10.02.2022

Manche mögen’s lesen

Jonathan Coes Roman Manche mögen's lese
Jonathan Coes Billy Wilder-Roman: „Mr. Wilder & ich“
(Plakat: Folioverlag)

Mediensynergieeffekt: Manchmal kann auch ein neues Buch zum Filme schauen anregen. Bei Jonathan Coes Roman „Mr. Wilder & ich“ hat das funktioniert und zu einer neuen Begegnung mit dem Filmschaffen von Billy Wilder geführt

Von Christoph Becker

»A bad play folds and is forgotten, but in pictures we don’t bury our dead.« – (Billy Wilder)

Das Buch

Ein Roman über den großen Billy Wilder? Das lockt auf jeden Fall Leser an, die beim Kauf des Buches die Hoffnung hegen, Literatur- und Film­in­ter­esse auf das Vergnüg­lichste mitein­ander verbinden zu können. Natürlich hat sich Wilder auch selbst oft genug zu Wort gemeldet, etwa in den Büchern „Hat es Spaß gemacht, Mr. Wilder?“ von Cameron Crowe oder Hellmuth Karaseks „Billy Wilder: Eine Nahauf­nahme“. Und es gibt die zumindest für seine ersten Schaf­fens­phasen sehr ergiebige sechs­tei­lige Interview-Doku­men­ta­tion „Billy Wilder, wie haben Sie’s gemacht?“ von Volker Schlön­dorff und Gisela Grischow mit dem ständig aus dem Off über­set­zenden, quat­schenden und lachenden Helmuth Karasek.

Viel­leicht hat sich Jonathan Coe, der vielfach prämierte zeit­genös­si­sche britische Autor, den Film Fedora aus Wilders nicht so stark beach­tetem Spätwerk heraus­ge­sucht, um um diesen herum eine fiktive Handlung zu bauen, damit er auch weniger Bekanntes erzählen und ein Genie im Sinkflug zeigen kann.
Doch der Anfang des Romans gehört Calista, einer grie­chi­schen Filmmusik-Kompo­nistin in London im Jahr 2013, die ihre ältere Tochter Ariane zum Flughafen bringt, weil diese nach Sydney reisen will. Calista schreibt gerade an einer Suite für Kammer­or­chester, die sie Billy Wilder widmen will. Von hier wird ein Bogen in das Jahr 1976 gespannt, als Calista selbst von ihrer Mutter zum Athener Flughafen gebracht wird: Zielort Los Angeles. Durch eine kompli­zierte und weit herge­holte Erzähl­kon­struk­tion landet Calista mit einer neu gewon­nenen Reise­freundin schließ­lich in L. A. bei einem Abend­essen mit Billy Wilder, seiner Frau Audrey und dem Ehepaar Diamond. Ein char­manter Erzähl­ein­fall ist, dass sich Calista kaum für Filme inter­es­siert, Billy Wilder nicht kennt und damit eine erfri­schend unpas­sende Abend­be­glei­tung ist, die es den anderen Figuren aber ermög­licht, Selbst­ver­s­tänd­li­ches zu erzählen oder zu erklären. Später versucht sie diese Unwis­sen­heit durch das Auswen­dig­lernen eines Film­le­xi­kons zu kompen­sieren, was ihr immer wieder über­raschte Reak­tionen einbringt und den Leser schmun­zeln lässt. Bei diesem Abend­essen in Wilders eigenem Restau­rant „The Bistro“ treffen sich zum ersten Mal Fiktion und Fantasie und Jonathan Coe kann sein sehr gut recher­chiertes Hinter­grund­wissen in unter­halt­same Dialoge verwan­deln, die dem Leser tatsäch­lich ein leben­diges Bild von Wilder vermit­teln, von seiner (zweiten) Ehe, seinen Lebens-, Arbeits- und Essens­ge­wohn­heiten und vor allem von der Freund­schaft mit seinem lang­jäh­rigen Dreh­buch­partner I. A. L. Diamond (Emigrant wie Wilder), mit dem er seit 1957 sehr erfolg­reich zusam­men­ar­bei­tete. Irgendwie landet Calista dann jeden­falls bei den Dreh­ar­beiten auf der grie­chi­schen Insel Lefkada zu Fedora, Wilders vorletztem Film, wo sie aufgrund ihrer Grie­chisch­kennt­nisse als Dolmet­scherin für die Filmcrew arbeitet. Coe garniert die Einblicke in die schwie­rigen Dreh­ar­beiten mit einer bitter­süßen Romanze Calistas und nimmt – über eine entste­hende Freund­schaft zwischen Calista und I. A. L. Diamond – Billy Wilder aus einer Außen­per­spek­tive in den Blick. Das ist alles gekonnt verknüpft und nur eine über 50 Seiten lange Passage ragt seltsam unpassend heraus: Wilder erzählt beim Abschlus­sessen der Film­pro­duk­tion in München von seinen Erfah­rungen mit den nach 1945 die Vergan­gen­heit verdrän­genden Deutschen, um einem selbst­be­wusst unre­flek­tierten jungen Deutschen einen Denk­zettel zu verpassen. Als beson­derer Kniff ist diese eigent­lich mündliche Erzählung in Dreh­buch­form notiert, was an dieser Stelle keinen Sinn ergibt und einfach nur verwirrt. Wilder berichtet hier auch von der Produk­tion des Doku­men­tar­filmes Death Mills (1945), in dem er im Auftrag der ameri­ka­ni­schen Regierung Archiv­ma­te­rial aus den deutschen Vernich­tungs­la­gern verar­bei­tete, um die deutsche und öster­rei­chi­sche Bevöl­ke­rung damit zu konfron­tieren. Da Billy Wilder einen Großteil seiner Familie in den Nazi­la­gern verloren hatte, ist es kaum nach­voll­ziehbar und sehr beein­dru­ckend, wie wenig Aufhebens er zeit­le­bens um sein eigenes Fami­li­en­schicksal machte.

Insgesamt lernt der Leser Wilder in seiner Spätphase seines so erfolg­rei­chen Schaffens kennen – von Zweifeln geplagt, ob seine Filme noch bei einem Publikum funk­tio­nieren, welches Der weiße Hai (1975) feiert, wie auch die Roman­heldin Calista beim ersten Abend­essen. Ein inter­es­santes, ironi­sches Detail der Film­ge­schichte ist, dass sich Wilder erfolglos um die Film­rechte der Geschichte um Oskar Schindler bemühte und ausge­rechnet dann der Regisseur des „Weißen Hai“, Steven Spielberg, diesen Film drehte.

Die Filme

Und wer kennt eigent­lich Wilders Film Fedora? „Warum dieser Film?“, fragen sich auch einige Figuren im Roman. Wilder hatte die Geschichte einer alternden Filmdiva ja schon in Sunset Boulevard (1950) genial verfilmt und wieder­holt sich hier thema­tisch. Auch ist Fedora um einiges schlechter als der Vorgänger. Die Story so vorher­sehbar wie kompli­ziert. Das Team um Wilder/Diamond und William Holden schien in die Jahre gekommen zu sein. Viel­leicht war Wilder in seiner späten Phase den Fragen nach dem Dahin­schwinden und der Vergäng­lich­keit des Ruhmes und nach dem Aufhalten des Alte­rungs­pro­zesses persön­lich einfach so viel näher als 1950, dass er dieses Thema noch einmal künst­le­risch gestalten wollte. Danach entstand jeden­falls nur noch der bei der Kritik zwie­spältig aufge­nom­mene Buddy Buddy mit seinem etwas abge­nu­delten Erfolgsduo Lemmon/Matthau.

Obwohl man Fedora allein schon wegen der vielen bekannten, u. a. deutschen, Schau­spieler:innen (Hildegard Knef, Gottfried John, Mario Adorf, Ellen Schwiers) mit Interesse anschauen kann, hat der Film trotz seiner Tragik wenig, was man meis­ter­haft nennen könnte.

Dabei sind auch Wilders drama­ti­sche, tragische und spannende Filme auch heute noch absolut sehens­wert. Zu Unrecht ist Billy Wilder bei vielen Kino­gän­gern nur für seine Komödien berühmt, obwohl Some Like It Hot (1959), One, Two, Three (1961) und The Front Page (1974) absolute Meilen­steine der tempo­rei­chen Komödie darstellen und immer noch richtig Spaß machen, zwei davon mit seinem Erfolgsduo Lemmon/Matthau. Für sein großes Regie­vor­bild Ernst Lubitsch hatte er schon 1939 mit seinem damaligen Co-Autoren Charles Brackett das Drehbuch zur wunder­baren Komödie Ninot­schka mit Greta Garbo geschrieben. Das Lustige lag ihm offen­sicht­lich im Blut. Seine Vorliebe für frivole Kalauer und flotte Sprüche zeigt sich auch in vielen Film­auf­nahmen, die von ihm erhalten sind. So ist auch sein, mit fünf Oscars ausge­zeich­neter, erfolg­reichster Film The Apartment (1960) eine Komödie. Jack Lemmon spielt hier einen kleinen Ange­stellten (C. C. Baxter), der ständig sein zentral gelegenes Appar­te­ment in New York an Kollegen für ihre Seiten­sprünge und Affären ausleiht, und so die Karrie­re­leiter in seiner Firma hoch­klet­tert, weil ihn jeder der Nutz­nießer in höchsten Tönen lobt. Vor allem der Chef der Firma, gespielt von Fred MacMurray, wird hier als gnaden­loser sexueller Ausbeuter seiner weib­li­chen Ange­stellten gezeigt, MeToo vorweg­ge­nommen. Scharfe Kritik in scheinbar harmlosem Humor verpackt – ein Marken­zei­chen vieler Wilder-Filme. Die Fahr­stuhl­füh­rerin, in die sich C. C. Baxter (Jack Lemmon) inzwi­schen verliebt hat, treibt er so in den Selbst­mord­ver­such, der auch in dem besagten Appar­te­ment statt­findet. Shirley MacLaine hat hier ihren ersten Auftritt für Wilder, der hatte zunächst an Marilyn Monroe gedacht. Sie ist eine absolute Entde­ckung mit ihren blit­zenden Augen, ihrer Mischung aus Verletz­lich­keit, Stolz und Sex-Appeal und hat für diese Rolle zu Recht einen Golden Globe bekommen (für den Oscar war sie nominiert). The Apartment ist ein Sitten­ge­mälde der auf Seiten der Männer sehr lockeren Moral der 50er- und 60er-Jahre, wie auch Sabrina (1954), The Seven Year Itch (1955) oder Love in the Afternoon (1957), wobei bei aller Frivo­lität und Frei­zü­gig­keit stets der moralisch integre Prot­ago­nist hervor­sticht, der immer auch ein roman­tisch Liebender ist. Trotzdem wirkt dieser Film, im Gegensatz zu vielen anderen Wilder-Filmen, vor allem aufgrund des Haupt­dar­stel­lers Jack Lemmon und seines passiv-naiv-kind­li­chen Verhal­tens, in gewisser Weise aus der Zeit gefallen. Sein reaktives und irgendwie willen­loses Agieren und seine über­trie­bene Spiel­weise (warum muss er ständig summen und trällern, um seine gute Laune zu demons­trieren?) ist aus heutiger Sicht kaum nach­zu­voll­ziehen und passt allen­falls zu den grotesk über­drehten Komödien wie Some Like It Hot und The Front Page. Trotzdem ist Lemmon natürlich auch der große Roman­tiker und damit viel­leicht das Alter Ego Billy Wilders, der fast immer (Ausnahme: Avanti!, 1972) monogam-ehren­werte und beste Absichten gegenüber seinen Liebes­part­ne­rinnen verfolgt, seien sie Prosti­tu­ierte (Irma la Douce, 1963) oder Ex-Frauen (The Fortune Cookie, 1966). Auch die meisten Frau­en­haupt­rollen sind roman­tisch-konser­vativ angelegt, vor allem in der Verkör­pe­rung von Audrey Hepburn, die sich (fast) immer in ältere Männer verlieben muss (Sabrina, 1954; Love in the Afternoon, 1957). Die starken Frau­en­fi­guren sind dann eher durch­trieben (Double Indemnity, 1944; Witness for the Prose­cu­tion, 1957) oder leicht wahn­sinnig (Sunset Boulevard, 1950). Einen Sonder­fall stellt dabei Marilyn Monroe dar. Bei ihren Rollen (Some Like It Hot, 1959; The Seven Year Itch, 1955) greifen Zuschrei­bungen wie stark oder schwach nicht, sie spielt die blonde Naive und ist sich dabei gleich­zeitig ihrer eroti­schen Ausstrah­lung so sicher, dass die (Film-)Männer wie kleine Jungs in Andacht erschauern und Männchen machen. Männer- und Frau­en­bilder dieser Filme gäben noch Stoff für viele Semi­nar­ar­beiten und Film­essays ab …

Nicht immer nur lustig

Eine andere Seite, eine sehr ernst­hafte, findet Ausdruck in dem erwähnten Vernich­tungs­lager-Doku­men­tar­film Death Mills (1945), oder dem atmo­sphärisch dichten Kriegs­ge­fan­ge­nen­lager-Film Stalag 17 (1953), der psycho­lo­gisch diffe­ren­ziert und trotzdem auch hoch spannend von ameri­ka­ni­schen Kriegs­ge­fan­genen, ihren Ausbruch­ver­su­chen und ihren internen Span­nungen in den Baracken während des Zweiten Welt­krieges erzählt. Schon in The Lost Weekend (1945) hatte Wilder das Thema Alko­ho­lismus in packender und realis­ti­scher Weise mit Ray Milland in der Haupt­rolle verar­beitet. Allein schon die Szene der verzwei­felten Suche nach der letzten zu gut versteckten Flasche Alkohol ist zum Thema Sucht zeitlos gültig.
In der Tragödie Sunset Boulevard (1950) geht es um eine Filmdiva (Gloria Swanson, Wilder wollte zunächst Mae West), die mit ihrem verblas­senden Ruhm nicht zurecht kommt. Ein beein­dru­ckender Film wie auch das zynische Repor­ter­por­trait Ace in the Hole (1951), das die Skru­pel­lo­sig­keit von Sensa­ti­ons­jour­na­lismus anpran­gert – mit einem über­ra­genden Kirk Douglas in der Haupt­rolle.
Ungeheuer spannend und lohnens­wert ist schon Wilders früher Film Five Graves to Cairo (1943), ein intel­li­gentes Agenten-Kammer­spiel während des Zweiten Welt­krieges. Spannung, Plot-Twists und Finesse prägen auch die Klassiker Double Indemnity (1944) und Witness for the Prose­cu­tion (1957).
Was für ein beein­dru­ckendes und viel­sei­tiges filmi­sches Werk! Es ist nur sehr schade, dass Film­lieb­haber es sehr schwer haben, an die meisten Filme heran­zu­kommen. Warum gibt es nicht vernünf­tige DVD-Sammler-Editionen? Viel­leicht tragen Romane wie „Mr. Wilder & ich“ ja dazu bei, Wilders Filme wieder neu auf den Markt zu bringen. Es lohnt sich.