06.08.2020
Cinema Moralia – Folge 224

Die Orga­ni­sa­tion der Störung

Organisation und Störung
Dirk Baeckers Aufsatzsammlung »Organisation und Störung« (Suhrkamp; Berlin 2011) ernst genommen und auf die gegenwärtige Lage in Kino und Filmkritik angewandt
(Foto: Axel Timo Purr)

Ground Zero again: Wozu Kunst und Kritik und ein neoliberales Blutbad in Amerika? – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 224. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Offenbar sucht die Kunst ein anderes, nicht normales, irri­tie­rendes Verhältnis von Wahr­neh­mung und Kommu­ni­ka­tion, und allein das wird kommu­ni­ziert.«
Niklas Luhmann, »Die Kunst der Gesell­schaft«, S. 42

»As I said to The New York Times when I was let go from Variety just over a decade ago, 'It’s the end of something.' What the next something is – for everyone in our business – seems less knowable than ever.«
Todd McCarthy

»Störung, nicht Steuerung, ist der Ober­be­griff für Führung und Manage­ment, seit sich die Orga­ni­sa­tion von der klassisch pyra­mi­dalen Hier­ar­chie auf die post-klas­si­sche Netz­werk­or­ga­ni­sa­tion umstellt. Steuerung setzt auf eine lineare Zweck/Mittel Relation, Störung auf eine oszil­lie­rende Innen/Außen-Differenz.«
Mit diesen Sätzen beginnt Dirk Baecker seine Aufsatz­samm­lung »Orga­ni­sa­tion und Störung« (Suhrkamp; Berlin 2011). Wir nehmen mal diesen Satz ernst und versuchen ihn, gewis­ser­maßen expe­ri­men­tell auf unser Thema, also auf das Kino und die Film­kritik zu beziehen.

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Film, Kinofilm zumal, verstehen wir seit jeher nicht als Wirt­schaftsgut, sondern als Kunst. Dies ist die Prämisse. Sie ist, wiewohl bekannt, in regel­mäßigen Abständen zu wieder­holen, weil das Markt­denken, und das Streben nach ökono­mi­scher Strom­li­ni­en­för­mig­keit, unser aller Alltag dominiert. Aber wir wissen, dass dies falsch ist, wie um die Amoral dieser Position.
Jenseits solcher norma­tiver Fest­stel­lungen kann man beob­achten, dass die Gleich­set­zung von Film und Wirt­schaftsgut den Charakter vieler Werke ebenso verfehlt wie die Intention derje­nigen, die sie schaffen. Diese Fest­stel­lung ist also einfach dumm.

Wie andere Kunst­werke werden Film­kunst­werke nicht in erster Linie produ­ziert, um möglichst hohe Verkaufs­er­löse zu erzielen. Andere Inves­ti­tionen sind lohnens­werter. Der Verkaufs­erlös ist erst ein nach­ge­ord­neter, und je höher er ist, ein umso will­kom­mener Seiten­ef­fekt.
Selbst­ver­s­tänd­lich gibt es gar nicht so wenige Filme, die in diesem Sinne keine Kunst sind, das heißt, die ausschließ­lich produ­ziert werden, um Verkaufs­er­löse zu erzielen. Eines der gravie­renden Probleme der Film­för­de­rung und der Denkweise unseres gesamten Film­sys­tems liegt darin, dass zwischen diesen beiden Formen des Films von der Kultur­po­litik und der Film­för­de­rung nicht unter­schieden wird.
In diesem Sinne versteht Kultur­po­litik und Film­för­de­rung nicht einmal, womit sie es zu tun hat.

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»Kunst kann es überhaupt nur geben, und das ist keines­wegs so trivial, wie es klingen mag, wenn es Sprache gibt. Kunst gewinnt ihre Eigenart daraus, dass sie es ermög­licht, Kommu­ni­ka­tion stricto sensu unter Vermei­dung von Sprache, also auch unter Vermei­dung all der an Sprache hängenden Norma­li­täten durch­zu­führen. Ihre Formen werden als Mittei­lung verstanden, ohne Sprache, ohne Argu­men­ta­tion. Anstelle von Worten und gram­ma­ti­schen Regeln werden Kunst­werke verwendet, um Infor­ma­tionen auf eine Weise mitzu­teilen, die verstanden werden kann. Kunst ermög­licht die Umgehung von Sprache.«
Niklas Luhmann, »Die Kunst der Gesell­schaft«, S. 39

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Kunst entsteht nur in und mit der Gesell­schaft, ist also von der Gesell­schaft nicht zu trennen. Um Kunst als solche zu verstehen, muss man fragen, welchen Sinn sie für die Gesell­schaft erfüllt. Auch diese Frage ist keines­wegs so trivial, wie sie klingen mag – trivial wären allen­falls Antworten, die Kunst für bestimmte Zwecke, Pädagogik oder Erbauung, Bebil­de­rung von Mani­festen oder Stich­wort­geber für diese, in Dienst stellen wollen.

Das Gegenteil trifft die Sache besser. Die Beob­ach­tung von Gesell­schaften zeigt, dass die Aufgabe der Kunst darin liegt, zu irri­tieren und zu stören, aber auf eine bestimmte Weise. Aufgabe der Kunst, hier also des Kinos, ist Negation des Systems im System. Sie sind Störungen, aber produk­tive.
Kunst­werke sind Formen der Negation, die den Wider­spruch suchen und die Alter­na­tive meinen. Wie die Film­kritik, die unter anderem darum dort, wo sie bei sich ist, eine eigen­s­tän­dige Form der Kunst ist. Es geht der Kunst um eine Form der Beun­ru­hi­gung, die das System die Gesell­schaft dazu bewegt, sich mit sich selbst immer wieder neu abzu­stimmen. In der nach dem Muster des Netzwerks demo­kra­tisch verfassten Gesell­schaft gilt diese Beun­ru­hi­gung nicht mehr nur, wie einst im Abso­lu­tismus für die Spitze – den Hof –, sondern für jede Stelle, jeden Teil der Gesell­schaft.

Damit gemeint ist die Gesell­schaft als ganze, aber auch das Film­system, also der Zusam­men­hang von Filme­ma­chern und Film­fi­nan­zie­rern, Kunst­funk­ti­onären und Auffüh­rungs­be­trieb. Einer­seits leben all diese Menschen nur durch und von Filmen – gäbe es Filme nicht, wären sie arbeitslos. Ande­rer­seits gerieren sich die meisten von ihnen, Film­för­derer wie Kino­be­treiber, Festi­val­di­rek­toren wie Filme­ma­cher als Ermög­li­cher und Paten der Filme.
Die Filme selbst stellen sich ihnen entgegen, stellen sie infrage, fordern sie heraus, weil sie ihre Kompetenz unter Beweis­zwang setzen. Wenn der Film an der Kasse floppt – und das tut er in Deutsch­land regel­mäßig –, dann müssen sie erklären und begründen, dann hat das System als Ganzes versagt, außer man kann dem Film als Einzelnem die Schuld geben. Genau das wird in der Regel versucht.

Die eigent­liche Aufgabe, die eigent­liche Negation des Systems, erfüllt der Film aber zur Zeit nicht. Er stellt nicht infrage,sondern spurt. Er irritiert nicht, sondern bestätigt: Werte, Modelle, Funk­ti­ons­weisen. Er will nicht stören, sondern funk­tio­nieren und geschmeidig sein. Denn wenn er schon an der Kasse floppt, also die system­im­ma­nenten Kriterien nicht erfüllt, dann möchte man doch die Geldgeber, deren Scha­tullen weiter geöffnet bleiben sollen, nicht vergällen.

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Warum es überhaupt Film­kritik gibt, ist nicht leicht zu beant­worten. Bestimmt aber nicht, um Filme zu verkaufen.
Wer das erwartet, verfehlt nicht nur die Rolle der Kritiker, er versteht auch nichts von seiner Kund­schaft, dem Publikum. Er hat seinen Beruf verfehlt nicht weniger als jene Kritiker, die sich als Hofschranzen verkleiden, ohne zu begreifen, dass da kein Hof ist, sondern nur ein paar Spieß­bürger, die vor Papp­ku­lissen großes Kino spielen.

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Idea­lis­tisch formu­liert heißt Film­kritik Negation des Systems im System. Film­kritik ist in diesem Sinne das Immun­system des Film­be­triebs. Film­kritik betreibt und reguliert Konflikte, die im Film­be­trieb dafür sorgen, dass dessen Wach­sam­keit und Anspan­nung erhalten, dass Alter­na­ti­ven­be­wusst­sein gepflegt und die andau­ernde Suche nach neuen Lösungen heraus­ge­for­dert werden kann.

Film­kri­tiker sind also notwen­dige Störer. Sie erfüllen damit im Film­be­trieb exakt die Funktion, die Dirk Baecker in einer Unter­neh­mens-Orga­ni­sa­tion den Managern zuweist. Die Könige ohne Land müssen etwas führen, steuern und dadurch verbes­sern, das nicht ihnen gehört.
Sie sind Nach­folger der Aufklärer auch darin, dass sie Opti­misten wider besseres Wissen sind.

Das alles begreifen zur Zeit die wenigsten.

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Erst dieser Tage habe ich davon erfahren, dass einer der bedeu­tendsten lebenden US-ameri­ka­ni­schen Kritiker, Todd McCarthy, im April entlassen wurde. Zum zweiten Mal in seiner Karriere.
Vor zehn Jahren traf es den heute 70-jährigen nach 31-jähriger Tätigkeit für Variety, gemeinsam mit vielen anderen Kollegen. Das bis dahin führende US-Bran­chen­ma­gazin büßte diese Position schnell ein. Seitdem schrieb McCarthy für die unmit­tel­bare Konkur­renz, den Hollywood Reporter. Doch offenbar ist mit gutem Jour­na­lismus, mit Fakten, Recherche und deren klarer Kommen­tie­rung kein Geld zu machen.

McCarthy ist alles andere als ein Feind Holly­woods. Aber er ist kein Gefäl­lig­keits­schreiber. Das genügt in Zeiten des Sturms, in denen viele Kritiker de facto auf den Strich gehen und dem Betrieb jeden gewünschten Dienst erweisen.

15 Millionen Dollar Verlust im Jahr sind ein Argument. Aber nicht für die Entlas­sung von einem der Haupt­gründe, um die Zeit­schrift zu lesen.

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In einem Blog-Beitrag schreibt McCarthy selbst über die Entlas­sung und skizziert mit lesens­werten Anekdoten seinen eigenen Lebensweg als Kritiker zwischen Anpassung und Autonomie. Allein dieser Text begründet, warum McCarthy unge­achtet seiner Urteile immer lesens­wert ist.

Er beschreibt darin das Hollywood seiner Anfänge in den 70ern, unter anderem als Statist für einen Orson Welles-Dreh im Haus von Peter Bogd­a­no­vich. Er erzählt vom groß­zü­gigen Stil der alten Groß­kri­tiker wie Arthur Knight, seines früheren Chefs beim »Hollywood Reporter«: »a first-rate historian and teacher ... Fortui­tously, genial Arthur was very keen on hosting movie-based cruise ship excur­sions and was therefore out of town much of the time, leaving it to me to review lots of great and major films of the mid-1970s, beginning with Barry Lyndon and The Man Who Would Be King.«

Aber auch frühe Pres­sionen.

Dann folgte »Variety« mit dem legen­dären Chef­re­dak­teur Peter Bart, der zuvor bei Paramount als Produzent unter Robert Evans gear­beitet hatte.

Und jetzt der Raus­schmiss: »Now it‘s down to ground zero again, with owners of no jour­na­listic back­ground, cramped new quarters (which no one can enter anyway), severe staff contrac­tions, enormous economic pressures and, for the moment, no new films being released or made. What were the bosses thinking when they gave me a raise last month? What on earth are they thinking now?«

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Auch Kenneth Turan ist gegangen. Der Chef­kri­tiker der »L.A.Times«, der durch seinen Streit mit James Cameron welt­berühmt wurde, in dem der größen­wahn­sin­nige Filme­ma­cher ernsthaft seinen Raus­schmiss forderte – bloß weil Turan »Titanic« nicht mochte, konnte seinen Abgang immerhin noch selbst wählen – doch auch das Ende seiner Stimme seit über 30 Jahren bedeutet einen Bruch in der US-Film­land­schaft.

Turans knapper, prag­ma­ti­scher Text zu seinem Abschied sagt eine Menge über diesen kühlen, wichtigen Kritiker. Für das Pathos sind dann die Filme­ma­cher zuständig, für die Anekdoten sein Nach­folger Justin Chang.

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Es ist ein Blutbad, das gerade statt­findet, unter Film­kri­ti­kern wie unter Kino­be­trei­bern, Verlei­hern, Filme­ma­chern.
Es wird auch die deutsche Filmszene bald treffen.

(to be continued)