02.04.2020
Cinema Moralia – Folge 213

Corona, mon amour...

Star Wars
Großes Pfund beim Streaming-Start von Disney+: Die Serie »Star Wars – The Mandalorian«
(Foto: Disney+)

Warum gerade alles den Bach runter geht und die Krise trotzdem eine Chance ist – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 213. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»April ist der grau­samste Monat.«
T.S.Eliot, »Das Wüste Land«; übersetzt von Eva Hesse

Das 20. Jahr­hun­dert stirbt gerade. Die Kate­go­rien, die Menta­li­täten, die den letzten Epochen­bruch, das Ende des Kalten Kriegs, noch über­standen hatten, wenn auch eher schlecht, verlieren ihre Geltung. Wer braucht noch Kultur, wer will noch Filme, außer in den Beteue­rungen der Pres­se­mit­tei­lung, in denen jetzt wieder wortreich Kino und Kultur gerettet werden, Rettungs­schirme ausge­faltet, und Filme beschützt, die sich Frau Inten­dantin und Herr Geschäfts­führer seit Jahren nicht ansehen, denen man unter dem Tisch Knochen in Form von Dreh­buch­ent­wick­lungs- und Verleih­för­de­rung zuwirft, und dann beleidigt ist, wenn die Damen und Herren Filme­ma­cher zu lange daran nagen. Papi Neumann und Mami Grütters halfen noch, das Schlimmste zu verhin­dern, mit listen­rei­chen Konstruk­tionen.

Aber Corona bringt es an den Tag: Es ist alles geschei­tert. Film­för­de­rung futsch, egal ob Wirt­schaft oder Kultur, das mit den zwei Säulen war schon immer Quatsch, weil die soge­nannte »Wirt­schafts­för­de­rung« nur ein Mäntel­chen war, um unwirt­schaft­liche Filme zu finan­zieren, die noch nicht mal die Macher für »Kultur« hielten.

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»Wir brauchen weniger Filme« – wir alle erinnern uns noch an dieses Liedlein, das die Film­för­derer und Film­funk­ti­onäre aller Himmels­rich­tungen in den vergan­genen Jahren am liebsten gesungen haben: Es gibt zu viele Filme, wir brauchen weniger, wir müssen die Verhält­nisse so umge­stalten, dass am Ende weniger Filme entstehen. Weniger Film sind mehr, bei weniger Filmen gehen mehr Zuschauer ins Kino, weniger weniger, weniger …

Darum wurde das Film­för­der­ge­setz verändert, darum wurden die Jurys der Film­för­der­an­stalt FFA zur Produk­ti­ons­för­de­rung aufge­spalten in komische Pool-Kommis­sionen, die keiner mehr durch­schaut, die der FFA selbst und vor allem den Groß-Lobby­isten noch mehr diverse Möglich­keiten zum internen Durch­griff geben.

Und jetzt kommt Corona. Eine göttliche Plage. Aber eben auch göttlich, für manche. Denn alles Schlechte hat sein Gutes und jede Krise ihre Profi­teure: Corona schafft jetzt alles das, was zuvor nur ein feuchter Traum gewisser Damen und Herren in der deutschen Film­för­der­land­schaft war.

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Natürlich möchte ich niemandem, auch nicht … nein: niemandem unter­stellen, dass er oder sie sich über Corona freut. Aber unter uns Realisten hat man ja gelernt, sich schnell auf neue Verhält­nisse einzu­stellen und im Gegebenen die Chancen zu sehen.
Und man muss zumindest fest­stellen, dass, wenn Corona und vor allem der entspre­chende staatlich verord­nete Shutdown der Kultur nur lange genug andauern, genau das passieren wird, viel­leicht nicht auf die Weise, aber im Ergebnis, was zum Beispiel FFA-Chef Peter Dinges auf öffent­li­chen Podien schon gefordert haben: Weniger Filme. Weil bestimmte Produk­ti­ons­firmen, Verleiher und Kino­be­treiber, vor allem jene, die für eine Film­kultur stehen, die kulturell erfolg­reich ist, wirt­schaft­lich aber unter den gegebenen Bedin­gungen genauso wenig wie andere, ihren Betrieb dann nicht mehr aufrecht­erhalten können – weil sie jene Publi­kums­er­folgs­ori­en­tie­rung noch nicht mal vorgau­keln, die man in Deutsch­land vorgau­keln muss, um staat­liche Förder­gelder zu bekommen.

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Wenn es anders sein sollte, wenn das Verleum­dung ist, dann obliegt es den Film­för­de­rern der Länder und der FFA, jetzt ein entspre­chendes Zeichen zu geben.

Dann kann die Krise eine Chance sein. Für eine komplette Neuer­fin­dung des deutschen und europäi­schen Films. Für ein Kino, das ästhe­tisch relevant ist, durch seine Geschichten und Figuren und durch die Formen, in denen es erzählt.
Wer auf »Weiter so« setzt, reitet in den Untergang. Mindes­tens in den Untergang der Bedeu­tungs­lo­sig­keit.

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Keinem geht es gut. Aber es ist klar, wer jetzt die Haupt-Opfer sind. Vor allem die Kino­be­treiber werden auf Null gefahren. Ihnen brechen alle Einnahmen weg.
Die Verleiher leiden mittelbar auch. Aber ihnen bleiben andere Rechte zu einem gewissen Ausgleich. Verleiher sind Händler. Jetzt handeln sie immer noch mit Fern­seh­rechten, DVD-Rechten, Streaming-Rechten. Oder sie streamen selber.
Die Produ­zenten werden zu großen Teilen auf lange Sicht dann viel­leicht eben nur noch für Sender und Strea­ming­dienste produ­zieren.

Es dominiert vor allem die begrün­dete Angst, dass viele Zuschauer, gewöhnt ans Einschlafen beim Binge-Watching, ins Kino nicht mehr zurück­finden. Um überhaupt Geld zu verdienen, und die Einnahmen nach oben zu jazzen, werden dann nur noch kommer­zi­elle Filme produ­ziert: Schweiger, Schweig­höfer, besten­falls noch eine Caroline Link fürs gute Gewissen.
Was dann tot ist, wird auch nicht wieder­be­lebt.

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Überall gibt es Dreh­stopps? Produ­zenten dürfen nicht drehen? Keines­wegs! Fake News!! Die Ufa trotzt Corona, gedreht wird, ob man es glaubt oder nicht, auch in schlechten Zeiten: »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« in Berlin und »Unter uns« in Köln haben den Dreh­be­trieb am Montag wieder aufge­nommen.
Die Dreh­un­ter­bre­chung sei dazu genutzt worden, »um die Dreh­bücher und Sets den Sicher­heits­maß­nahmen zur Risi­ko­mi­ni­mie­rung weiter anzu­passen«. »Diese Opti­mie­rungen« seien »durch die beson­deren Dreh­ar­beiten der täglichen Serien im Studio« möglich. »Der Dreh­be­trieb wird unter genau­esten und strengen Hygie­ne­maß­nahmen, die so mit unseren Arbeits­schutz­fach­leuten im Einzelnen abge­spro­chen sind, durch­ge­führt«, heißt es weiter in der Pres­se­mit­tei­lung. »Der Mindest­ab­stand aller Personen« werde »durch­gängig gewährt, die Verweil­dauer des Teams im Studio so gering wie möglich gehalten, Haare und Make-up von den Schau­spie­lerInnen selbst über­nommen«. Außerdem sei es allen Mitar­bei­tern, »die zu Risi­ko­gruppen gehören«, frei­ge­stellt, »die Arbeit am Set derzeit fort­zu­setzen«.

Da sieht man, was wirklich system­re­le­vant ist.

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Ist das Studio Babels­berg system­re­le­vant? Nein. Natürlich nicht. Es sollen aber ja auch gern alle gerettet werden, die nicht system­re­le­vant sind. Darum können wir wetten, dass Babels­berg unter den ersten sein wird.
Denn 800 Mitar­beiter von Babels­berg-Toch­ter­firmen (andere gibt es nicht, jeden­falls nicht mit einer rele­vanten Zahl von Mitar­bei­tern) wurden jetzt gekündigt: Von Hollywood-Firmen, die gekommen waren, um, salopp gesagt, das »stupid german money« des DFFF abzu­greifen. Aber im Gegensatz zu GZSZ ist Corona hier ein Hinde­rungs­grund.
Alle haben jetzt Mitleid mit Studio Babels­berg, und die zustän­dige Förderung wird sich gewiss bald als Retter aufspielen.
Denn zusammen mindes­tens 46 Millionen Steu­er­gelder wurden jetzt ins Feuer geworfen, um zwei Hollywood-Filme zu finan­zieren (»Matrix 4« und) , von denen jetzt noch nicht mal sicher ist, ob sie gemacht werden.

Soll es jetzt noch ein Rettungs­paket hinterher geben?

Film-Rechts­an­walt Stefan Schmidt-Hug, zumindest für den RBB eine »Instanz unter Deutsch­lands Film­schaf­fenden«, vertritt Babels­berg-Mitar­beiter.
Bei besagtem RBB lässt er sich aber auch mit apoka­lyp­ti­schen Kommen­taren zitieren: »Einen Kino- oder Fern­seh­film wird es in diesem Jahr nicht mehr geben.«

Andere Anwalts­kanz­leien argu­men­tieren detail­lierter und diffe­ren­zierter.

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Eine inter­es­sante Entwick­lung: Die klas­si­schen Fern­seh­sender, längst schock­ge­fros­tete Dino­sau­rier, werden gerade an der Ausgangs­sperren-Früh­lings­luft aufgetaut. Plötzlich hängen nicht nur schwer­hö­rige Volks­mu­sik­fans, geschmacks­be­hin­derte Fern­seh­garten-Afici­o­nados, demente Alten­heim­be­wohner und unge­dul­dige Fußball­fans vor ARD und ZDF, sondern auch ihre Enkel und Urenkel.
Die Quoten blühen wie sonst nur frisch gedüngte Früh­lings­tulpen. Alles wird angeguckt und das en masse. Dritte Programme sind plötzlich wieder gefragt, Doku­men­tar­filme sind gefragt, 3sat und Arte erleben nie gekannte Höhen­flüge. Sie sind, obschon in den letzten Jahren immer schlechter geworden, die Profi­teure der Krise.
Doch die Verant­wort­li­chen sind zynisch und wickeln weiter ab; sie nutzen die Chancen nicht. Oder wo bleiben die Initia­tiven für bessere Stoffe? Für Förderung des Kinos?
Das einzige, was den Leuten dort einfällt, ist eine Zusam­men­le­gung der Media­theken.

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Es gibt auch noch andere Profi­teure: Aber jetzt sind sie da. Und es wirkt fast, als ob sie es vorher gewusst hätten. Denn einen besseren Moment für den großen Aufschlag hätte es für »Disney+« gar nicht geben können: Die aufge­zwun­gene Corona-Quaran­täne fesselt Millionen Menschen an die heimi­schen vier Wände. Wer bisher sein Geld für Kino- und Konzert­karten oder einfach ein schönes Abend­essen im Restau­rant ausgab, ist jetzt erst recht nur allzu bereit, 69 Euro zu bezahlen – fürs ganze Jahr! Dies ist der Dumping-Einstiegs­preis. Später wird der Dienst pro Monat mindes­tens 6,99 Euro kosten.

Sie haben lange abge­wartet. Die Firma mit der Maus, der Klassiker unter den großen US-ameri­ka­ni­schen Medi­en­riesen, kommt spät auf den globalen Markt­platz der Steaming-Konzerne. Aber dafür gewaltig. Denn das Disney-Studio, das seit vergan­gener Woche mit »Disney+« die schon reich­li­chen Angebote der Internet-Film-Dienste aufmischt, ist hier nicht etwa der Hecht in einem Karp­fen­teich. Die Streaming-Szene gleicht seit jeher eher einem Raub­tier­käfig aus lauter reiße­ri­schen Bestien, die einander belauern und nur darauf warten, dass sich irgendwer eine Blöße gibt im Kampf um die fettesten Fleisch­bro­cken, sprich Film­rechte und Publi­kums­markt­an­teile. Von Anfang an gilt Disney hier nicht als Randfigur, sondern als König der Löwen.
Mit großen Erwar­tungen ist das neue Streaming-Portal an den Start gegangen, man traut der Firma mit der Maus alle Markt­macht zu, die Konkur­renten Netflix und Amazon Prime in die Knie zu zwingen.

Seit dem 24. März flutet »Disney+« nun das Netz. Unter dem Angebot ist viel Altes, durchaus Klassiker, wie Dumbo von 1941, Pinocchio von 1940 (aus uner­find­li­chen Gründen in Die lebendige Puppe umbenannt), und was bei Disney niemanden über­ra­schen wird: Nutzer haben Zugriff auf Inhalte von Disney, Pixar, Marvel, Star Wars, National Geogra­phic und – ganz wichtig! – alle Folgen der Simpsons. In den USA wurden so in nur drei Monaten rund 28 Millionen Abon­nenten gewonnen – vor Corona.
Es fehlt aber auch vieles, was man unbedingt erwartet hätte: Viel von »Mickey Mouse«, alle klas­si­schen Fern­seh­se­rien der Pionier­zeit des Mediums, als Walt Disney selbst Zorro produ­zierte. Und das Histo­ri­sche, was es gibt, ist mit politisch-über­kor­rekten Warn­hin­weisen zuge­pflas­tert: »Enthält Darstel­lungen von Tabak­pro­dukten«, »Einige flackernde Liebes­szenen könnten negative Auswir­kungen auf licht­emp­find­liche Zuschauer haben« – schlecht übersetzt, aber typisch Disney eben: Der Konzern war schon immer Propa­gan­dist einer Nanny-Kultur mit allzu-perfekten, erzkon­ser­va­tiven Heile-Welt-Bildern. Ob das in einer Zeit aufgeht, in der Seuchen- und Zombie-Filme zu den aktuellen Netz-Rennern mutieren, weil man offenbar den Corona-Schrecken durch seine Beschwörung bannen will, bleibt abzu­warten.

Für das Publikum, das mehr will als Bambi-Welten, bietet man auch Neues: Ein Lockvogel-Angebot namens »Star Wars: The Mandalo­rian«. Die erste Star-Wars-Serie, die keine Trick­film­pro­duk­tion ist. Sie ist eine Mischung aus SF-Tantasy und Western, und dreht sich unter anderem um den Zen-Jedi Yoda – hier: Baby Yoda. Der Held aber ist Kopf­geld­jäger. Das Imperium ist zusam­men­ge­bro­chen, der Raum­schiff­treib­stoff teuer und die Aufträge sind rar – klingt fast schon wie eine Mischung aus Mad Max und Post-Corona-Europa.

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Da siegt dann kapi­ta­lis­ti­sches Rendite-Denken über alle Moral: Denn der Markt befindet sich in einer immensen Bewegung. Denn mit jedem neuen Player werden auch die Film-Rechte neu verteilt. Das war schon vor der derzei­tigen Corona-Krise der Fall. Mit der Pandemie kommt hinzu, dass bei einem auf so vielen Säulen aufge­stellten Medi­en­kon­zern wie Disney diverse Geld­quellen plötzlich nicht mehr sprudeln: Alle Vergnü­gungs­parks mussten schließen, Kreuz­fahrten und Bühnen­shows wurden abgesagt, der Kinostart von Mulan wurde verschoben, andere Dreh­ar­beiten mussten abge­bro­chen werden, in den Fern­seh­kanälen des Maus-Konzerns wie ESPN laufen plötzlich keine Dauer-Sport­sen­dungen mehr. Im Ergebnis brach die Disney-Aktie seit Anfang des Monats um knapp 40 Prozent ein.
Das könnte Netflix und Amazon nicht passieren: Wer nur im Netz unterwegs ist, profi­tiert von Ausgangs­sperren und Shutdown. Allein Amazon legte seit dem 15. März um 10 Milli­arden US-Dollar Marktwert zu, die Aktie gewann gegen die Börsen­trends der Welt 15 Prozent. Die Netflix-Aktie legte von gut 281 Euro am 18. März in nur sechs Tagen auf über 335 Euro zu – über 18 Prozent, und zwischen­zeit­lich standen sie sogar bei 346.

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Die ganz große Eva Hesse ist tot – what a pity. Mit 95. Auch das ein kleiner Abschied des 20. Jahr­hun­derts. Eine Frau »wie es sie heute nicht mehr gibt«. Oder doch? Jeden­falls eine Mischung aus altmo­di­scher groß­bür­ger­li­cher Dame mit einma­liger Ausstrah­lung und viel Stil – Tücher von Chanel oder Hermes im Haar, große Sonnen­brillen auch in Innen­räumen, Ciga­rillos in der Hand – und einer scharfen Intel­lek­tu­ellen, die ihr Leben vor allem für einen einzigen Dichter aufop­ferte: Ezra Pound, nach dem Krieg durch seine Sympa­thien für Mussolini Persona non grata der europäi­schen Kultur, bis ihn Hesse, selbst eine radikale Linke, wieder in die Kreise der Avant­garde zurück­holte: Durch ihre Über­set­zungen und mehrere Bücher mit klugen Inter­pre­ta­tionen. Die in Berlin 1925 geborene, in London als Diplo­ma­ten­tochter bis September 1939 (!) aufge­wach­sene Hesse war auch Über­set­zerin von T.S.Eliot.
»Aufopfern« ist übrigens fast wörtlich gemeint, denn weil man mit Über­set­zung und Lite­ra­tur­kritik nicht viel verdient und das Erbe der Familie offenbar bald aufge­braucht war, lebte Hesse mit ihrem irischen Mann, der bei Siemens ange­stellt war, in München lange in einer Einzimmer- später einer Zwei­zim­mer­woh­nung. Sie fand andere Formen des Glücks, und wer diese Frau in ihren letzten Jahr­zehnten mal im München der Neunziger oder Nuller-Jahre erlebte, der glaubte das zu spüren: Die Strahl­kraft und den ganzen Kosmos der Kultur und der Begeg­nungen ihres Lebens, und die Gewißheit einer Mission. Sie war, bei aller Diskre­tion und Fein­sin­nig­keit, bei allen Manieren eine Frau, die keine Gefan­genen machte.

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»Jedes Wort ist ein Eingang zu einer Begegnung, / einer oft aufge­scho­benen. / Es ist wahr, sofern es auf der Begegnung beharrt.«
Jannis Ritsos, »Vom Sinn des Einfachen«, übersetzt von Eva Hesse

(to be continued)