01.07.2021
Cinema Moralia – Folge 251

»Branchen-Finan­zie­rung durch eine oder mehrere Zensur­behörde/n«

Ich bin dein Mensch
Strahlende, beste Sandra Hüller. Ich bin dein Mensch
(Foto: Majestic)

Gegen die Grenzhüter der Regelungsbetriebe: Persönliche Kriterien, undurchsichtige Abläufe, staatliche Gremienkultur – Dominik Graf und Lisa Gotto über Zensur West und Ost, heute und gestern. Und Maria Schrader über Sozialkompatibilität und ihre Arbeit – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 251. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Piloten ist nichts verboten.« – Extra­breit, Hans Albers zitierend

»Who the hell wants to hear actors talk?« – John Warner, 1927

»Zensur, die durch das Geld ausgeübt wird, wird viel stärker als Zensur aus ideo­lo­gi­schen Gründen. ... Andrej Tarkow­skij hätte in Hollywood Andrej Rubljow nicht machen können, denn es war echtes cinema d’auteur. ... Der Unter­schied ist: In der Sowjet­union konnte man einen Film machen, der verboten wurde. In Hollywood hättest du den Film nicht einmal machen können.« – Andrej Kont­scha­lowski

Dieses Buch ist eine riesen­große wunder­bare Provo­ka­tion. Jeder, der mit Film etwas zu tun hat, sollte es lesen! Und zwar aus gleich mehreren Gründen. Man erfährt hier natürlich sehr vieles über das Kino Osteu­ropas im Kalten Krieg; man bekommt Lust, sich die alten Filme aus Polen, Ungarn und der Tsche­cho­slo­wakei sofort wieder anzu­schauen, oder endlich einmal überhaupt. Und die sowje­ti­schen gleich dazu. Man bekommt Lust, die Urteile der Autoren zu über­prüfen.

Wichtiger aber, viel wichtiger ist die Pointe, die all das für das deutsche Kino hat. Dies ist Lisa Gotto und Dominik Graf natürlich auch voll­kommen bewusst, sie halten damit kein bisschen hinter dem Berg, sie versuchen nicht, irgend­etwas hinter Höflich­keiten zu verste­cken.

Dieses Buch handelt ganz unhöflich zunächst einmal von der alltäg­li­chen Zensur, die es bei uns gibt, und die der im Osteuropa des Kalten Kriegs kein bisschen nachsteht – es sei denn in der Hinsicht, dass die Filme, also die Zensur-Ergeb­nisse, bei uns viel schlechter sind.

Kann man das wirklich so sagen? Man muss es.

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Förder­geld-Büro­kratie führt zu Anpas­sungs­druck. Das Buch von Dominik Graf und Lisa Gotto über »Film­kultur hinter dem Eisernen Vorhang« (Lisa Gotto/ Dominik Graf: »Kino unter Druck. Film­kultur hinter dem Eisernen Vorhang«; Alexander Verlag, Berlin 2021; 16,90 Euro) ist auch ein Buch über heutige Film­po­litik und über alles, was unserem Gegen­warts­kino fehlt. Zumindest in Deutsch­land.

»Unsere Erkun­dungen sind getrieben von einer bren­nenden Aktua­lität, von Fragen zur Zensur gestern und heute, von der Suche nach starken Frau­en­fi­guren, von der Sehnsucht nach filmi­scher Leben­dig­keit jenseits aller Rele­vanz­for­de­rungen.« Das schreiben sie schon im Vorwort: »Unser Staunen darüber, wie unter poli­ti­scher Einfluss­nahme, Zwang und Zensur die klügsten und kraft­vollsten Filme der Welt entstehen konnten, wie sich Origi­na­lität und Komple­xität an den Grenzen der Rege­lungs­be­triebe vorbei schmug­geln lassen, führt vom Gestern ins Heute. Wenn das gegen­wär­tige System der Förder­geld-Büro­kratie zu Anpas­sungs­druck führt, wenn man Frauen vor und hinter der Kamera vermisst, wenn man sich fragt, was unserem Kino heute fehlt – dann sollte man bei der Suche nach Antworten bei den osteu­ropäi­schen Filmen anfragen.«

Es folgt ein Plädoyer für ein »Kino der harten Ambi­va­lenzen.«

In der Einlei­tung geht es dann genauso kompro­misslos und angenehm unhöflich weiter. Erster Satz von Graf: »Wir haben, das sage ich jetzt erst mal als Praktiker im System des deutschen Films, de facto – da es fast kein Geld mehr gibt für unsere Filme auf dem freien Markt – eine Situation, die der totalen Branchen-Finan­zie­rung durch eine oder mehrere Zensur­behörde/n entspricht. Das heißt, in die Beur­tei­lung von geplanten Projekten finden sowohl die persön­li­chen Kriterien der in undurch­sich­tigen Abläufen gewählten Förder­gre­mi­en­mit­glieder Eingang als auch die schrift­lich nieder­ge­legten Maßgaben der staat­li­chen Gremi­en­kultur.«

Zensur, das ist eine ganz zentrale These, über die die Betrof­fenen inklusive der im Bund verant­wort­li­chen Noch-Kultur­staats­mi­nis­terin Monika Grütters einmal nach­denken dürfen, gibt es auch im west­li­chen Filme­ma­chen.

Die Gründe für die Zensur im westlich-demo­kra­ti­schen System sind, so argu­men­tiert Graf schlüssig, nicht nur kommer­zi­elle, sondern vermeint­lich »quali­ta­tive«.

Die beiden Autoren folgen sehr genau den Fein­heiten und laby­rin­thi­schen Struk­turen östlicher wie west­li­cher Zensur­sys­teme.

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Das Publikum ist selbst zum Zensor geworden. Zu den Insti­tu­tionen und ihrem dschun­gel­ar­tigen Rege­lungs­ge­strüpp kommen noch die sozialen Zensur­me­cha­nismen der diversen Kultur- und Empörungs­blasen. Das bildungs­bür­ger­liche Publikum ist nämlich selber schuld: »Unsere Gremien-Förder-Kino­kultur basiert darauf, dem Publikum wenig zuzu­trauen, es bloß nicht zu über­for­dern. Kine­ma­to­gra­phi­sche Viel­stim­mig­keiten von Sequenzen gelten auch dem Publikum als verwir­rend; Ambi­va­lenzen, Unein­deu­tig­keiten auch in privaten Konstel­la­tionen, z.B. in Gender-Problemen der Filme, werden den Machern sogar gefähr­lich. Das Publikum ist selbst zum Zensor geworden, es ist kondi­tio­niert auf ein Kino der Eindeu­tig­keit. Es cancelt, was ihm nicht sofort einsichtig scheint.«

Und sie umschreiben die heutige Situation: Gegenüber der Hochzeit des Autoren­kinos in den 60er und 70er Jahren wurde das Vertrauen ins Bild als Gegensatz zum Wort schnell wieder verspielt. Film ist heute kein Mittel der Wahr­heits­fin­dung mehr, statt­dessen »stecken hinter jedem 'realen' Bild nur noch Lüge und Pixel-Pinselei in der Post­pro­duk­tion.«

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Abitu­ri­en­tInnen mit unan­ge­messen hohem Selbst­be­wusst­sein und zu niedriger Frus­tra­ti­ons­to­le­ranz. Und dann ein Gewitter von bitteren bösen Fragen an heutige Filme­ma­cher und Studenten: »Wären unsere Filme so viel besser, wenn man die 'Kreativen' immer freier produ­zieren ließe? Warum nehmen sich all diese ›Kreativen‹ am Ostblock-Film­schaffen nicht ein Beispiel? Entwi­ckeln Stra­te­gien, Taktiken und mit Strotz und Schläue Origi­na­lität durch unsere Zensur zu schmug­geln? Kann man daraus die These von dem in Wahrheit mangelnden Talent in Deutsch­land ableiten? Gutbür­ger­liche Abitu­ri­en­tInnen mit unan­ge­messen hohem Selbst­be­wusst­sein und zu niedriger Frus­tra­ti­ons­to­le­ranz? Haben sie alle nichts erlebt? Oder regiert die Angst?«

Es gehe darum, die Schwer­kraft zu über­winden – aber dafür muss man auf den Mond fliegen wollen. Das Problem sei, dass allzu viele Kreative sich am Boden ziemlich wohl­fühlen. Dass sie die Schwer­kraft gut finden, weil sie sie nicht fliegen lässt. Mögli­cher­weise haben sie auch Angst vor der Schwe­re­lo­sig­keit. »Aber wahr­schein­lich ist es schlimmer. Sie finden Raketen über­heb­lich. Sie begreifen die Schwer­kraft als stabi­li­sie­rendes Natur­ge­setz und finden es richtig, dass sie sie zu Boden drückt. Viel­leicht haben sie einfach keine Lust auf Rake­ten­bau­pläne. Viel­leicht bauen sie lieber Elek­tro­autos, weil die staatlich gefördert werden und eine gesell­schaft­liche Relevanz-Prämie bekommen. Eine Die-Welt-besser-machen-Plakette.«

So geht es noch eine ganze Weile weiter zum Beispiel über die Gentri­fi­zie­rung des Kinos und andere elende Entwick­lungen, die die Dialektik dieser Kunst einfach pauschal leugnen; über die Schub­la­den­auf­schrift »Arthouse« und ähnlichen post­mo­dernen Quatsch. Aber es wird nicht nur wunder­schön geschimpft. Über­ra­schend gelobt werden die Filme der Berliner Schule, obwohl die viel­leicht auch nicht immer so ambi­va­lent und so lebendig jenseits aller Rele­vanz­zwänge sind, wie Autorin und Autor es fordernd skiz­zieren. Und obwohl sie in den meisten Fällen mit der Radi­ka­lität von Grafs eigenen Filmen oder denen von Jan Bonny und den wenigen anderen Ausnahmen nichts zu tun haben.

Ach ja: Ums Kino Osteu­ropas geht es natürlich auch. Sogar eine ganze Weile. Auf über 100 Seiten schreiben Gotto und Graf über Filme hinter dem Eisernen Vorhang vor 1989. Undigital, erwachsen, bild­kräftig, realis­tisch und immer jung.

Lisa Gotto und Dominik Graf haben ein wunder­bares Buch über die Film­kultur hinter dem Eisernen Vorhang geschrieben. Und über uns.

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Die Kinos öffnen wieder – und mit dieser Öffnung greift sachte stille Panik um sich. Erkennbar steigt der Druck im Kessel.

Die ersten jetzt schon publi­zierten Film­för­der­ent­schei­dungen bringen mal wieder nichts Neues, sondern die üblichen Verdäch­tigen und das Gegenteil inno­va­tiver Projekte, mit zwei, drei Ausnahmen. Auffällig ist, dass man an der Kinokasse oder auf der TV-Couch erfolg­rei­chen Schau­spie­lern zutraut, gute Filme zu machen: Andere, in jedem Fall inter­es­sante Filme­ma­cher wurden nicht gefördert.

Es nutzt inzwi­schen auch nichts mehr, dass die Antrag­steller mit ihren letzten Filmen »gute Zahlen gemacht« haben oder in einem A-Festival-Wett­be­werb gelaufen sind. Sie bekommen kein Geld. Und um auch diese Mythen der weniger infor­mierten Normal­ki­no­gänger zu zerstören: Das bewil­ligte Förder­geld wird längst nicht immer gleich ausge­zahlt. Manchmal bleibt es jahrelang liegen, weil eine »Förderung noch nicht geschlossen wurde«, manchmal gefallen sich Einzel­per­sonen in den Förder­gre­mien darin, mit kleinen Verwal­tungs­tricks oder vorge­ge­bener Uner­reich­bar­keit Auszah­lungen zu verschleppen. Auch hier keinerlei Trans­pa­renz, obwohl diese von allen einge­for­dert wird. Statt­dessen ein feuda­lis­ti­sches System mit Hinter­zim­mern und Gunst­er­weisen.

In Gesprächen mit Film- und Kino­ma­chern fällt auf, dass trotz oder wegen der lang­ersehnten Kinoöff­nung die allge­meine Laune alles andere als gut ist.

Zu bemerken ist eine allge­meine Belas­tungs­in­to­le­ranz, ein mora­li­sches Fatigue-Syndrom, aus dem womöglich bald auch ein ästhe­ti­sches und poli­ti­sches wird.

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Man »versteht« nicht mehr, man »liest« Situa­tionen. Man »liest« einen Film. Man muss aber einen Film nicht »lesen«, schon gar nicht, um Spaß am Kino zu haben. Film­kri­tiken muss man sowieso nicht lesen. Aber wenn man es tut, ist es wie bei jedem Text auf eigene Gefahr.

Kritik ist dabei auch von Klischees nicht zu trennen. Sie spielt mit ihnen, sie arbeitet sich an ihnen ab, sie kriti­siert oder rela­ti­viert sie, sie benutzt sie aber auch, um etwas deutlich zu machen, oder umzu­be­nennen, wenn z. B. ein bestimmter Film oder eine Person genau diesen Klischees entspricht.

Film­kritik spielt sowieso. Sie expe­ri­men­tiert, probiert Haltungen aus wie ausge­lei­erte Hosen. Ob sie noch passen? Einen Sommer viel­leicht, den kurzen Sommer der Pandemie.

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Zum Schreiben unter Corona: Ich wage zu behaupten, dass es ohne Corona bestimmte Texte, auch welche, die ich in den letzten 15 Monaten geschrieben habe, nicht geben würde. Nicht nur nicht so, wie sie jetzt sind, sondern überhaupt nicht.

Und das liegt nicht allein daran, dass wir alle wahr­schein­lich ohne Corona weniger Zeit hätten. Sondern es hat viel mit der Tatsache zu tun, dass wir alle, auch unsere Leser, unser Publikum, viel zu viel Zeit haben und zu viel über­schüs­sige Energie und zu wenige Objekte, mit denen wir uns beschäf­tigen können. Zum Beispiel Filme und Festivals.

Aus dem Grund beschäf­tigen wir uns zum einen sehr narziss­tisch mit uns selbst, den eigenen Gefühlen, Empfin­dungen und Empfind­lich­keiten, und mit dem Imaginären, das heißt mit dem, was wir von anderen Dingen und anderen Menschen vermuten und phan­ta­sieren im Guten wie im Schlechten, mit virtu­ellen Gemein­schafts­bil­dungen bis hin zu Verschwörungs­theo­rien. Und wir beschäf­tigen uns mit den Texten der anderen. Es gibt einen Schrei­bü­ber­schuss, und einen Lese- und Wahr­neh­mungs­ü­ber­schuss.

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Jour­na­lismus ist tatsäch­lich immer wieder auch ein trauriges Geschäft, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil man es immer wieder mit Lesern zu tun hat, die entweder nicht verstehen wollen oder nicht verstehen können. Welche von beiden Möglich­keiten schlimmer ist, ist aber noch die Frage. Wenn jemand unfähig ist zu verstehen, dann können Bildungs­maß­nahmen abhelfen. Wenn jemand nicht verstehen will, dann ist es oft auch ein charak­ter­li­ches Defizit: Fehlende Neugier und fehlendes Wohl­wollen.

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Streit­kultur hat zwei Seiten. Kultur und Streit. Auch die zweite Seite ist wichtig. Streit­kultur wird erst da relevant, wo man nicht einig ist. Inter­es­sant wird sie auch erst dann.

Haltungen bewähren sich, wenn sie in Frage gestellt werden. Für Schlecht­wetter-Moral gegen Schön­wetter-Mora­lismus.

Was die Pandemie mit uns gemacht hat: Wir schauen zu genau hin. Wir sind zu empfind­lich.

Aber ist Kunst nicht wichtiger als wohl­fühlen? Geht es darum, wie sich jemand fühlt, oder um den Gegen­stand? Wir kennen diese Diskurse. Auf emotio­nalen Filter­blasen kann man keine Gesell­schaft errichten. Nicht alles liegt im Auge des Betrach­ters.

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Maria Schrader ist persön­lich viel inter­es­santer als ihre Filme. Das belegen zum Beispiel hier zwei kurze kluge Passagen aus Inter­views, die sie zum Start ihres neuen Films gegeben hat:

»Wir müssen wieder lernen, in der Schlange vor dem Bank­schalter zu stehen. Denn der Verzicht darauf erhöht unsere Einsam­keit. Wir müssen uns heute gar nicht mehr in Situa­tionen begeben, in denen wir mit anderen sprechen, disku­tieren, und Skeptik aussetzen, sondern werden immer mehr das Zentrum unseres eigenen Lebens. Es gilt nichts mehr als die eigene Meinung zu allem und die Unan­fecht­bar­keit der eigenen Person. Das ist eine unglaub­liche Entwick­lung. Das wird auf lange Sicht einen riesigen Einfluss darauf haben, wie sozi­al­kom­pa­tibel wir überhaupt noch sind und was Mensch­sein ausmacht.«

»Die Presse«, 13.6.2021

»Hier hört die Arbeit auf, da fängt mein Leben an, ja, das ist mir fremd. Die Dinge fließen inein­ander. Ich glaube, diesen Zustand kennen alle Leute, die künst­le­risch arbeiten, aber bestimmt ist das auch so in der Politik, der Forschung, den Schulen, Kinder­gärten, in der Wissen­schaft oder im Jour­na­lismus. Wahr­schein­lich wird jeder Mensch, der seine Arbeit liebt, auch zwischen­durch ihr Sklave. Ich finde die Arbeit aber eigent­lich nur dann anstren­gend, wenn ich nicht weiter­komme oder es Konflikte oder zu großen Zeit­stress gibt. Dann habe ich Sehnsucht, abzu­schalten, und das kann ich besser, als Sie es mir viel­leicht zutrauen.«

»Tages­spiegel«, Juni 2021

(to be continued)