09.03.2023
Cinema Moralia – Folge 296

Der Riss in der Wirk­lich­keit

Barbara Wurm
Frau hat das Wort: Barabara Wurm ist die neue Forums-Leiterin der Berlinale
(Foto: ÖFM/© Mercan Sümbültepe)

Wie öffnen wir das Kino für die Kunst? Ausblick auf ein neues Forum, auf die Zukunft des Films und auf die zukünftige Vergangenheit der deutschen Kulturpolitik – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 296. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Humankind cannot bear very much reality.«
T.S Eliot

»We are in charge, but not in control.«
Dänische Film­för­de­rung

Beim Regie­salon des Bundes­ver­band Regie ging es am Mittwoch in Berlin um die Zukunft des Kinos. Ein weites Feld, doch zugleich ein Thema, das keine Kompro­misse erlaubt. Sie suche mit ihren Produk­tionen nach dem Riss in der Wirk­lich­keit, sagte die Filme­ma­cherin Anna de Paoli da zu Beginn und erinnerte sich, dass man bei Film­för­de­rung ihre ersten dffb-Filme moralisch frag­würdig fand. Aber, so Anna de Paoli weiter: »Moralisch frag­würdig – das ist ja eigent­lich das, worum es geht.«

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Das moralisch Frag­wür­dige und den Riss in der Wirk­lich­keit, den möchte ich endlich auch wieder im »Inter­na­tio­nalen Forum des Jungen Films« sehen.
Das Forum, die Älteren erinnern sich, war einmal die inter­es­san­teste Sektion der Berlinale – auch in jenen Zeiten, in denen die Berlinale unter Moritz de Hadeln bis 2001 noch wirklich ein Festival ersten Ranges war.

Diese Zeiten sind lange vorbei. Seitdem hat vor allem das Forum unter der Popu­la­ri­sie­rungs­po­litik von Dieter Kosslick gelitten. Solange Christoph Terhechte, der Nach­folger der Gründer Ulrich und Erika Gregor von 2002-2018 die Forums-Leitung innehatte, gab es zwar aus meiner Sicht eine ganze Menge zu vermissen und zunehmend auch zu kriti­sieren. Aber noch immer war das Forum eine Alter­na­tive zum Übrigen und der Ort, an dem man im Zwei­fels­fall die inter­es­san­testen Sachen sehen konnte. Vor allem aber war es eine Sektion mit relativ klarem Profil.
Seit 2018 ist auch damit Schluss. In der neuen Berlinale des Direk­to­ren­paares Chatrian und Rissen­beck ist alles diffus geworden. Nie war die Chance so groß, neben diesem schlecht kura­tierten Kraut-und-Rüben-Programm präzise, klare, aber eben auch zum divers inter­es­sierten Berlinale-Publikum offene und wage­mu­tige Entschei­dungen zu treffen und mit einem glas­klaren, poin­tierten Profil zu punkten. Die wirklich unab­hän­gige »Woche der Kritik« hat es – quasi ohne Geld – dem vergleichs­weise gut ausge­stat­teten Forum vorge­macht.
Demge­genüber ist das Forum stur und puri­ta­nisch und vor allem lang­weilig geworden, und hat alles Spie­le­ri­sche ans Panorama und Encoun­ters verloren. Man muss aller­dings um die Filme­ma­cher auch buhlen. Das hat schon Dieter Kosslick nicht verstanden.

Es ist zwar ungerecht so zu kommen­tieren wie dies viele Berliner Lokal­jour­na­listen tun, die die Berlinale als ein zweites Locarno bezeichnen. Aber man tut dem Forum kein Unrecht an, wenn man fest­stellt, dass es eine gesichts­lose Sektion geworden ist, die den meisten inter­na­tio­nalen Gästen nichts zu sagen hat, und die in der Berlinale ihren Platz verloren hat. Die Aufspal­tung in Forum und Forum Expanded macht das alles zusätz­lich kompli­ziert.

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Auch in diesem Jahr habe ich zumindest zwei gute Filme beim Forum gesehen, den rumä­ni­schen Film Between Revo­lu­tions von by Vlad Petri, der auch den Preis der inter­na­tio­nalen Film­kritik erhalten hat, und die argen­ti­ni­sche Komödie Arturo a los 30 von Martin Shanly. Mit Interesse habe ich auch die Bilanz des Kollegen Wolfgang Lasinger letzte Woche gelesen – und ich will das positive Fazit gern glauben, zumal dies vor allem mit älteren Regis­seuren belegt wird, die bereits zu den Zeiten der Gregors im Forum liefen.
Es ist ja jetzt nicht der Platz, die aus meiner Sicht sehr zahl­rei­chen Fehler, Versäum­nisse und die voll­kommen verquer ausge­rich­tete Direktion unter Cristina Nord noch einmal in ihren Einzel­heiten zu kommen­tieren. Sie wird eine Über­gangs­figur bleiben. Nord hatte sich früh mit Teilen des Forums-Teams über­worfen, hatte es in der Pandemie allemal nicht leicht gehabt, und sie hat sich selbst alle Möglich­keiten und die Unter­s­tüt­zung der Gutwil­ligen verbaut, als sie sich schon nach einem Jahr an einer anderen Insti­tu­tion beworben hatte.

Man hat jeden­falls schon länger nicht mehr das Gefühl, man müsse das Forum sehen. Dass ich mit diesem Eindruck nicht allein stehe, zeigt etwa die enttäuschte Bilanz, die die geschätzte nieder­län­di­sche Kollegin Dana Linssen im Filmkrant zog.

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Nun könnte aber alles anders werden. Denn das Forum meldet, dass Barbara Wurm zur Nach­fol­gerin von Cristina Nord ernannt wurde.
Das ist eine wunder­bare Entschei­dung! Und ein Verlust für das Auswahl­ko­mitee der Chatrian-Berlinale, das damit eine seiner wenigen profi­lierten Personen verliert. Wurm ist Film­wis­sen­schaft­lerin und Slavistin. Sie hat für viele Festivals gear­beitet und ist in ihrer zukünf­tigen Aufgabe viel erfah­rener als ihre Vorgän­gerin. Leicht wird sie es trotzdem nicht haben.

Wurm selbst wird in der Pres­se­mit­tei­lung wie folgt zitiert:
»Ich betrachte es als Chance und als Ehre, das Forum leiten zu dürfen, diese so mutige wie geschichts­be­wusste Sektion der Berlinale. Für mich als eine von vielen Kino­gänger*innen ist das Forum durch die enge film­kul­tu­relle und program­ma­ti­sche Anbindung an das Arsenal eine Art 'home base', ein Ort des gemein­samen Entde­ckens und Disku­tie­rens, der kura­to­risch zum Handlungs- und Möglich­keits­raum wird. Hier trifft die Geschichte des Films auf seine Gegenwart, hier öffnet sich das Kino der Welt. Ich nehme die Heraus­for­de­rung, das Forum in diesen politisch, kulturell und gesell­schaft­lich so fragilen Zeiten zu leiten, sehr gerne an – mit Offenheit und Verant­wor­tungs­be­wusst­sein.«

Wir gratu­lieren und wünschen Barbara Wurm viel Glück. Schon im Eigen­in­ter­esse von Menschen, die das Kino lieben und spüren, was sie mit dem Forum in den letzten Jahren verloren haben.

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Sehr anregend war der erwähnte BVR-Regie­salon – nicht nur für den schwe­lenden Konflikt zwischen Regis­seuren und Dreh­buch­au­toren. Es ging auch um das Verhältnis zwischen Industrie und Autoren­film, oder wie es der Dramaturg Timo Gössler formu­lierte: zwischen Stereo­typen und Utopie.
Dabei stimmt es nicht, wie gesagt wurde, dass Utopien heute zu entwi­ckeln oder zu denken sind. Wir können sie nur heute weniger glauben.

Allzu oft wird in Deutsch­land aber über Film geredet, als sei er eine Medizin. Gegen das Böse, für Verbes­se­rung der Welt, Ermu­ti­gung und Vielfalt.
Das stimmt leider nicht. Gerade wenn Film zum Träger wichtiger Inhalte wird und so gewollt ist, fehlt ihm die Qualität.
Wenn ästhe­ti­sche Origi­na­lität mit dem politisch Gewollten gleich­ge­setzt wird, existiert sie selten.

Empower­ment im Film­be­reich müsste heißen, dass man machen darf, was man machen will. Es kann nicht heißen, dass man machen darf, was man machen soll.
Utopien können nicht verordnet werden.

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Solche Anre­gungen kann auch die Kultur­staats­mi­nis­terin gut brauchen.

Der von Claudia Roth jetzt endlich nach langer Verzö­ge­rung vorge­legte Entwurf erster Grund­sätze zukünf­tiger Film­för­de­rung – Eckpunkte sind dies keines­wegs, vielmehr wurden alle Ecken und Kanten wegge­schliffen – zeigt vor allem, wie wenig die Minis­terin in der Materie ist, dass sie noch nicht verstanden hat, wo die Probleme des deutschen Films liegen und dass sie einseitig auf die Produ­zen­ten­ver­bände hört, diese offenbar mit der ganzen Film­land­schaft verwech­selt.
Roths Eckpunkte-Papier hat ein paar gute, aber viel zu allgemein gefasste und in verschie­denste Rich­tungen inter­pre­tier­bare Ideen. Es gibt viel Geschwurbel – etwa die Formu­lie­rung, die FFA solle zu einer »Film­agentur« werden. Was soll denn das sein? Man denkt sofort an die »Bundes­agentur für Arbeit« – und fürchtet das Schlimmste: Film und Kunst nicht mehr als Bürger­recht, sondern als Almosen. Und vor allem Control­ling und Kontroll­wahn: Mikro­ma­nage­ment noch kleinster Details und Büro­kra­tie­rech­fer­ti­gungs- und Über­wa­chungs­fluten wie im schlimmsten Grünen-Albtraum.

Es fehlen klare Grund­sätze – wie zum Beispiel die Befreiung des deutschen Films durch unein­ge­schränkte Trans­pa­renz, Abschaf­fung aller Decke­lungen von Refe­renz­gel­dern und Förder­gel­dern, die Abschaf­fung der Markt­logik, Film­bil­dung an allen Schulen – und es fehlt die Einsicht, dass Film wirt­schaft­lich in Deutsch­land auf keiner Ebene funk­tio­niert. Dass die soge­nannte Wirt­schaft­lich­keit des deutschen Films ein frommer Wunsch ist, erst recht bei großen Projekten.
Statt­dessen Kontroll­wahn, Fest­halten am Grundsatz der »Markt­logik« und das Fest­halten an der fatalen Vermi­schung von Kultur- und Wirt­schafts­för­de­rung, die das Kino hier­zu­lande bereits weit­ge­hend ruiniert hat.

Claudia Roth hat den Riss in ihrer Wirk­lich­keit noch vor sich. Möge er bald kommen!

(To be continued)