08.04.2021

Die Chaostheorie des politischen Bewusstseins

Adam Curtis
Typische Handbewegung des analogen Zeitalters
(Foto: BBC / Adam Curtis)

Der einmalige britische Filmemacher Adam Curtis und seine neue, geniale Film-Serie »Can’t Get You Out of My Head« über das »individualistische Zeitalter« und die »Emotionsgeschichte der Moderne«

Von Rüdiger Suchsland

»The age of self-expres­sion has become very rigid. One of the things I tried to put into these films but couldn’t find the stories to do it, is that everyone is very self-conscious today and feels they're being watched. It’s almost like you're in a Victorian novel, but actually there’s no one there. There’s something very deep in society at the moment. What I want to say to people is: we made the world the way it is; it didn’t just happen. And if we did that, we can make it different. You can’t say: 'Oh, it’s all going to be nice now Joe Biden’s come back into power.' Bad things happen because we and our leaders let them happen or created them. And if that’s true, then we can change it. That’s the opti­mistic thing I’m trying to say.«
Adam Curtis, 2021 (zitiert nach: »The Guardian«)

»Can’t Get You Out Of My Head« – von Kylie Minogues gleich­na­migem Welthit stammt der Titel – und nicht nur mit dieser offen­kun­digen Pop-Referenz sagt uns der Filme­ma­cher: Dies ist auch ein unter­halt­samer Film, eine kultur­ge­schicht­liche Zeitreise, die Spaß machen soll – und die tatsäch­lich Spaß macht.

Zugleich ist dieser Film ein monu­men­tales Unter­fangen: In sechs Teilen, von denen jeder Teil die klas­si­sche Spiel­film­länge über­schreitet, bietet »Can’t Get You Out Of My Head« eine Geschichte des »indi­vi­dua­lis­ti­schen Zeit­al­ters«, der »Emoti­ons­ge­schichte der Moderne« und eine Diagnose der Gegenwart.

Denn was verbindet unter anderem die radikalen Schwarzen Bürger­rechtler der Black Panther mit der Mao-Gattin Tschiang Tsching, mit dem Schrift­steller Alexander Solche­nyzyn, der Erfindung der Folk-Musik, und dem Rapper Tupac Shakur? Was verbindet Leonid Lubja­ni­tsky, der in seinem ersten Leben sowje­ti­scher Dissident des Moskauer Under­ground war, in seinem zweiten Leben russi­scher Mafiosi, Schrift­steller und Obdach­loser (in dieser Reihen­folge) in Brighton Beach, in seinem dritten Leben Natio­nal­bol­sche­wist wieder in Moskau, mit John Lennon, mit dem RAF-Anwalt Horst Mahler, der sich aus einem linken Bürger­rechtler zu einem Rechts­ex­tremen entwi­ckelt hat, mit briti­schen Ehefrauen aus Mittel­stands­ver­hält­nissen, die in den 1960er Jahren entweder vali­um­süchtig wurden, oder für ihr Recht eintraten, sich scheiden zu lassen, und mit ihren Kindern, der west­eu­ro­päi­schen Mittel­stands­ju­gend, die alle »etwas Kreatives« arbeiten wollen?

Die Antwort ist eigent­lich ganz einfach: Es ist der Indi­vi­dua­lismus; die Vorstel­lung, dass jeder Einzelne ein unver­wech­sel­bares Selbst hat, das sich ausdrü­cken muss. Und dieser Ausdruck, diese Selbst-Expres­si­vität sind Ziel und Sinn des Lebens.

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»Ich hasse Verschwö­rungs­theo­rien. Ich finde sie einfach ziemlich lang­weilig. Sie sind heute so populär, weil sie dem Denken der gegen­wär­tigen Menschen so gut entspre­chen. Die Leute denken nur noch in Frag­menten. Sie asso­zi­ieren, paral­le­li­sieren, stellen neben­ein­ander, aber dahinter steckt keine echte Bedeutung. Es sind nur die Verein­fa­chungen und Dumm­heiten die Welt, in der wir leben.« Dass der Mann ein Gespür für Themen hat, die in der Luft liegen, zeigt der Zeitpunkt, an dem dieses Zitat fiel: Im Mai 2010 stellte Adam Curtis seine Filme erstmals in Deutsch­land bei den Kurz­film­tagen Ober­hausen vor.

Aber bereits seit fast dreißig Jahren gehört Curtis, geboren 1955, zu den für eine breitere Öffent­lich­keit unbe­kann­testen, zugleich wich­tigsten Filme­ma­chern aus Groß­bri­tan­nien. Seine Filme laufen auf inter­na­tio­nalen Festivals, ab und zu sogar bei den Film­fest­spielen in Cannes.

Die meisten seiner Werke sind zwar Mehr­teiler; man kann sie aber auch in einem Zug, quasi als einen Film, ansehen. Manchen genügt die Spiel­film­länge, sehr viele von ihnen wurden inter­na­tio­nale Erfolge: »Pandora’s Box«, »The Power of Night­mares« über die Vorge­schichte des 11. September und des isla­mi­schen Funda­men­ta­lismus seit den 1950er Jahren und ihre Verwandt­schaft mit der neokon­ser­va­tiven Bewegung in den USA; und natürlich der Vier­teiler, der seinen Ruhm begrün­dete: »The Century of the Self« über die Geschichte der Psycho­ana­lyse, der Propa­ganda und die Paral­lelen beider Geschichten.
Eines der bemer­kens­wer­testen Dinge, die man zu Curtis erzählen kann, ist, dass er fast alle seine Filme sehr schnell komplett frei ins Internet stellt. Man kann sie auf seiner eigenen Homepage, über Youtube und auf anderen Platt­formen frei abrufen – für ihn ist das eine glasklare Sache, denn die Filme wurden von öffent­li­chen Geldern für öffent­lich-recht­liche Sender produ­ziert, sie gehören also den Bürgern, die sie bezahlt haben, und sie sind als Infor­ma­tion und Aufklä­rung gedacht.

Curtis ist einer der wich­tigsten Filme­ma­cher aus Groß­bri­tan­nien. In den letzten zwanzig Jahren hat er eine ganz eigene und eigen­wil­lige Form von poli­ti­schem Essayfilm entwi­ckelt, die sich in mancher Hinsicht an die besten Tradi­tionen des briti­schen Doku­men­tar­films und des »Free Cinema« anschließt. Seine Filme sind von komplexen asso­zia­tiven Montagen geprägt und bieten eine Collage aus atem­be­rau­benden Funden im Archiv­ma­te­rial, die durch einen Off-Erzäh­ler­text zusam­men­ge­halten werden. Das Ergebnis ist ein filmi­scher Bewusst­seins­strom, der Material aus Sozio­logie, poli­ti­scher Theorie, Geschichte und Psycho­logie zu bislang unge­se­henen Bildern verbindet, im Stil derart verfüh­re­risch, dass es schwer­fällt, sich als Zuschauer dem Sog von Curtis' Gedanken, auch seiner Thesen, zu entziehen.

Adam Curtis ist ein poli­ti­scher Filme­ma­cher. Er ist engagiert, zwar unpar­tei­isch und »britisch nüchtern« im Benennen und Präsen­tieren von Fakten, aber nicht in ihrer Bewertung. Er nimmt kein Blatt vor den Mund und ist zornig. Curtis greift die Mächtigen an, misstraut den globalen Konzernen und den Finanz­in­sti­tu­tionen. Zugleich ist er offen­kundig von den dunklen Seiten der Macht faszi­niert. In seinen Filmen gibt es immer wieder über­ra­schende Verbin­dungen, verbor­gene Agenden und Pläne, geheime Zirkel, Treffen abseits der Öffent­lich­keit. Curtis liebt auch Koin­zi­denzen und über­ra­schende Gleich­zei­tig­keit von Gegen­sätzen.

Vielen seiner Filme­ma­cher­kol­legen wirft er vor, »dass sie nur das machen, von dem sie glauben, dass es das Publikum hören will und ertragen kann, ähnlich wie alle poli­ti­schen Parteien mit den Wählern.« Zensur werde quasi im Hirn der Macher bereits vorweg­ge­nommen. »Das ist eine Normie­rung des Bewusst­seins.« Es müsse aber doch das Ziel sein, aufzu­klären.
Selbst möchte er sich dabei aber keines­falls als Künstler verstanden wissen. »Ich stehe in der besten Tradition klas­si­schen BBC-Jour­na­lismus, meine Filme sind wie Repor­tagen aus den 60er oder 70er Jahren, die ihrem Publikum das Tor zu einer unbe­kannten Welt erschließen.« Darin mag ein Stück echter Beschei­den­heit liegen, auch die bekannte Furcht eines Linken, für einen »bürger­li­chen Intel­lek­tu­ellen« gehalten zu werden.
Tatsäch­lich ist Curtis in vieler Hinsicht eine Ausnahme: Einer, den man nicht einfangen kann, der durch seinen inter­na­tio­nalen Erfolg die Lizenz zum Expe­ri­ment, Zeit zur Recherche und die Freiheit zum Außer­ge­wöhn­li­chen hat – und dessen Filme eher billig sind, was diese Freiheit sichert. Zugleich aber dient Curtis einer zunehmend normierten und den Control­lern unter­wor­fenen Orga­ni­sa­tion auch als Feigen­blatt.

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»These films are a history of how we got to this place. And why both those in power and we find it so difficult to move on...«
Aus dem Off-Kommentar

Das neueste Werk des 65-jährigen verbindet disparate Elemente und mündet in eine Art Chaos­theorie des poli­ti­schen Bewusst­seins: Die anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Bürger­rechts­be­we­gung der 1960er Jahre führt zum Fall des Eisernen Vorhangs in den Acht­zi­gern und dem Triumph des Westens. In den Neun­zi­gern erlebte die Mensch­heit den Gipfel der west­li­chen Idee des Indi­vi­dua­lismus – doch zugleich wuchsen Ängste und Verschwö­rungs­theo­rien und der Wunsch, ihrer Herr zu werden durch Wellness- und Selb­st­op­ti­mie­rungs­wahn.
Auch der Brexit oder die Wahl von Donald Trump, beides im Jahr 2016, sind hier soge­nannte Schmet­ter­lings­ef­fekte, viel­leicht nur ausgelöst durch ein paar dumme Zufälle, verändern sie das ganze Bild der Geschichte.

Zugleich konsta­tiert Curtis die zuneh­mende Unfähig­keit der poli­ti­schen Lager, den ermüdeten Demo­kra­tien noch weiterhin eine Zukunfts­vi­sion zu geben. Daraus entwi­ckelt sich die Serie auch zu einem Portrait des einst­wei­ligen Schei­terns der Linken.
So stellt sich dann die Frage nach der Zukunft der Demo­kratie und des west­li­chen Modells von Wohl­fahrts­staat und sozi­al­part­ner­schaft­li­cher Gesell­schafts­ord­nung.

In prägnanter und wie gesagt oft genug verfüh­re­ri­scher Form erklärt Adam Curtis uns allen, was wir denken und warum wir denken, was wir denken.
»Keiner, der gegen den Rechts­po­pu­lismus ist, hat eine echte Alter­na­tive«, heißt es im Film. Nur die Eliten der globalen Wirt­schaft. Kata­stro­phen wie 9/11, die Banken­krise oder Covid-19 sind ihnen eine Chance, ihre lang präpa­rierte Agenda in die Tat umzu­setzen – davon ist jeden­falls Curtis überzeugt. Die Gefühle der Menschen sind in seiner Emoti­ons­ge­schichte die Grube, die sie sich selbst gegraben haben.

»What you felt and what you wanted and what you dreamed of were going to become the driving force across the world. And to under­stand the present you have to go back and see what happened when those hopes and dreams and uncer­tain­ties inside people’s minds went to much older forces of those in power.«