Tár

USA 2022 · 159 min. · FSK: ab 12
Regie: Todd Field
Drehbuch:
Kamera: Florian Hoffmeister
Darsteller: Cate Blanchett, Noémie Merlant, Nina Hoss, Sophie Kauer, Mark Strong u.a.
»Ich bin der Vater von Johanna, der liebe Gott sieht alles.«
(Foto: Universal)

Musik ohne Muse

Todd Fields Comeback nach 15 Jahren Schaffenspause ist so konzentriert wie universal – sein Dirigent:Innendrama nimmt so ziemlich alles mit, was trendet und lässt doch genug Leer- und Stolperstellen

Nach Todd Fields von Kritik und Publikum eupho­risch aufge­nom­menem zweitem Film als Regisseur, dem Bezie­hungs­drama In the Bedroom (2006), wurde es beun­ru­hi­gend still um Field. Auch seine schau­spie­le­ri­sche Karriere ruhte. Aber so lange wie Terrence Malick, der immerhin 20 Jahre zwischen Days of Heaven und The Thin Red Line verstrei­chen ließ, wurde es dann doch nicht. Field verhed­derte sich dann auch eher in multi­plexen Lite­ra­tur­ad­ap­tionen, als zu pausieren, doch allein schon die Gerüchte, die an die Ober­fläche drangen, etwa das über die Zusam­men­ar­beit mit Jonathan Franzen und eine Kurzserie, die Franzens Roman Unschuld mit Daniel Craig in der Haupt­rolle adap­tieren sollte, ließen aufhor­chen.

Am Ende ist es dann Tár geworden. Nicht mit Daniel Craig, aber dafür Cate Blanchett in der Haupt­rolle. Aber ein wenig Franzen ist es dann doch, denn so wie Franzen sich alle Zeit der Welt nimmt und doch mit signi­fi­kanten Leer­stellen operiert, um seine Haupt­cha­rak­tere einer einge­henden, intro­spek­tiven Analyse zu unter­ziehen, so nimmt sich auch Field intensive, immer wieder thetische 158 Minuten, um sich in seinem fiktiven Biopic über die Diri­gentin Lydia Tár einer Frau anzun­ähern und sie dabei doch immer wieder zu verlieren.

Denn dass es Field nicht nur um seine Haupt­person, sondern auch um viel Theorie und Meta­theorie geht, macht er gleich zu Anfang deutlich, als er Lydia Tár über eine lange (!) Podi­ums­dis­kus­sion mit dem tatsäch­lich und für den New Yorker arbei­tenden Redakteur Adam Gopnik über ihre Musik und ihre Karriere sprechen lässt. Das sieht sich wie ein Kommentar auf die Kritik an fiktio­nalen Biopic-Formaten an, etwa der Diskus­sion um den Wahr­heits­ge­halt der Netflix-Serie The Crown. Field dreht den Spieß dabei fast schon satirisch um, denn er benutzt ja Fiktion, um die Wahrheit zu verdeut­li­chen und stellt damit fast schon satirisch die Frage, ob ein fiktio­nales Biopic nicht die »wahrere« Wahrheit sein könnte. Doch auch das fasst Fields Ansatz eigent­lich nicht wirklich, gräbt man etwas weiter: denn natürlich ist Lydia Tár (Cate Blanchett) nicht die erste Chef­di­ri­gentin eines großen Orches­ters, gibt es immerhin Marin Alsop, die bereits 2007 zur Chef­di­ri­gentin des Baltimore Symphony Orchestra berufen wurde und, ebenso wie Fields Charakter, lesbisch ist und sich auch bereits bei Field für seine »Über­grif­fig­keit« beschwert hat.

Die »Realität« bzw. die Beschäf­ti­gung mit aktuellen Tendenzen im bildungs­bür­ger­li­chen Umfeld verlässt Field dann sehr lange nicht mehr. In einer Diskus­sion mit Studenten und vor allem einem »Pangender«-Studenten führt Field die gegen­wär­tige Iden­ti­täts­po­litik genauso vor wie die Macht der Cancel-Culture und im Verlauf des Films die Auswir­kungen der MeToo-Debatten der letzten Jahre, die aber selbst­ver­ständ­lich dem Main­stream-Diskurs radikal entzogen werden.

Denn wir haben es mit Lydia Tár natürlich nicht mit einem der in den letzten Jahre in die öffent­liche Kritik geratenen Diri­genten-Dämone wie James Levine, Daniele Gatti oder Charles Dutoi zu tun, sondern mit einer Frau, die zudem noch offen in einer lesbi­schen Beziehung mit ihrer ersten Geigerin Sharon Goodnow (Nina Hoss) lebt und eine junge Tochter hat, die sie dann und wann zur Schule begleitet. Doch selbst dieser Schulweg, eigent­lich eine fast schon poetische Begegnung mit dem Berliner Alltag, ist bei Todd anspie­lungs­reich aufge­laden, stampft sie doch eine Mitschü­lerin ihrer Tochter Johanna in Grund und Boden, weil diese Johanna gemobbt hat: »Ich bin der Vater von Johanna, der liebe Gott sieht alles.«

Und den lieben Gott, den gibt es bei Field wirklich. Er ist gewis­ser­maßen das Internet, es sind die neuen Regeln des Cancelns, die Lydia letzt­end­lich einholen, und deutlich wird, dass Lydia selbst Mobbing-Quali­täten hat und diese auch nach und nach publik werden – weiße, ältere Frauen also gar nicht so viel anders als weiße, alte Männer sind. Und Genie oder noch viel mehr – der Dirigent als Muse der Musik – einmal mehr hinter­fragt werden muss.

Diese Abwärts­spi­rale, in der sich die welt­be­kannte Diri­gentin bald wieder­findet und die sie mehr und mehr auf ihre verküm­merte, der Musik und dem Ruhm geopferte Kern­per­sön­lich­keit zurück­wirft, gibt dem langen Film dann auch zunehmend eine subtile Dramatik, weil er sich in diesen Momenten aus seinem theti­schen Korsett befreien kann. Die pechige Musik von Hildur Guðna­dóttir und Florian Hoff­meis­ters aske­ti­sche und zunehmend finster werdende Farbräume korre­lieren perfekt mit kurz einge­streuten, surrealen Horror-Elementen, die dem Film dann fast schon brutal seine realis­ti­sche Grundlage entziehen. Gerade hier erinnert Fields Tár an Filme wie Michael Hanekes Klavier­spie­lerin oder Darren Aron­of­skys Black Swan und ist auch Blanchett in diesen finsteren Momenten so kalt, fragil und verloren wie Isabelle Huppert bei Haneke und dem Wahnsinn so nah wie Natalie Portman bei Aronofsky.

Der Höhepunkt dieser Entwick­lung wirkt dann aller­dings wie ein Fremd­körper und grässlich aufge­setzt. Er reiht sich zwar in die immer wieder bizarre Horror­dra­matik ordent­lich ein, psycho­lo­gisch glaub­würdig ist das aller­dings so wenig wie Franzens Analogie von DDR und Internet in Unschuld.

Doch zum Glück fängt sich Tár wieder, stellt Field mit Lydias Rückkehr zu ihren Ursprüngen als heran­wach­sender Leonard Bernstein-Fan und als Musik­eth­no­login viel­leicht die inter­es­san­testen, weil am wenig abge­nutzten Fragen, geht es hier viel­leicht wirklich um die Ursprünge des »Bösen«, stellt sich die Frage, ob Lydia jemals eine Chance auf »Besserung« hatte. Denn eine Musik, die in tota­li­tären, monar­chis­ti­schen Verhält­nissen ihre Ursprünge hat und mit dem »Diri­genten« den »König« und dem »Orchester« das »Volk« wieder und wieder repro­du­ziert, können die Betei­ligten nicht anders als das sein, dessen Teil sie sind.

Es sei denn, sie kehren diesem System den Rücken zu. Und das ist dann am Ende viel­leicht der schönste, berüh­rendste Moment in Tár, in dem Field dann endlich Haneke hinter sich lässt. Die Erkenntnis, dass es für das Glück dann doch nie zu spät ist, auch wenn der Weg weit ist und so etwas wie Glück, das erst nur einmal wie Fremde aussieht, am Ende der Welt liegt. In diesem Fall den Phil­ip­pinen. Aber es könnte natürlich genauso gut Panama sein.