14.01.2021

Ein Fall aus Dunkel-Deutschland

Höllental
Der Fall Peggy jetzt auch als True-Crime-Story
(Foto: obs/ZDF/ZDF/Alexander Gheorghiu)

Fast ein deutsches »Twin Peaks«: Regisseurin Marie Wilke rekonstruiert in der ZDF-Doku-Serie »Höllental« den Mordfall »Peggy«

Von Rüdiger Suchsland

Der Tod kommt aus den Wäldern: Im deutschen Wald, da liegen im Film wie in der Realität der Deutschen die Geheim­nisse und die Rätsel, da liegen die Leichen, die uns nachts und manchmal auch bei Tage heim­su­chen. »Das Geheimnis des Toten­waldes« – so hieß vor wenigen Wochen eine ziemlich gelungene ARD-Serie, die hoch­karätig mit Darstel­lern wie Matthias Brandt und Karoline Schuch besetzt war. Die Handlung basierte auf den tatsäch­li­chen Ereig­nissen der »Göhrde-Morde« bei Lüneburg im Jahr 1989 und der Geschichte des Seri­en­mör­ders Kurt-Werner Wichmann, sowie jener Aufklärer und Ermittler, die in ihrer Freizeit, gegen den aktiven Wider­stand der Ermitt­lungs­behörden, den Fall nicht ad acta legten, Fragen wieder­auf­rollten, kalte Spuren weiter­ver­folgten – aber er tat dies noch als Fiktion, mit Schau­spie­lern und einiger Phantasie der Autoren und Macher.

Einen großen Schritt weiter hin zum realen Geschehen unter­nimmt jetzt die als Doku­men­tar­fil­merin versierte Regis­seuren Marie Wilke (Staats­diener, 2010; Aggregat, 2017). »Höllental« heißt nun ihr Sechs­teiler über die rätsel­hafte Geschichte vom Verschwinden und Mord an der neun­jäh­rigen Peggy Knobloch – es ist die erste deutsche True-Crime-Serie im deutschen Fern­se­hens. Vorreiter ist diesmal das ZDF, das »Höllental« am vergan­genen Woche­n­ende startete und am kommenden Woche­n­ende fort­setzen wird. Alle sechs Folgen sind bereits jetzt in der Mediathek zu sehen.

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Sie hatte strahlend-blaue Augen. Und sie lebte in einem in fröh­li­chem Hellblau gestri­chenen Haus. Wer hat das neun­jäh­rige Mädchen mit den blauen Augen getötet? Das ist seit 20 Jahren die Frage im Fall »Peggy Knobloch«.

Dieser rätsel­hafte Krimi­nal­fall aus dem frän­ki­schen Grenz­ge­biet unmit­telbar zu Thüringen und neben der tsche­chi­schen Grenze beschäf­tigt, seitdem er sich im Jahr 2001 ereignet hat, nicht nur die Krimi­na­listen und Ermitt­lungs­behörden, nicht nur die Milieu-Forscher und regio­nalen Hobby-Experten, sondern auch die Filme­ma­cher. Bereits im Jahr 2011 erzählte Dominik Graf in seinem schönen Film »Das unbe­kannte Mädchen« eine fiktio­nale und sehr behör­den­kri­ti­sche, freie Version des Falls.

Näher dran an den Fakten ist jetzt Marie Wilke. Ihre Serie »Höllental« rollt diesen nach wie vor ungelösten Fall wieder auf, und erweitert ihn zugleich zu einer Sozial- und Kultur­ge­schichte einer gott­ver­las­senen Region und ihrer Milieus.

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»Lich­ten­berg ist die kleinste Stadt im Landkreis Hof, 1200 Einwohner ungefähr, und liegt direkt am Höllental, einem tiefen Tal-Einschnitt im Fran­ken­wald...« – das Höllental heißt nicht nur so seit dem zum Mordfall gewor­denen Verschwinden des Mädchens. Es gibt tatsäch­lich ein Flusstal mit diesem furcht­ein­flößenden Namen im Fran­ken­wald, an das die kleine Stadt Lich­ten­berg direkt angrenzt.

»Wenn man zum ersten Mal nach Lich­ten­berg kommt«, so erzählt der seiner­zeit aus München dort extra ange­reiste SZ-Reporter Uwe Ritzer, »dann ist es natürlich Hinter­wald. Das war der hinterste Zipfel Bayerns, eine Gegend mitten im Wald, an der unmit­tel­baren ehema­ligen Grenze zur DDR. Da kommst du norma­ler­weise nicht hin, wenn du dann nicht irgend­etwas zu tun hast oder dort aufge­wachsen bist.«

Während immer wieder die Kamera-Drohne langsam über die schwarz-grünen Wälder schwebt, erlaubt Wilkes ZDF-Serie aber nun tatsäch­lich einen Blick in die Hölle.

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Der Fall faszi­niert schnell die Medien und wird bundes­weit bekannt. Theorien über­la­gern sich. Lange wird, da keinerlei Leichen­spuren zu ermitteln sind, von einer Entfüh­rung ausge­gangen. Es heißt, Peggy sei noch am Leben, sei in ein tsche­chi­sches Bordell entführt worden, sei für Kinder-Pornos miss­braucht worden; Peggy sei hier gesehen worden und dort gesehen worden; ein Familien-Delikt wird ebenso vermutet. Es gab vor dem Verschwinden Anrufe eines Unbe­kannten, auf die das Mädchen fixiert war. Und der kleine Ort zerfleischt sich selbst: Ein Lich­ten­berger Gastwirts-Sohn gerät in den Fokus der Ermitt­lungen, er gesteht, doch bald ist klar: Es gibt alle möglichen Wider­sprüche, und der Verdäch­tige ist geistig behindert. Trotzdem wird dieser behin­derte junge Mann angeklagt, verur­teilt, und muss zehn Jahre im Gefängnis sitzen, allen möglichen Zweifeln zum Trotz, bevor er durch ein Wieder­auf­nah­me­ver­fahren frei­ge­spro­chen wird. Andere aus Polizei und Medien erklären den Miss­erfolg der Ermittler damit, dass ganz Lich­ten­berg den Täter kenne, ihn aber decke.
Sonder­kom­mis­sionen werden gebildet und durch andere abgelöst – der Fall Peggy ist auch ein weiterer von vielen Poli­zei­er­mitt­lungs-Skandalen. Das Urteil Außen­ste­hender fällt für die Polizei vernich­tend aus.

2016 kommt es dann zu einer Sensation: Peggys Leichnam wird von einem Pilz­sammler in einem Waldstück gefunden, und am Fundort des Skeletts finden sich DNA-Spuren des gestor­benen rechts­ex­tremen NSU-Terro­risten Uwe Böhnhardt – eine weitere Wendung, die in manchen Details auch hart­ge­sot­tene Ermittler empört. Ein atem­be­rau­bender Fall!

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Die sehr klein­tei­lige, genaue doku­men­ta­ri­sche Spuren­suche, zeichnet den Fall nach. Stück für Stück wird man mit Indizien und zusätz­li­chen Infor­ma­tionen konfron­tiert, und kann für sich selbst das nie voll­s­tän­dige Puzzle der Fakten und Ereig­nisse zusam­men­setzen.

Ein Beispiel für inves­ti­ga­tiven Doku­men­tar­film – nicht »Doku­men­ta­tion«! –, der den Zuschauer mitein­be­zieht, und nicht nur nüchtern drauf­blickt.

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Wenn reale Gewalt­taten verfilmt werden, ist keine falsche Pietät gefordert.

»Lich­ten­berg und seine 1200 Einwohner, auch das wird in den State­ments von Bürger­meister und Bürgern offen­kundig, wird der Fall der ermor­deten Peggy Knobloch weiter und weiter beschäf­tigen. Der Ort, gelegen in einem verges­senen Winkel von Bayern und von über­schau­barer Attrak­ti­vität, ist markiert, um das böse Wort 'stig­ma­ti­siert' zu vermeiden.«
Jochen Huber, »Der Tages­spiegel«

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Nach bald 20 Jahren zieht ein MDR-Reporter, der den Fall von Anfang an begleitet hat, ein nüch­ternes Fazit: »Dieser Fall beschäf­tigt mich jetzt mein halbes Berufs­leben. Es gab da Drehungen und Wendungen, die kann man einfach nur als irre bezeichnen. Als völlig absurd teilweise. Aber immer noch ist er halt nicht gelöst, dieser Fall...«

Eine spannende, in ihren Details auch über­ra­schende Geschichte – Fernsehen mal nicht als Eska­pismus, sondern als Blick in den Spiegel, als Konfron­ta­tion mit uns selbst und einem Dunkel­deutsch­land, das man allzu gern verdrängt.

Es sind keine schönen Orte, es sind keine Heimat-Idyllen, mit denen man hier konfron­tiert wird, auch wenn manches Natur­pan­orama, das eine oder andere Fach­werk­haus solche Sicht­weisen nahelegt. Bei den Menschen aus Lich­ten­berg und Umgebung ist die Serie darum auch nicht besonders gut ange­kommen. Weil sie sich in dem Bild des trüben grauen traurigen Ortes nicht wieder­finden wollen.

Marie Wilke gelingt es, alldem trotzdem ein zusätz­li­ches Flair zu geben, die Aura eines Mystery-Krimis, eines deutschen »Twin Peaks«, und damit eine eher fiktio­nale Heran­ge­hens­weise – was nie der Authen­ti­zität der Fakten und der Würde des Gesche­hens wie der Betei­ligten Abbruch tut.