25.03.2021
Cinema Moralia – Folge 244

Wider die puri­ta­ni­sche Phantasie

Lovemobil
Szene aus Elke Lehren­krauss' Lovemobil
(Foto: NDR/WDR)

Verteidigung des Unauthentischen aus möglicherweise falschem Anlass: Wenn man über den Fall Lovemobil sprechen möchte, dann kann man von den Produktionsbedingungen des deutschen Kinos nicht schweigen – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 244. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Unserer Auffas­sung nach ist der Doku­men­tar­film in seiner Wahr­haf­tig­keit ein besonders wert­volles Genre, dessen Weiter­ent­wick­lung sich der NDR in der auf Klaus Wilden­hahn, Eberhard Fechner und Heinrich Breloer aufbau­enden ›Hamburger Schule‹ besonders verbunden fühlt. Die Dokmen­tar­film­re­dak­tion des NDR kümmert sich in beson­derer Weise um die Förderung des Nach­wuchses in diesem Genre. Wir brauchen Offenheit und Trans­pa­renz um dieses Genre pflegen zu können. Daher ist uns eine Debatte über Möglich­keiten und Grenzen des Doku­men­tar­films besonders wichtig.«
Pres­se­mit­tei­lung des NDR vom vergan­genen Montag

»In dubio pro reo«
Grundsatz des Rechts

Jeder Film ist auch ein Doku­men­tar­film. Er doku­men­tiert das, was vor der Kamera zu sehen ist – und sei es das Spiel von Schau­spie­lern in Kostümen und vor künstlich errich­teten Kulissen.

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Um die 70 Theater sind in Frank­reich mitt­ler­weile besetzt worden von Künstlern und Ensembles. Leider keine Kinos, keine Film­stu­dios. Trotzdem handelt es sich um eine Aktion, die nicht nur auf das Theater gerichtet ist und nicht nur diesem dient, sondern auf die ganze Kultur zielt. Genauer gesagt: Auf den Lockdown der ganzen Kultur, auf einen Lockdown des Mensch­li­chen und seiner Ausdrucks­formen, auf einen Lockdown der sozialen Bezie­hungen, der Anre­gungen, der Irri­ta­tionen und der produk­tiven Neugier. Ein Protest, der gegen die Verwand­lung der Menschen in melan­cho­li­sche Tiere protes­tiert. Es handelt sich um einen Protest, der uns an unsere Zukunft erinnert, eine Zukunft, die wir verloren haben in dieser dauernden Gegenwart, in dieser breit­ge­tre­tenen Gegenwart und einer flach gewor­denen Welt. Einer eindi­men­sio­nalen Welt, die nur ein Thema kennt – Corona! – und in der wir alle eindi­men­sio­nale Menschen werden.
Wie lange dauert es noch, bis auch die deutschen Künstler Theater besetzen? Bis auch die deutschen Künstler den Quer­denker-Demos Konkur­renz machen mit demo­kra­ti­schem Protest, mit Protest, der ohne idio­ti­sche Theorien auskommt, und der nur Verschwörungen entlarvt, die real sind. Wo bleibt der Protest in Deutsch­land?

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Eine Redaktion recher­chiert gegen ihren eigenen Sender. Und macht das Ganze reiße­risch auf, nicht falsch in den Fakten, aber auch nicht ganz richtig, und in Ton und Machart sehr tenden­ziös und sehr mora­li­sie­rend. Ein bisschen wie die Bild-Zeitung, deren Innen­leben man sich gerade auf Amazon in der sehr sehens­werten, abgrün­digen, auch nicht gerade insze­nie­rungs­freien Serie »Bild. Macht. Deutsch­land.« ansehen kann. Aber das ist eine andere Geschichte.

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Man fragt sich aller­dings, wie beim NDR intern kommu­ni­ziert wird? Ob es üblich ist, dass eine Redaktion gegen das eigene Haus recher­chiert, ohne einmal kurz ein Stockwerk höher mit dem Aufzug zu fahren und nach­zu­fragen? Man fragt sich, wenn man einfach nur die nackte Geschichte hört, und besagte Reportage-Sendung anschaut, ob hier nicht am Ende auch noch andere Dinge eine Rolle spielen? Ob hier mögli­cher­weise NDR-interne Rech­nungen beglichen werden? Oder ob hier irgend­je­mand im NDR viel­leicht ein Interesse daran hat, der Doku­men­tar­film-Redaktion zu schaden?

Denn das tut die ganze Sache. Um noch einmal kurz auf die Bild-Zeitung zu kommen: Die Zeitung für männliche Haupt­schüler und Fern­seh­ge­bühren-Verwei­gerer nutzt die Ange­le­gen­heit auf der heutigen Titel­seite auf ihre Weise: »Schlappe für den NDR: Ein vom Nord­sender mitpro­du­zierter Doku-Film (Lovemobil) über Prosti­tu­ierte enthält 'nach­ge­stellte' und 'frei insze­nierte' Szenen, wurde daher erst aus der NDR-Mediathek entfernt. Jetzt wurde ihm auch noch die Nomi­nie­rung für den Grimme-Preis entzogen. Die Autorin Elke Lehren­krauss (42) entschul­digte sich. BILD meint: Besser spät als nie...«

Die Doku­men­tar­film-Redaktion des NDR und ihr Redakteur Timo Großpietsch haben einen guten Ruf.

Zu diesen Annahmen führt auch der sehr grobe Ton, mit dem hier innerhalb sehr kurzer Zeit eine eben noch für den Grimme-Preis nomi­nierte Regis­seurin von dem Sender, der ihren Film co-produ­ziert hat, in einer Pres­se­mit­tei­lung öffent­lich an den Pranger gestellt wird. Auch wenn man davon ausgeht, dass diese Pres­se­mit­tei­lung sachlich korrekt und juris­tisch wasser­dicht genug ist, um nicht den Tatbe­stand einer Rufschä­di­gung der Autorin zu erfüllen, ist einer der ersten Gedanken, der einem neutralen Leser in den Sinn kommt: Wird diese junge Frau noch jemals wieder irgend­einen Film mit einem deutschen Sender machen können?
War das das Ziel?
Darüber sollten wir nochmal nach­denken.

Verwun­dert ist man auch darüber, dass der Sender Lovemobil post­wen­dend aus der Mediathek genommen hat. Es hätte auch die Möglich­keit gegeben, ihn mit einem Vorspann oder Nachspann zu versehen, und auf die proble­ma­ti­sche Lage oder die Vorwürfe oder auf insze­nierte Passagen hinzu­weisen. Statt­dessen bevorzugt man beim Sender, den Film dem Publikum komplett zu entziehen, und allen Menschen, Jour­na­listen, wie anderen Filme­ma­chern, wie dem normalen Publikum, die Möglich­keit zu nehmen, sich ein eigenes Bild zu machen. Gäbe es diese Möglich­keit, dann könnte man viel­leicht darauf kommen, dass Lovemobil jederzeit an vielen Stellen anzusehen ist, dass hier im Rahmen des Üblichen insze­niert wurde, nach­ge­stellt, und dass ein solcher Doku­men­tar­film mit den Mitteln des Direct Cinema eigent­lich gar nicht möglich ist.

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Die Geschichte von Lovemobil ist nicht leicht zu erzählen. Das liegt mitt­ler­weile auch daran, dass es wahn­sinnig viele Leute gibt, die wahn­sinnig genau wissen, was hier passiert ist. Die immer schon Bescheid wussten, wie ein Doku­men­tar­film zu sein hat und wie nicht. Wie man mit einer Redaktion kommu­ni­ziert, was eine Redaktion von einer Regis­seurin verlangt und verlangen darf, woran man Insze­nie­rungen im Doku­men­tar­film erkennt... Es gibt auch wahn­sinnig viele Leute, die jetzt wissen, dass Doku­men­tar­filme selbst­ver­s­tänd­lich nur Filme sind, bei denen überhaupt nichts insze­niert wird. Dass Insze­nie­rung ganz und gar nicht geht; verboten ist. Die mit dem Authen­ti­zi­täts-Fetisch herum­we­deln wie ein Pfaffe mit der Weih­rauch­kugel, die irgendwas erzählen, dass ein Doku­men­tar­film wahr und wahr­haftig sein müsse, dass alles andere Fake-News sind und dass man das doch »gerade jetzt« oder »spätes­tens jetzt« alles nicht machen dürfe.

Ich bin mir bei all dem nicht so sicher. Alles Prin­zi­pi­elle über das Wesen des Doku­men­tar­films mal beiseite geschoben (dazu später weiter unten), kann ich ganz offen sagen, dass ich, obwohl ich den Film kenne, und nachdem ich mit der Regis­seurin Elke Lehren­krauss selbst und anderen Doku­men­tar­fil­mern über den Fall gespro­chen habe, nachdem ich den reiße­ri­schen NDR-Bericht von STRG_F angesehen habe, immer noch nicht weiß, was ich von dem Fall Lovemobil halten soll, und dass mir die schnellen Bescheid­wisser eher suspekt sind. Außerdem habe ich die Vermutung, dass hier jetzt eine ganze Menge Neid­hammel und Loser aus den Löchern kriechen, und sich daran aufgeilen, dass es jemand anderen getroffen hat – und manche sich viel­leicht auch einreden, sie hätten die ganzen Preise verdient und bekommen und sie hätten das alles viel besser gemacht.

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Viel­leicht muss man über die 36.000 Euro schreiben. 36.000 Euro – so viel ist dem NDR eine Lang­zeit­do­ku­men­ta­tion für das Kino wert, jeden­falls diese. Für 36.000 Euro erwartet also ein öffent­lich-recht­li­cher Sender, dass eine Regis­seurin jahrelang unter Straßen­pro­sti­tu­ierten recher­chiert und einen fertigen Langfilm fürs Kino im Stil des Direct Cinema dreht. Dies ist eine lächer­liche Summe, für die die Regis­seurin Elke Lehren­krauss diesen Film in welcher Weise auch immer hätte fertig­stellen können.
Selbst­ver­s­tänd­lich hat sie noch etwas mehr Geld bekommen: Zu den 36.000 Euro vom NDR kamen von der Nord-Media, der Film­för­de­rung von Nieder­sachsen und Bremen weitere 50.000 Euro; im Rahmen eines Stipen­diums schließ­lich 15.000 Euro. Alles in allem hat sie also etwa 100.000 Euro bekommen – auch das ist erschre­ckend wenig für eine mehr­jäh­rige Recherche und für einen Film, der de facto eigent­lich 400.000 bis 500.000 Euro wert ist.

So miserabel sind die Bedin­gungen im deutschen Kino. Es ist nicht unüblich und man muss dem Sender konsta­tieren, dass er sich hier nur an die Gepflo­gen­heiten hält. Aller­dings eben kata­stro­phale Gepflo­gen­heiten, die die Produkte, also die Filme beschä­digen. An Gepflo­gen­heiten, die den deutschen Film grund­sätz­lich beschä­digen, weil sie Arbeits­be­din­gungen schaffen, unter denen keiner vernünftig arbeiten kann.
Wenn man über den Fall Lovemobil sprechen möchte, dann kann man von den Produk­ti­ons­be­din­gungen des deutschen Kinos nicht schweigen.

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Zu diesen Produk­ti­ons­be­din­gungen gehört, dass im Budget des Films nur knapp 6000 € für die Bezahlung der Filmedi­toren veran­schlagt waren. Die bekannten Editoren in der Branche arbeiten für so einen Betrag gerade mal eine Woche, mit Freunden viel­leicht vier. Ganz bestimmt nicht über mehrere Monate, zu denen stun­den­lange Mate­ri­al­sich­tungen gehören. Hier lohnt ein kurzer Blick auf eine Cutterin. Sie heißt Irem Schwarz, und sie hat den Film nicht fertig­ge­stellt, sondern er wurde von einem Kollegen fertig montiert.

Grund dafür war, das Schwarz und die Regis­seurin sich offenbar während der Montage zerstritten hatten, angeblich ging es um Hono­rar­fragen. Irem Schwarz ist diejenige Quelle, die die NDR-Redaktion überhaupt darauf hinwies, das Teile des Films nach­in­sze­niert waren. Sie tat dies, nachdem der Film andert­halb Jahre lang in der Öffent­lich­keit war und viele Preise bekam. Sie tat dies genau eine Woche, nachdem der Film für den Grimme-Preis nominiert wurde.
Manche sprechen hier von einem »Rache­feldzug«, andere fragen sich, ob diese Editorin wiederum weiß, was sie tut: Kann sie nach diesen Vorfällen noch weiter in der Branche arbeiten?
Noch ein anderes Detail fällt auf: Schwarz, die bis 2021 in der Film-Univer­sität von Potsdam-Babels­berg Montage studiert hat, hat ihre Master­ar­beit über ein Thema geschrieben, das wie die Faust aufs Auge zum jetzigen Fall Lovemobil passt: Ihre Master­ar­beit heißt ausge­rechnet: »Von montierter Wirk­lich­keit zu insti­tu­tio­na­li­sierter Unred­lich­keit. Die Doku­men­tar­filme ›Fyre‹ und ›Fyre Fraud‹ als Beispiele für Ereig­nis­kon­struk­tion.«
Was für eine seltsame Koin­zi­denz!!

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Die Regis­seurin hat trotz allem Wege gefunden, den Film für einen vergleichs­weise Spott­preis fertig­zu­stellen.
Sie hat ihn selber produ­ziert, hohe Eigen­an­teile einge­bracht. Das setzt die Regis­seurin von Anfang an unter Druck. Unter Druck setzt sie auch die Erwar­tungs­hal­tung, die offenbar bestand, in jedem Fall einen Film in diesem Stil und ohne Insze­nie­rung abzu­lie­fern.

War es dieser Druck, dem sie nicht stand­halten konnte? Das sind Vermu­tungen, die wir nicht belegen können. Aber man müsste einmal nach­fragen, ob ein Grund für die Unwahr­heiten, für die Verschleie­rungs­taktik der Regis­seurin, für ihr Verschweigen, dass Passagen insze­niert worden sind, auch darin lagen, dass sie sich schlicht und einfach nicht getraut hat, der Redaktion die Wahrheit zu sagen. Bis es zu spät war. Eine Wahrheit, die darin bestand, dass sich manche Prosti­tu­ierte nicht hören lassen wollten, dass man bestimmte gute Situa­tionen nicht auf der Kamera hatte, und dass man einen Großteil der sehr ergie­bigen Recherche nur in indi­rekter Form auf die Leinwand bringen konnte. Dass sie manche ihrer Prot­ago­nisten auch schützen wollte – was zumindest ein legitimes Ziel ist.

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Man kennt das aus der Kindheit: Man erzählt seinen Eltern etwas nicht, was man ihnen eigent­lich erzählen müsste. Und flunkert dazu ein wenig. Langsam, ganz langsam wird alles etwas größer. Aus dem Flunkern wird eine kleine Lüge, und die wird langsam größer, und noch größer und spätes­tens dann traut man sich nicht mehr, es überhaupt noch den Eltern zu sagen. Bis das passiert, von dem man schon von Anfang an wusste, dass es irgend­wann passieren würde: Alles kommt raus.

So ähnlich könnte es auch der Regis­seurin gegangen sein.

Man glaubt der Regis­seurin, dass alles keine böse Absicht gewesen ist. Aber das hilft nichts. Jetzt droht ihr ein öffent­li­cher Prozess: eine Klage und die Drohung, dass sie das komplette Geld zurück­zahlen muss.

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Das entschul­digt nichts. Die Doku­men­tar­film-Redaktion des NDR und ihr Redakteur Timo Großpietsch haben wie gesagt einen guten Ruf.
Man möchte gerne wissen, wie die Redaktion und die Regis­seurin im Einzelnen zusam­men­ge­ar­beitet haben, wie das Rohma­te­rial, das die Redaktion sichten konnte, auf diese gewirkt hat. Ob sie dort nichts von Insze­nie­rungen bemerkten – wo sich doch jetzt in sozialen Netz­werken Menschen zuhauf melden, die sagen, man konnte sehr schnell sehen, dass hier auch insze­niert wurde?

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Lovemobil ist eigent­lich ein gefäl­liger Film. Denn er zeigt Einsam­keit, Verlas­sen­heit, Bedrohung, Streit um 20 €. Er zeigt die Welt der Prosti­tu­tion als schmutzig, primitiv, pervers, rassis­tisch – tatsäch­lich ist es aber so, dass die aller­meisten Freier Freier in Nadel­streifen sind.

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Was ist dieser Film? »Schon etwas was zu meiner täglichen Realität gehört.« sagt Uschi, eine Prot­ago­nistin, die als sie selbst in Lovemobil auftaucht, im NDR-Bericht. Der NDR-Reporter fragt dann dagegen: »Aber auch ein bisschen Show?« Und die alte erfahrene Uschi sagt: »Halloooo? Machen Sie keine Show?«

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»Es geht darum, eine Debatte anzu­stoßen, was Doku­men­tar­film darf und was nicht.« sagt der NDR im Beitrag. Dieses Ziel ist großartig und diese Debatte ist sehr sehr wichtig. Und meine persön­liche Position ist hier – wie ich in vielen Texten über Film-Festivals und über einzelne Filme schon geschrieben habe – glasklar:
Es gibt einen wesent­li­chen Unter­schied zwischen Doku­men­tar­film und Fiktion. Fiktion erfindet, Doku­men­tar­film doku­men­tiert.
Alles, was im Doku­men­tar­film vorkommt und gezeigt wird, muss wahr­haftig sein, muss stimmen auch in dem Sinn, dass man es so gut es eben geht, nach­prüfen kann. Das bedeutet zum einen, dass es sehr wohl legitim ist, dass Recherche-Fakten verdichtet werden, gestei­gert, kompri­miert. Ich finde den heutigen Authen­ti­zi­täts­wahn eben einen Wahn. Das heißt, ich finde es falsch, dass Reporter an jeder Ecke mit fact-checking konfron­tiert werden, dass die Verdich­tung, die jahr­zehn­te­lang zum Reporter-Handwerk gehörte, heute unter Verdacht steht. Verdich­tung bedeutet z.B., dass in einer jour­na­lis­ti­schen Reportage lange und gram­ma­ti­ka­lisch konfuse Interview-Passagen kompri­miert und zu klaren deutschen Sätzen geformt werden. Verdich­tung bedeutet auch, das in einer Reportage aus einem fernen Land drei alltäg­liche – also nicht promi­nente – Prot­ago­nisten zu einer einzigen Figur verdichtet werden. Das kann man dazu schreiben, das muss man meiner Meinung nach aber nicht. Dies liegt in der Freiheit des Reporters, der eben auch ein Künstler ist. Zugleich gilt der gute alte Grundsatz, den Graham Greene in seinem Roman The quiet American formu­lierte: »I am just a reporter. I report what I see.«

Das bedeutet auch, dass ich es falsch finde, wenn in Festivals wie der geschätzten Viennale in Wien unter der neuen Direk­torin Spiel­filme und Doku­men­tar­filme zusam­men­ge­worfen werden – bis hin zur Unun­ter­scheid­bar­keit. Ich finde es falsch, dass im Berlinale-Wett­be­werb auch ein Doku­men­tar­film läuft. Weil man beides nicht verglei­chen kann. Weil beides verschie­dene Regie erfordert, und weil die Leis­tungen in beiden Fällen sehr verschieden sind. Es sollte Doku­men­tar­film-Wett­be­werbe und Spielfilm-Wett­be­werbe parallel geben, aber nicht durch­ein­ander.

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Weil es heute zu viele Relotius und andere schwarze Schafe gibt, scheinen diese Über­prü­fungs- und Kontroll­orgien nötig. Sie sind natürlich auch nötig, weil man die Freiheit der Reporter weniger achtet, gern beschränken möchte, Kontrollen einführen möchte – so wie in unserem ganzen Leben überall Kontrollen einge­führt werden. Und weil man eine Zeitung oder einen Fern­seh­sender »auf Linie« bringen möchte. »Lineares Programm« so heißt es schon im Fernsehen und im Radio.

Die Sehnsucht nach dem Reinen, dem Authen­ti­schen, nach dem Wahren, Guten, Echten, hat auch etwas zu tun mit dem allge­meinen Puri­ta­nismus, dem Tugend­wahn, der unsere Gegenwart durch­zieht und schon vor Covid-19 durchzog, durch die Pandemie aber deutlich verstärkt worden ist. Sie hat etwas zu tun mit unserer Sehnsucht nach Sicher­heit.
Dabei brauchen wir Unsi­cher­heit, brauchen wir ihre Kaution, brauchen wir Risi­ko­be­reit­schaft und Risi­ko­lust, denn nur das befähigt uns zu einem prag­ma­ti­schen, humanen Risi­ko­ma­nage­ment.

Viel­leicht ist Lovemobil das schlecht­mög­lichste Beispiel, um noch einmal grund­sätz­lich zu erklären, was ein Doku­men­tar­film eigent­lich ist. Es scheint aber trotzdem nötig zu sein, also ist dieses Beispiel gut genug.

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Es gibt viele Spiel­arten des Doku­men­tar­films. Klar unter­scheiden kann man Doku­men­tar­filme, die in zumindest etwas längerer Form für das Kino gemacht sind, von einer kurzen Reportage für eine Nach­rich­ten­sen­dung oder ein Magazin, und von einer Doku­men­ta­tion, die in der Regel viel wort­las­tiger und stark durch Schnitt und Musik gestaltet ist. Doku­men­ta­tionen benutzen ganz selbst­ver­s­tänd­lich auch das »Re-Enactment«, also die Methode des Nach-Spielens bestimmter Szenen und Momente, zu denen es keine doku­men­ta­ri­schen Bilder gibt, mit Schau­spie­lern. Zum Beispiel auf »arte« oder in der Reihe »terra X« kann man derglei­chen oft sehen. Insbe­son­dere bei Geschichts-Doku­men­ta­tionen ist dieses Verfahren gang und gäbe – denn vor 1895 gab es ja überhaupt keine Film­bilder.

Auf der anderen Seite des Genre-Spektrums, in Richtung zum fiktio­nalen Film gibt es neben »Mocku­men­tarys«, also beken­nenden Fake-Formaten, diverse Misch- und Hybrid­formen, und den subjek­tiven Essayfilm. Sie alle mischen fiktio­nale und subjektiv-persön­liche Elemente mit dem objek­tiven »Zeigen, was ist«. Filme­ma­cher wie der Deutsche Werner Herzog oder der Öster­rei­cher Ulrich Seidl sind mit solchen Misch­formen berühmt geworden. Aber auch in den neueren Doku­men­tar­filmen Sacro GRA und Seefeuer des vielfach preis­ge­krönten Italie­ners Gian­franco Rosi sind Elemente der Insze­nie­rung und Gestal­tung der Wirk­lich­keit unüber­sehbar.

Insze­nie­rungen sind auch histo­risch seit jeher ein Teil des Doku­men­tar­films. Sie sind erlaubt und bereits in dessen Anfängen üblich. Ein berühmtes Beispiel: Der legendäre Doku­men­tar­film Nanook of the North von Robert J. Flaherty (USA 1922). Er ist über weite Strecken insze­niert.

Immer wieder loten gerade Meilen­steine der Doku­men­tar­film-Geschichte den Grenz­be­reich zwischen Erzählung und Wirk­lich­keit, Zeigen und Gestalten aus.

Die Annahme, dass aber reine Authen­ti­zität überhaupt möglich wäre, es so etwas wie »objektive Bilder« geben könnte, ist bloße Naivität.
Denn schon die Entschei­dung, wohin ein Filme­ma­cher seine Kamera stellt, welche Einstel­lung er wählt, ist eine subjek­tive und insofern eine Gestal­tung der Wirk­lich­keit – selbst wenn er die Kamera danach nie mehr bewegt und den Film einfach laufen lässt, ohne einen einzigen Film­schnitt und ohne später Musik und Kommen­tare hinzu­zu­fügen. Diese Bemer­kungen zeugen schon von der Absur­dität der Vorstel­lung »reinen Abbildens«.
Die Vorstel­lung reiner Authen­ti­zität ist nur eine puri­ta­ni­sche Phantasie.

Worum es dagegen tatsäch­lich geht, ist relative Authen­ti­zität.

Es gibt einen unaus­ge­spro­chenen Vertrag zwischen einem Filme­ma­cher und seinem Publikum. Auf der einen Seite setzt dieser ein mündiges Publikum voraus, also Zuschauer und Zuschaue­rinnen, die so etwas wie Schnitt und Montage wahr­nehmen, und denen zumindest unbewusst klar ist, dass wenn die Kamera sich bewegt, dies nicht durch die Hand Gottes geschieht, sondern durch den Willen des Regis­seurs.

Auf der anderen Seite ist ebenso die Ehrlich­keit eines Filme­ma­chers voraus­ge­setzt: Dort wo Insze­nie­rungen oder Re-Enactment nicht für jeden sowieso sofort erkennbar sind, muss man sie kenn­zeichnen. Dies muss nicht notwendig dadurch geschehen, dass zum Beispiel eine kleine Bild­un­ter­schrift darauf hinweist, dass hier Realität nach­ge­stellt wird. Es genügt voll­kommen, im Abspann eines Films darauf hinzu­weisen, dass einige Szenen im Film von Akteuren oder Schau­spie­lern nach­ge­stellt wurden, und dass nicht alle im Film zu sehenden Figuren mit ihren wirk­li­chen Personen identisch sind.

Dies nicht unter­nommen zu haben, ist das große Versäumnis der Filme­ma­cherin Elke Margarete Lehren­krauss bei ihrem preis­ge­krönten Film Lovemobil.

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Die große Frage nach der Wahrheit im Kino ist immer nur relativ zu beant­worten. Was wir im Kino sehen, das ist immer die subjek­tive persön­liche Wahrheit derje­nigen, die diesen Film gemacht haben. Sie drückt sich gerade auch in der Entschei­dung darüber aus, was wir sehen und was nicht, was insze­niert wird, was gezeigt wird und wo der Film wegblickt.

Der einzige echte und somit der entschei­dende Unter­schied zwischen Doku­men­tar­film und Spielfilm liegt in dem zumindest unaus­ge­spro­chenen unter­schied­li­chen Anspruch beider Genres.

Der Doku­men­tar­film behauptet, etwas zu zeigen, was es wirklich gegeben hat, was nicht erfunden wurde. Der Spielfilm bekennt sich offen dazu, dass das, was er zeigt, ausge­dacht ist und durch die Wirk­lich­keit besten­falls inspi­riert – aber nicht deren Abbildung. Genau die Vermi­schung dieser beiden Ebenen und das Spiel mit ihnen macht einer­seits den Reiz aller Hybrid­formen aus; sie wird aber spätes­tens in Zeiten von Fake-News und alter­na­tiver Realität auch zu einem ernst­haften Problem.

(to be continued)

Weitere Texte zur Debatte um Lovemobil gibt es auf unserer Special-Seite.