13.10.2022
Cinema Moralia – Folge 284

Und dann kommt Björn Böhning um die Ecke...

Peaceful Pill Handbook
Auch die Regisseurin Shirin Neshat, deren Film Land of Dreams bald in die Kinos kommt, hat unterschrieben...
(Foto: W-Film)

Hand an sich legen: Leoparden, Hyänen und andere Tiere – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 284. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Wir sind alt, Chevalley, sehr alt. Es sind zumin­des­tens 25 Jahr­hun­derte, dass wir auf den Schultern das Gewicht hervor­ra­gender ganz verschie­den­ar­tiger Kulturen tragen: alle sind sie von außen gekommen, keine ist bei uns von selbst gekeimt, in keiner haben wir den Ton angegeben.«
- Giuseppe Tomasi di Lampedusa: »Der Leopard«

»Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele: Hier ist erst der Schlüssel zu allem.«
- Goethe

Es muss sich alles verändern, damit alles so bleibt wie es ist – so sagt es Fürst Salinas in Viscontis unver­gleich­li­chem Sizi­li­en­epos Der Leopard und Lampe­dusas Vorlage. Das Kino wächst hier über sich hinaus, wird, was es sein muss: Exis­ten­tiell. Burt Lancaster, der frühere Zirkus­ar­tist wird im Tech­ni­color geadelt zum Raub­tier­aris­to­kraten. In Viscontis Namen darf er hier auch so schöne wahre gute Sätze sagen wie diesen: »Ich gehöre einer abtre­tenden Klasse an. Die Sizi­lianer, seit 2.500 Jahren Kolonie, wollen Schlaf, Tod, Unbe­weg­lich­keit. Wir waren Adler, Leoparden; an unsere Stelle treten Lämmer und Geier.«
Der eigent­liche Höhepunkt des Films ist aber nicht die vier­zig­mi­nü­tige, grandiose Ball-Sequenz, sondern das Danach: Salinas tritt hinaus in den grauenden Morgen, Schüsse irgendwo in der Ferne kartät­schen die Revo­lu­tion nieder und er weiß, es ist vorbei mit allem. Es ist trotzdem schön und es bricht einem das Herz.

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Das Herz bricht aus vielen Gründen.

Kein Tag vergeht, ohne dass ich seit dem 13. September an JLG denke. Es rührt mich, immer noch immer wieder an ihn zu denken. An seine letzten Stunden. Ich weiß auch nicht, warum.

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»Aber noch ist es nicht so weit, eben haben wir ja erst mühevoll die Türe aufge­stoßen, uns halbwegs einge­richtet in einer Fins­ternis, die niemals voll zu erleuchten sein wird, warum nicht, soll noch gesagt werden. Aber hat man denn nicht schon aller­orten Leucht­fa­ckeln ange­zündet? Gibt es nicht Psycho­logie, uns zu helfen? Sozio­logie, uns zu orien­tieren? Existiert nicht lange schon ein Forschungs­zweig, der sich Suizido­logie nennt und dem bedeu­tende wissen­schaft­liche Arbeiten zu verdanken sind? Natürlich...« – Jean Amery

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Es ist ein sehr schöner Nachruf, einer der schönsten, den Georg Seeßlen auf epd-Film zu Godard geschrieben hat.

Allein der Anfang: »Jeder neue Film von Jean-Luc Godard hat uns vor Augen geführt, welch absurdes Unter­fangen Film­kritik eigent­lich sein kann. Nicht nur, weil Godards Filme immer schon gerade dort waren, wohin man mit Texten noch nicht (oder nie) gelangen konnte, sondern auch, weil seine Filme ja immer schon selbst Kritik waren. Kritik des Films, Kritik des Bildes, Kritik der Worte, des Sehens, Hörens, Lebens. In vielen Filmen von Godard passiert etwas, das wie eine Loslösung erscheint, als würde ein Film sich irgend­wann vom Wollen derer, die ihn machen, lösen, sich wie ein unruhiger Fluss den eigenen Weg suchen und nicht nur über­ra­schende Wendungen, sondern auch Staus, Inseln, Schnellen erleben und umgekehrt die ›machen‹, die ihn produ­zieren und viel­leicht auch die, die ihn sehen. Ein Film by Godard oder ein Godard by Film. Godard jeden­falls ist der Name für eine Sphäre, in der sich Bilder, Worte und Klänge auf eine neue Weise orga­ni­sieren.«

Und die Fest­stel­lung: »Und doch liegt JLGs frohe Botschaft an unser Metier auch darin: dass man anders, freier über Film sprechen und schreiben kann, wo es andere, freiere Filme gibt.«

Aber am Schluss spricht Seeßlen das frei und selbst­be­wusst aus, was alle Klein­bürger des Feuil­leton in diesem wie anderen Fällen zaghaft verschweigen: Freitod. Selbst­mord. Suizid. Eines der letzten alten Tabus in der scheinbar tabulosen, gerade wieder neue Tabus erfin­denden Wohl­stands­ge­sell­schaft des 21. Jahr­hun­derts.

Die Mono­gra­phie über »Der Freitod und das Kino« ist noch nicht geschrieben.

Seeßlen zu Godard: »Dass dieser Mensch uns mit einem weiteren unlös­baren Rätsel hinter­lassen würde, einem assis­tierten Suizid, der nicht auf eine Krankheit, sondern, wie die Angehö­rigen mitteilen, auf Erschöp­fung zurück­geht, ist konse­quent. Der zweite Teil der Botschaft ist bedeutend: Godard, heißt es, wollte, dass man das weiß. Die intimste Entschei­dung, die über das eigene Leben, den eigenen Tod, ist für ihn auch die öffent­lichste. Jean-Luc Godard hat auch seinen Tod politisch gemacht.«

Ein Glück im Unglück.

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Man soll den Freitod nicht auf die leichte, sehr wohl aber auf die freie Schulter nehmen. Freiheit wird, vor allem in Deutsch­land aber oft miss­ver­standen als Lieder­lich­keit als Verant­wor­tungs­lo­sig­keit. Der ganze Libe­ra­lismus – nein ich meine nicht (nur) die FDP – ist ein Opfer dieses falschen Vers­tänd­nisses.

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Im Iran protes­tieren Filme­ma­cher und Schau­spieler gegen das Regime. Anlass ist der Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini infolge schwerer Verlet­zungen in Poli­zei­ge­wahrsam. Am 16. September starb sie. Nicht »aufgrund der Misogynie« des isla­mis­ti­schen Regimes, wie der Spiegel schreibt, sondern wegen ekla­tanter Menschen­rechte.

Man sollte nicht wegschauen. Und zwar nicht, weil es hier um »eine Frau« geht, weil es um »eine Kurdin« geht, sondern weil es um Menschen geht und um das Verlangen nach Freiheit. Eman­zi­pa­to­ri­sche Kräfte sind ja nicht nur weiblich und kurdisch.

Am 25. September hat der iranische Regisseur Asghar Farhadi (About Elly, Nader und Simin) deutlich um inter­na­tio­nale Hilfe gebeten. Der Oscar­preis­träger bat, sich weltweit sichtbar mit den Protes­tie­renden zu soli­da­ri­sieren und lud »alle Künstler, Filme­ma­cher, Intel­lek­tu­elle, Bürger­rechtler aus der ganzen Welt und allen Ländern sowie alle, die an die Würde und Freiheit des Menschen glauben« dazu ein, »sich mit den starken und mutigen Frauen und Männern Irans zu soli­da­ri­sieren, sei es durch Videos, durch Schreiben oder auf andere Weise«.

Ende September verfassten iranische Film­schaf­fende einen regie­rungs­kri­ti­schen offenen Brief, der ihre Unter­s­tüt­zung für die Proteste zum Ausdruck bringt. Zu den Unter­zeich­nenden gehört Ali Abbasi, der Regisseur des Films Holy Spider (2022), der für Dänemark als Beitrag für die Oscar­ver­lei­hung 2023 einge­reicht wurde, sowie dessen Haupt­dar­stel­lerin Zahra Amir Ebrahimi, die dieses Jahr in Cannes für diesen Film als beste Schau­spie­lerin ausge­zeichnet wurde; daneben auch die Regis­seurin Shirin Neshat, deren Film Land of Dreams (2021) im November in die deutschen Kinos kommt.

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Holy Spider ist eine deutsche Produk­tion. Unter hohem Risiko sprangen der Berliner Produzent Sol Bondy und seine Firma One Two Films 2020 als Haupt­pro­du­zent ein.
Dieser Film weicht vor nichts zurück – er ist der dras­ti­sche Gegen­ent­wurf zum aus guten Gründen oft sehr indi­rek­teren, sich aber auch auf Poesie zurück­zie­henden, von der Zensur geprägten Irani­schen Kino. Ali Abbasi zeigt ein Iran, welches von vielen Irane­rinnen und Iranern als »endlich mal echt« bezeichnet wurde. Und das durch die Ereig­nisse der letzten Wochen eine dring­liche Resonanz findet.

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»Gibt es mit dem Kino jetzt zu Ende? Hat das Kino noch eine Zukunft?« Das fragte mich eine sehr gute, viel­be­schäf­tigte deutsche Schau­spie­lerin letzte Woche während eines sonnigen Gesprächs auf dem Filmfest Hamburg. Spontan reagierte ich so: »Nein, auf keinen Fall! Medien sterben nicht, sie werden nur durch neue ergänzt. Dem Kino geht es sehr gut, es wird immer Kino gebraucht, aber natürlich muss ich das Kino also die Produk­tion wie die Distri­bu­tion neuen Umständen anpassen.«
Später überlegte ich, ob ich das eigent­lich selber glaube? Viel­leicht bin ich, wenn ich mal drüber nachdenke, nicht ganz so opti­mis­tisch.

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Wie man hört, dürfen an der soge­nannten »Film­uni­ver­sität Potsdam« deren Namens­geber Konrad Wolf sich so laut im Grab herum­dreht, dass man das Rumpeln bis Berlin vernimmt, Regis­seure neuer­dings keine eigenen Dreh­bücher mehr schreiben.

Denn die Dreh­buch­studis brauchen ein Reservat, brauchen Hege und Pflege, denn in der freien Wildbahn wären sie offenbar nicht über­le­bens­fähig.
Aber wozu müssen solche Dreh­buch­schreiber überhaupt überleben, wenn sie sich nur parasitär auf Kosten von Regis­seuren behaupten können.

Der Autoren­film wird damit in Potsdam offiziell abge­wi­ckelt. Die Büro­kratie als Reser­vats­leiter sorgt dafür.

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Es kenn­zeichnet Endzeiten, wenn es Gesetze für alles gibt. Wenn alles und jedes geregelt werden muss, ist dies ein Indiz dafür, dass es nirgendwo mehr einen selbst­ver­s­tänd­li­chen Konsens gibt. Dafür, dass Miss­trauen herrscht. Dass Regie­rende noch die kleinsten Regungen und Nuancen der von ihnen Regierten kontrol­lieren möchten.
Ein Übermaß an Büro­kratie und Gesetzen ist das Kenn­zei­chen einer Krise der Demo­kratie.

Wenn diese Über­le­gung stimmt, dann können wir nicht opti­mis­tisch sein für die Zukunft der Republik und ihres Kinos.

Nicht alle sagen es offen, aber die Aller­meisten denken es: Gerade den Produ­zenten, aber auch den Regis­seuren wird die kreative Luft abge­schnürt durch zig neue Rege­lungen, die nicht nur »Green Producing« und »Diver­sität« vorschreiben, sondern vor allem Themen vorgeben, Inhal­tismus vorgeben, die alle möglichen Nachweise für alle möglichen klein­ka­rierten Wünsche der Film­för­derer verlangen.

Nichts wird besser dadurch.

Zu einem Aufstand der Film­schaf­fenden kommt es nur deswegen nicht, weil alle müde sind und feige. Weil sie alle Angst haben, die Ersten zu sein, die aus der Deckung kommen, und den Verant­wort­li­chen in Politik und Förderung ins Gesicht sagen, was sie von ihnen halten.

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Und dann kommt Björn Böhning um die Ecke... Es wurde mir von mehreren Teil­neh­mern erzählt: Wieder einmal spielt der Produ­zen­ten­ver­band – der zugegeben als Inter­es­sen­ver­tre­tung seit längerer Zeit öffent­lich unsichtbar ist – mit der Idee einer Zusam­men­le­gung mit der soge­nannten »Produ­zen­ten­al­lianz«. Ungleiche Verbände, deren Fusion nur Monster zeugen kann, weil die Allianz zu großen Teilen aus Werbe­fil­mern und Fern­seh­pro­du­zenten, darunter auch Sender­töch­tern besteht.
Wenn es kein anderes Argument gäbe gegen eine Zusam­men­le­gung – es gibt Dutzende –, dann ist das die Person von Björn Böhning, dem Geschäfts­führer der Allianz.

Wer kann diesem Mann, der das Desaster um die DFFB-Beset­zungen zu verant­worten hat, inklusive Gerichts­ur­teile gegen die DFFB und rück­da­tierte Bewer­bungen noch trauen?
Böhning versteht nichts von der Sache, er versteht nur Strip­pen­zie­herei und hat poli­ti­sche Kontakte.

Die gute Nachricht: Am Tag nach der möglichen Fusion gründet sich dann ein tatsäch­lich unab­hän­giger Produ­zen­ten­ver­band.

(to be continued)