findet. Immer geht es um die freie Entfal­tung von Libido und Persön­lich­keiten, und wie Mütter wehleidig, narzis­tisch und ödipal dazwi­schen­stehen. Am Ende hätte man sich doch auch noch eine opti­mis­ti­schere Variante gewünscht, aber wie hätte das wohl zu einem Zwei­teiler über das schlechte Leben gepasst? (Dunja Bialas)

Mittwoch, 22. Februar 2023

Allens­worth (USA 2022 · R: James Benning · Forum)

Allensworth
(Foto: Courtesy of the artist and neuger­riem­schneider, Berlin)

Der 72. Film von Landscape-Spotter James Benning führt ins kali­for­ni­sche Allens­worth. Gegründet 1908 war es die erste Siedlung von Afro-Ameri­ka­nern, ein histo­ri­sches Bild im Abspann doku­men­tiert die Anfangs­zeit. Wie einen Wand­ka­lender unter­teilt Benning seinen Film, geht mit den Monats-Kalen­der­blät­tern Ansichten von Sied­lungs­häu­sern durch, die noch die bauliche Signatur der ersten Zeit haben. »Free Library« steht auf einem mint­far­benen Holzhaus mit Veranda, oder: eine drei­ge­teilte Scheune in der öden Land­schaft. Nur im August schert er aus der strengen Kompo­si­tion aus, ein Mädchen liest in histo­ri­schem Kleid eine afro­ame­ri­ka­ni­sches Lang­ge­dicht. Jede Einstel­lung hält Benning in gewohnt minu­ten­langer Einstel­lung, reizt das Bild aus, bis zum nächsten Monat. Ein weiterer Meilen­stein in Bennings ganz eigener »Americana«. (Dunja Bialas)

Tótem (MEX/DEN/F 2023 · R: Lila Avilés · Wett­be­werb)

Wie in Vinter­bergs Das Fest drehen sich die Gescheh­nisse eines einzigen Tages um ein schwarzes Loch, oder besser: die im Film erwähnte schwarze Sonne, die für einen anfangs unsichtbar bleibt, auf deren Existenz man aber aufgrund der beob­ach­teten Umlauf­bahnen genau schließen kann. Wie rückwärts laufende konzen­tri­sche Kreise, wenn die sich klug zurück­hal­tende Kamera einen ganzen Fami­li­en­kosmos streift, der Film dabei aber nie ins Klischee­hafte oder Rühr­se­lige abgleitet, verengt sich das Sujet, bis es zur schönsten Vater-Tochter-Umarmung seit Aftersun kommt. Dann beginnt es, das große Fest, das aber auch ein Abschied ist, und ein Kind in Clowns­perücke singt sich mit Playback auch in unser Herz, sind wir doch schlei­chend längst Teil dieser Familie geworden. Am Ende steht ein verlas­sener Raum da, wirft mehr Fragen auf als er beant­wortet, doch darüber könnte man fast schon einen neuen Film drehen. (Sedat Aslan)

AI: African Intel­li­gence (PRT/SEN/BEL 2022 · R: Manthia Diawara · Forum Expanded)

Eine 100-jährige tanzt sich die Seele aus dem Leib. Aber das ist natürlich nur die Ober­fläche, geht es hier ganz im Sinne Ngũgĩ wa Thiong’os um eine Deko­lo­nia­li­sie­rung indigenen afri­ka­ni­schen Denkens, das hier anhand des sene­ga­le­si­schen Ndeup-Rituals exerziert wird. Weiße Wissen­schaftler vor Ort und der malische Regisseur stellen das Beses­sen­heits­ri­tual in die Nähe physi­ka­li­schen Denkens, das mit anderen Methoden ebenfalls das Unsicht­bare ergründen will. So erfri­schend der Gedanke gerade mit der Verknüp­fung zu AI-Black­boxen ist und mit klas­si­scher ethno­gra­fi­scher Kamera fest­ge­halten wird, so sehr nerven die selbst­ge­fällig einge­spro­chenen Kommen­tare des Regis­seurs, der sich am Ende auch nicht von seinem Material lösen kann und in endlosen Wieder­ho­lungs­schleifen das tolle Thema fast zugrunde richtet. (Axel Timo Purr)

Dienstag, 21. Februar 2023

Infinity Pool (CA, HR, HU 2022 · R: Brandon Cronen­berg · Berlinale Specials)

Naked Lunch meets Eyes Wide Shut. Ein Schrift­steller mit Schreib­blo­ckade sucht mit seiner Freundin in einem Resort nach Inspi­ra­tion, gerät aber bald in die Fänge eines vermeint­li­chen Fans und findet sich nach drogen­ge­tränkten und masken­be­wehrten Sex- und Blut­rausch-Orgien allein am titel­ge­benden Infinity Pool. Cronen­bergs Sohn spielt mit der Angst vor Doppel­gän­gern, versackt dann aber in der einen Idee, anstatt die nächste Stufe zu zünden. Viel­ver­spre­chend kündigt eine schwin­del­erre­gende Bild­dre­hung inno­va­tive Ästhetik an, mehr als eine 80er-Jahre-Orgien­fan­tasie gibt’s dann aber nicht mehr. Auch politisch werden nur Korrup­tion und Guan­ta­namo serviert, wo erheblich mehr angelegt war. Und wenn Doppel­gänger aus der Retorte kommen, verlieren sie sowieso ihren Schrecken. Ein kurzes gelun­genes Weibliche-Brust-Phantasma ist dann auch schon geschenkt. (Dunja Bialas)

Die Fabelmans (USA 2022 · R: Steven Spielberg · Hommage)

Das Kino sieht mehr als der Mensch: Wie Spielberg in seinem semi­bio­gra­fi­schen Coming-of-Age-Film die Bezie­hungen der Erwach­senen aus der Sicht seiner ersten Kind­heits­er­in­ne­rungen andeutet und dann mit den Augen des Jugend­li­chen erst wirklich versteht, als er seine Kamera und den Film an seiner Seite hat, das ist nicht nur eine der schönsten Liebes­er­klärungen an offene Bezie­hungs­ar­beit, sondern auch eine der hell­sich­tigsten Bekennt­nisse an die Macht des Kinos. Das hat zwar nicht die düstere Note des sehr ähnlichen Arma­geddon Time von James Gray, aber dennoch erzählt auch Spielberg über das Kleine das Große, erklärt er über die Familie die Welt. Große Filmkunst. → Lang­kritik (Axel Timo Purr)

Here (BEL 2023 • R: Bas Devos • Encoun­ters)

Here
(Foto: Erik De Cnodder | 73. Berlinale 2003)

Endlich Ruhe! Bas Devos befrie­digt Sehn­süchte inmitten des Berlinale-Trubels, inmitten der lärmenden Unge­wiss­heiten der Welt. Melan­cho­li­sche Abschieds­stim­mung sucht sich ihre Flucht in andere Zonen. Ein Gast­ar­beiter steht vor der Abreise, ist weder richtig hier noch richtig dort. Samen in der Hand, ein Suchen nach Verwur­ze­lung. Here durch­misst dabei in hinreißend schönen, kontem­pla­tiven 4:3 Aufnahmen die Stadt. Ein Film über das Gehen, das ziellose Umher­streifen und Abzweigen. Von den hohen Wolken­krat­zern geht es hinein ins mikro­sko­pi­sche Moos­ge­flecht, vom Baulärm in die Stille. Leise beginnt der Regen zu tröpfeln. Menschen kehren gerade so aus der Natur zurück, wo eine zarte Romanze Kate­go­rien sprengt. Ein Highlight in der Encoun­ters-Sektion! (Janick Nolting)

Music (Deutsch­land/ Frank­reich/ Serbien 2023 • R: Angela Schanelec • Wett­be­werb)

Der Mythos ist wieder da und war nie weg. Angela Schanelec zerlegt ihn in Einzel­teile und Begriffe, verstreut seine DNA und Stör­ef­fekte in alle Rich­tungen. Wider­spenstig, langsam, ellip­tisch, aber auch faszi­nie­rend, wie man es von der Regis­seurin kennt. Ihren Stoff lässt sie vom Donner sprengen. Wolken und Nebel­dunst über­ziehen das Gebirge. Wo es nichts mehr zu sehen gibt, zerreißt Grollen die Stille. Wo Ödipus die Sicht verlieren müsste, beginnt er zu singen. Schanelec erzählt die Tragödie einer Autopanne, die Tragödie eines Gefäng­nis­auf­ent­halts, die Tragödie des Über­le­bens. Das anschließende Satyr­spiel zieht musi­zie­rend durch den Wald. Fami­li­en­mit­glieder und Freunde kommen und gehen, ein Sarg wird abtrans­por­tiert, Menschen kolla­bieren, verlieren ihr Leben. Aber wer soll dafür büßen? Der heim­su­chende Mythos, der solchen Vorgängen Bedeutung gibt, ist er Segen oder Fluch? (Janick Nolting)

Talk to Me (Austra­lien 2022 • R: Danny und Michael Philippou • Berlinale Special)

Die Phil­ip­pous zeigen den Albtraum einer jungen Gene­ra­tion. Einfach die künst­liche Hand auf dem Tisch berühren und schon sind die Toten da. Ein Party­spiel und neuer Social-Media-Trend setzt sich durch. Lebens­ge­fahr und Selbst­aus­beu­tung, um Aufmerk­sam­keit zu erhalten und gehört zu werden. Oder ist das doch nur eine große Sucht­me­ta­pher, um mit den Krisen des Heran­wach­sens fertig zu werden? So oder so: Wer den Zenit über­schreitet, wird das Grauen nicht mehr los. Talk To Me gruselt rabiat mit defor­mierten Schreck­ge­stalten, Höllen­vi­sionen, Vers­tüm­me­lungen und fieser Pointe. Grau­en­er­re­gender als die angelegte Mobbing-Thematik kann aber auch das nicht sein. Schade, dass der anfangs kluge Subtext hinterher im üblichen Fami­li­en­trauma- und Trauer-Einerlei verwäs­sert. (Janick Nolting)

Montag, 20. Februar 2023

Samsara (E 2023 · R: Lois Patiño · Encoun­ters)

Samsara
(Foto: Señor y Señora | Berlinale 2023)

Auf der Suche nach dem verlo­renen Urver­trauen: Lois Patiños Betä­ti­gung mit dem Doku­men­ta­ri­schen und Expe­ri­men­tellen fließen organisch in seinen zweiten Lang­spiel­film ein und formen eine medi­ta­tive Reflexion über Leben, Tod und Wieder­kunft, gegossen in Filmkorn. Eine wohlsame Schau von Mönchen, die Smart Gestures nutzen bis hin zu Baby­muränen, die im Einmach­glas schwimmen. Die Sinn­lich­keit dieses Films drückt sich auch darin aus, dass der Schmutz ums Gate genauso zum Filmbild gehört wie das, was es umrahmt. Inmitten dieser meta­phy­si­schen Reise von Laos nach Sansibar setzt Patiño knappe 10 Minuten lang geschlos­sene Augen voraus, wo das Publikum in einer Art inver­tierter Stargate-Sequenz aus „2001: Odyssee im Weltraum“ tran­szen­dental übertritt und im Kollektiv von der eigenen Reinkar­na­tion träumen darf. (Sedat Aslan)

Mit geschlos­senen Augen sehen. Der Meister der umwer­fenden Bilder zeigt erneut, wie sich auch das Unsicht­bare filmisch darstellen lässt. »Samsara« meint den ewigen Kreislauf des Seins, den Übergang der Seele auf einen anderen Körper. Patiños Film beginnt im buddhis­ti­schen Laos, endet in Sansibar. Dazwi­schen liegen Minuten der Seelen­wan­de­rung. Man solle die Augen schließen, sich dem Sound anver­trauen, und erst wieder öffnen, wenn es still ist, fordert eine Texttafel auf. Licht und Farben brennen sich hinter den Lidern direkt auf die Retina. Und was im ersten Teil womöglich sehr religiös und für westliche Ratio esote­risch erscheint, findet bei Seegras­ern­te­rinnen eines Fischer­dorfes zu einem ökono­misch-ökolo­gi­schen Diskurs. Und zwischen ihnen hüpft die kleine Ziege Neema, Wieder­gän­gerin einer alten Frau aus Laos. (Dunja Bialas)

Hello Dankness (AUS 2022 · R: Soda Jerk · Panorama)

The kids are alt-right. Die Pestjahre 2016-2022 als Sample­film, in dem Neighbors, American Beauty, Pen15 und vieles mehr im selben Suburbia ums Eck der Elm Street liegen – und (dank etwas Digital-Retusche) inmitten der Kampfzone US-Politik. Wayne & Garth head­bangen zu »Harambe«, die TMNTs entdecken Pizzagate, Napoleon Dynamite ist von dem Access Hollywood Mitschnitt ange­wi­dert, Herbert Loms Phantom of the Opera hat das Pee Tape im VHS-Schrank. Das ist allemal sehr gewitzt und virtuos (und umso amüsanter, je geläu­figer einem das Film- und Meme-Reservoir ist). Viel­leicht nicht groß mehr – aber immerhin überlässt es das Feld des subver­siven Spiels mit Bildern, Zeichen nicht 4chan und seinen neurechten Konsorten. (Thomas Willmann)

Mammalia (ROM/POL/DEU 2023 · R: Sebastian Mihăi­lescu · Forum)

Ein femi­nis­ti­scher Rite de Passage, die mit langen, festen Einstel­lungen Still­leben fixiert, die Gemälden gleichen und immer wieder verblüffen: eine nach­las­sende Penis­e­rek­tion im Bade­schaum, Fliegen auf einer Tisch­platten mit schla­fendem Mann. Männ­lich­keit wird gegenüber Weib­lich­keit ausge­spielt und völlig neu definiert – dazu gehören esote­ri­sche Horror­mo­mente genauso wie lange, nicht enden wollende Monologe über verlorene Kinder und verlorene Haare, alles vor einer post­so­zia­lis­ti­schen Archi­tek­turt­ris­tesse, die den finalen, aber konse­quent-femi­nis­ti­schen Body Horror treffend surrea­lis­tisch grundiert. (Axel Timo Purr)

Sonntag, 19. Februar 2023

She Came To Me (USA 2023 · R: Rebecca Miller · Berlinale Special Gala)

Schmalz­ge­bäck Amuse-Gueule à la Dieter: Ein Opern­kom­po­nist mit Schreib­blo­ckade. Eine krankhaft roman­tik­süch­tige Schlep­per­ka­pi­tänin. Eine jüdisch-katho­li­sche Psycho­the­ra­peutin mit Putz­fimmel, die sich wohl besser selbst thera­pieren sollte. Ihre polnische Zugehfrau ohne endgül­tige Aufent­halts­ge­neh­mi­gung. Deren rassis­ti­scher Partner mit Fimmel für Bürger­kriegs-Rollen­spiele. Und ihrer aller Kinder in einer Romeo & Julia-Beziehung. Der Eröff­nungs­film sieht sich an wie die Verfil­mung eines National Book Award-Gewinners, insze­niert als erstaun­lich liebes­glücks­gläu­bige RomCom der ‘90er via Woody Allen. (Anna Edelmann & Thomas Willmann)

The Survival of Kindness (AUS 2022 · R: Rolf de Heer · Wett­be­werb)

Wir sind so frei! Und nehmen schon mal die künftige – und ggf. nicht unge­recht­fer­tigte – Jury­be­grün­dung vorweg: »Der Film wird durch seinen bewussten Verzicht auf eine Veran­ke­rung in realen Nationen und realen Sprachen wahrlich univer­sell mensch­lich. Doch durch seine sehr eigene Ästhetik und die Präsenz der markanten Land­schaft und der inten­siven Laien-Haupt­dar­stel­lerin werden abstrakte aktuelle Themen zu einer sehr konkreten persön­li­chen Erfahrung.« Wir persön­lich finden, dass der Film ab der Hälfte seinen Punkt gemacht hat und ihn dann nur noch wieder­holt. Aber was wissen wir schon? (Anna Edelmann & Thomas Willmann)

Kill Boksoon (KOR 2023 · R: Byun Sung-hyun · Berlinale Special)

Küche, Kinder, Killen. Das korea­ni­sche Kino erzählt gerne vom Druck der Leis­tungs­ge­sell­schaft im Genre-Gewand – und tut dies gerne mit allzu üppiger Laufzeit. Es steckt vermut­lich ein schöner 90-Minüter über die Unver­ein­bar­keit von Mutter­schaft und Karriere in Kill Boksoon. Nur dass hier die allein­er­zie­hende Mutter von Beruf Elite-Auftrags­mör­derin mit Fest­an­stel­lung ist. Und dass der Film das leider unter einer weiteren Stunde Pseudo-Coolness, über­flüs­siger Neben­hand­lungen und narra­tiver Brems­schleifen begräbt. (Anna Edelmann & Thomas Willmann)

Arturo a los 30 (ARG 2023 · R: Martín Shanly · Forum)

So war das vor dem März 2020: Wie wir doch alle unab­lässig bemüht waren um unseren Platz im Getriebe der Welt! Der zweite Film von Regisseur, Haupt­dar­steller und Autor Martín Shanly (nach JUANA A LOS 12) ist schon auch ein Stück perfor­ma­tiver Selbst­dar­stel­lung. Aber zum Glück dabei mit einer Dosis Selbst­dia­gnose und einem Augen­zwin­kern gegenüber allzu eitler Kunst. Er ist sehr enstpannt, sehr unauf­ge­regt, ja wirkt manchmal fast ungeformt – und plaziert dann doch immer mal wieder präzise Pointen. Und im Hinter­grund busselt sich Argen­ti­niens unwis­sende Covid 19-Patient Zero munter durch eine Hoch­zeits­ge­sell­schaft... (Anna Edelmann & Thomas Willmann)

BlackBerry (CAN 2023 · R: Matt Johnson · Wett­be­werb)

Zeit ist Geld: Es geht nicht um Gemein­schaft, nicht um Kommu­ni­ka­tion – es geht darum, den Leuten möglichst viele Minuten zu verkaufen. Das ist es, was den Tele­fon­kon­zern überzeugt in eine Verbin­dung von Handy und Mail Computer zu inves­tieren. Black­berry ist quasi das kana­di­sche The Social Network – alles eine Ecke nerdiger, absurder, kleiner. Aber dabei nicht weniger als die Neuer­fin­dung unserer Welt im Zusam­men­spiel von Tech-autis­ti­schen Kinds­män­nern und Risi­ko­ka­pital-Bros mit Aggres­si­ons­pro­blemen. Es ist Matt Johnson hoch anzu­rechnen, dass sein Film zwar enorm amüsant ist – aber den unan­ge­nehmen Kern dieser Männer­ge­sell­schaft immer im Blick hält. (Anna Edelmann & Thomas Willmann)

Jaii keh khoda nist – Where God Is Not (FRA/CHF 2023 • R: Mehran Tamadon • Forum)

Scheitert das Kino? Nach Mehran Tamadons Reenact­ment-Expe­ri­ment sieht es allgemein schlecht aus für die Kunst, noch irgend­etwas in der Welt verändern zu können. Aber es kann erfah­renen Schmerz verar­beiten, Worte finden, Unaus­sprech­li­ches darstellen. Nur wie? Aus Stangen und Brettern entstehen Schau­plätze eines irani­schen Gefäng­nisses. Plündern einer Werkstatt: Aus Alltags­ob­jekten werden schnur­stracks Folter­werk­zeuge und Fesseln. Wie anmaßend kann und darf das Rollen­spiel sein? Stößt die Illusion des Films an ihre Grenzen? In unge­schnit­tenen Einstel­lungen erstarrt die Gegenwart, verführen Worte und Gesten zum (wieder)erlebten Schrecken. Vers­tö­rend und klug in jeder Hinsicht. (Janick Nolting)

Past Lives (USA 2022 • R: Celine Song • Wett­be­werb)

Die Verbin­dung hängt. Endlich haben sich die Kind­heits­freunde Nora und Hae Sung über das Internet wieder­ge­funden. Doch das Bild stockt bereits im Video­te­le­fonat, sie sind inzwi­schen andere. Eine Zusam­men­kunft offenbart die Gräben und Unsi­cher­heiten, die die Migra­ti­ons­er­fah­rung hinter­lassen hat. Südkorea und New York: zwei getrennte Welten, verwor­fene Biogra­fien. Ein anrüh­render Film über Heimat als Wandlung. All die Leben, die zurück­ge­blieben sind, konser­viert in der Erin­ne­rung. All die Leben, die man führen könnte und die jetzt sind. Gegenwart und Vergan­gen­heit, tragi­ko­misch über­la­gert. Fein­fühlig, kompetent insze­niert. A24-Wohl­fühl­kino, Herz­schmerz inklusive. (Janick Nolting)

Das Lehrer­zimmer (DEU 2023 · R: İlker Çatak · Panorama)

Kohlhaas in der Schule. Und das heißt endlich einmal keine dummen Schul­film­dö­de­leien à la Einge­schlos­sene Gesell­schaft mehr. Statt­dessen eine groß­ar­tige Leonie Benesch, die die Gerech­tig­keit im Schul­alltag in die Hand nimmt und in einer ener­vie­renden Abwärts­spi­rale erkennen muss, dass Gerech­tig­keit Unge­rech­tig­keit erzeugen kann, eine Lösung keine Lösung ist und Verstehen kein Verstehen. Dieser fast schon philo­so­phi­sche Überbau wird jedoch so fein mit einem genau beob­ach­teten und realis­ti­schen Schul­alltag verzahnt, dass die Theorie die Geschichte nie kapert und das Ende von einem fast schon surrea­lis­ti­schen Duell gekrönt wird, so ambi­va­lent und klug wie die grund­sätz­li­chen Prämissen dieses Dramas. (Axel Timo Purr)

Disco Boy (F/I/BL/PL 2023 · R: Giacomo Abbruz­zese · Wett­be­werb)

Le soldat inconnu: Giacomo Abbruz­zeses erster Spielfilm ließe sich problemlos post­mi­gran­tisch, post­ko­lo­nia­lis­tisch oder gender­kri­tisch lesen. Die Stärke des Films aber ist die außer­ge­wöhn­liche und dennoch stil­si­chere Ästhetik. In drei gleich langen, ellip­tisch und unbe­re­chenbar erzählten Akten liefert Disco Boy kein vorder­grün­diges Narrativ und auch keine wohl­feilen didak­ti­schen Fragen à la »Wie kann man ein guter Mensch bleiben in einer schlechten Welt?«. Statt­dessen legt der Filme­ma­cher seinen Fokus auf die Wirkung seiner Schau­spieler (Franz Rogowski in einer seiner besten Rollen), der mit beängs­ti­gender Konstanz immer wieder groß­ar­tigen Kame­ra­frau Hélène Louvart und eines hynotisch-trance­ar­tigen Erzähl­kosmos, in dem Genres und deren Tradi­tionen auf einer dauer­dämm­rigen Leinwand verschmelzen. Eine aufre­gende neue Stimme im Weltkino, wie ich sie seit Harmony Lessons nicht mehr auf der Berlinale gesehen habe. (Sedat Aslan)

Krieg als Chance als Reali­täts­ver­lust. Giacomo Abbruz­zese zeigt Franz Rogowski auf dem Weg zur Desil­lu­sio­nie­rung, hinein in die Stim­mungen der Nacht. Die Frem­den­le­gion als Aussicht auf Zugehö­rig­keit, dann das böse Erwachen. Surreale Ellipsen, kanon­be­wusst insze­niert und innovativ zugleich. Gegen Krieg, gegen eine natu­ra­lis­ti­sche Gewalt­dar­stel­lung. Das gegen­sei­tige Erkennen im ange­rich­teten Schrecken färbt das Auge, teilt die Sicht. Ebenso unter­nimmt es dieser Film mit seinen spröden und sinn­li­chen, konkreten und abstrakten Visionen. Faszi­nie­rendes Irrlicht­spiel in Neon, Matsch und Infrarot. (Janick Nolting)

Samstag, 18. Februar 2023

Irgend­wann werden wir uns alles erzählen (DEU 2023 · R: Emily Atef · Wett­be­werb)

Der deutsche Film lebt doch noch. Und wie. Spätes­tens in dem Moment, als am Essens­tisch das so iden­ti­täts­stif­tende wie heimat­ver­lo­rene „Wir sind die Moor­sol­daten“ erst zart, dann immer lauter ange­stimmt wird, ist klar, dass Emily Atef hier ein großer Wurf gelungen ist. Kongenial wird die archai­sche, hams­uneske Sprache von Daniela Kriens Roman (Kriens war mit am Drehbuch beteiligt) in Bilder und Farben übersetzt, die so stark sind, dass man meint, sie riechen zu können. Wie bei Fontane deutet die wuchtig foto­gra­fierte Natur das grollende Unheil einer stark gespielten Amour fou an, sehen wir endlich wieder den Mut zu ambi­va­lenten Sexszenen und nackten Männern, wird wie nebenbei sogar noch ein poli­ti­scher Diskurs über die zwei Deutsch­land geführt. Und gibt es Dialoge fern von Stan­gen­ware, die über­ra­schen, auch wenn sie, wie kurz vor dem Ende, durch zu viel Pathos fast entgleiten. (Axel Timo Purr)

The Shadow­less Tower (CHN 2022 • R: Zhang Lu • Wett­be­werb)

Zwischen­mensch­liche Lähmung. Unaus­ge­spro­chenes liegt mal wieder in der Luft, private Krisen sind unthe­ra­piert. Gene­ra­tionen als bloße Spie­gel­bilder? Welche Schatten werfen wir im Leben anderer? Sterben müssen alle, auch wenn es bis dahin bitter zugeht. Zhang Lu formt Univer­selles zu heraus­ra­gendem Kino. Ein Film über Peking und seine Geister, das Verlieren in der Großstadt. Nostalgie und Traumata zersplit­tern das Jetzt. An der Ordnung will sich einfach nichts ändern. Trösten und Verletzen liegen eng zusammen und setzen sich unentwegt fort. Nur vorü­ber­ge­hend finden Menschen in melan­cho­li­schen Minia­turen zusammen. In langen Einstel­lungen verläuft die Zeit. Alltags­geräu­sche werden zum Rauschen oder Schlagen einer Uhr, die keinen Takt ergeben will. Jede Szene, jede Einstel­lung in diesem Film ist ein Meis­ter­werk für sich. (Janick Nolting)

Das Lehrer­zimmerr (DEU 2023 · R: İlker Çatak · Panorama)

Als wenn man eine AI mit Drama­tur­gie­lehr­büchern füttert: Setting und Grund­si­tua­tion sind spannend, endlich mal kein plumper Pennä­ler­film, denkt man, sondern etwas, wo die Insti­tu­tion Schule ernst genommen wird, doch wird schnell klar, dass es sich um eine von einem MacGuffin befeuerte Versuchs­an­ord­nung handelt, die ebenso in einem Sana­to­rium oder auf hoher See hätte spielen können. Alle Figuren verbeißen sich stumpf in den sprich­wört­li­chen Hügel, für den man unter­zu­gehen bereit wäre, und Co-Autor und Regisseur İlker Çatak steht auf dem Hügel der größt­mög­li­chen Zuspit­zung und sieht runter. Wie lebendig Maren Ades wesens­ver­wandtes (und nicht weniger mani­pu­la­tives) Debüt Der Wald vor lauter Bäumen dagegen ist. Der rettende Hafen ist European Shooting Star Leonie Benesch, die ungleich nuan­cierter agiert als der Film um sie herum. (Sedat Aslan)

Freitag, 17. Februar 2023

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (DEU 2023 · R: Sonja Heiss · Gene­ra­tion 14plus)

Eine gute Entschei­dung – die Gene­ra­tion 14plus eröffnet mit Sonja Heiss‘ Verfil­mung von Joachim Meyer­hoffs frühen Jahren! Zwar ist es immer wieder entsetz­lich, was Heiss an inhalt­lich wichtigen Lücken reißt, doch letzt­end­lich kann es bei einer zeitlich derartig begrenzten Verfil­mung tatsäch­lich nur ein „Best-Off“ sein, ein „Medley“, das durch die Vorlieben und Inter­pre­ta­tionen der Dreh­buch­au­toren Sonja Heiss und Lars Hubrich austa­riert werden musste. Das funk­tio­niert über­ra­schend gut. Vor allem auch, weil Heiss und Hubrich nicht den Fehler begehen, den so viele deutsche Kinder- und Fami­li­en­filme begehen, in denen nur allzu gern die erodie­renden Bezie­hungen der Eltern und ihr Leben als Trot­tel­pa­rade darge­stellt werden. → Lang­kritik (Axel Timo Purr)

The Survival of Kindness (AUS 2022 · R: Rolf de Heer · Wett­b­er­werb)

Cormac McCarthy goes Corona. Rolf de Heers Intro­spek­tion einer verseuchten Welt, in der nur noch die Indigenen ohne Gasmaske überleben können, ist jedoch nicht nur Status­be­richt über den Verlust von Mensch­lich­keit während und nach Corona, sondern auch ein symbo­lisch und alle­go­risch aufge­la­denes Paket über Rassismus, Kolo­nia­lismus und den Verlust von Sprache. So viel von allem und so wenig von nichts, dass man am Ende den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. (Axel Timo Purr)

Notre corps (FRA 2023 • R: Claire Simon • Forum)

Körper als Schlacht­feld. Claire Simon betritt sie in zykli­scher wie frag­men­ta­ri­scher Form: Gebären, Kämpfen, Formen, Vergehen und dann alles von vorn. Routinen einer gynä­ko­lo­gi­schen Klinik. Die Geschichte der einen Person setzt sich in der einer anderen fort oder endet abrupt. Simon öffnet die Tür zur Tabuzone der Behand­lungs­räume: Krankheit, Schwan­ger­schaft, Iden­ti­täts­kon­flikte, Tod. Bewegende Konfron­ta­tionen in Nahauf­nahme. Notre corps verbindet Menschen in biolo­gi­scher Über­wäl­ti­gung. Operiert wird dabei doppel­sinnig mit Bewegt­bil­dern. Menschen verschmelzen mit Robotern im OP, um in andere einzu­dringen. Gewe­be­formen auf Monitoren. Zugleich: ein Versuch in puncto Empathie, wo objek­ti­vie­rende Blicke regieren. Ein Film, der die Berlinale, wahr­schein­lich das ganze Kinojahr über­dauern wird. (Janick Nolting)

Donnerstag, 16. Februar 2023

She Came to Me (USA 2023 · R: Rebecca Miller · Berlinale Special Gala)

Es gehört schon eine Menge Mut dazu, die Berlinale mit einer roman­ti­schen Komödie zu eröffnen, einem ausster­benden und viel geschol­tenen Genre. Aber jeder hat eine zweite Chance verdient, das gilt für die Berlinale genauso wie für die Prot­ago­nisten dieses leichten und harmlosen, dann aber auch fein­füh­ligen und am Ende auch poli­ti­schen Films, der einmal mehr die sozio­po­li­ti­schen Gräben in den USA bloßlegt und ein Schau­laufen für Peter Dinklage ist. Und dem es tatsäch­lich glaubhaft gelingt, ein in ameri­ka­ni­schen Filmen bislang nie gesehenes Berufs­bild zu roman­ti­sieren. (Axel Timo Purr)