27.05.2022
75. Filmfestspiele Cannes 2022

Die Leinwand-Krieger

THE NATURAL HISTORY OF DESTRUCTION
Bilder eines Krieges: Sergej Loznitsas bedrückender The Natural History of Destruction
(Foto: Sergej Loznitsa · 75. Festival de Cannes)

Luftkrieg in Cannes: In einer zweifelhaften Show demonstrieren Kampfjets Frankreichs Flugbereitschaft, Sergej Loznitsa zerstört mit The Natural History of Destruction die trügerische Ruhe im Kinosaal. Allein Mantas Kvedaravičius hat mit Mariupolis 2 ein anrührendes Zeugnis jenseits der Kriegsrhetorik geschaffen

Von Dunja Bialas

Kaum waren die mahnenden Worte des ukrai­ni­schen Präsi­denten Wolodymyr Selens­kyjs zur Eröffnung des 75. Festival de Cannes verhallt, schon flogen die Kampfjets über die Croisette. »Jeden Tag sterben Hunderte von Menschen. Sie werden nach dem Schluss­ap­plaus nicht wieder aufstehen«, hatte Selenskyj gesagt und damit den Krieg in der Ukraine ins Bewusst­sein der Festi­val­gäste gerückt. Einen Tag später feierte der 80er-Jahre-Film Top Gun seine Wieder­auf­er­ste­hung, wieder wurde eng mit der US-Navy und dem ameri­ka­ni­schen Vertei­di­gungs­mi­nis­te­rium zusam­men­ge­r­ab­eitet. So kann der 60-jährige und, wie mir Kollege D. versi­chert, verboten jung ausse­hende Tom Cruise in Maverick seine anhal­tende Potenz erneut in echten Kampfjets beweisen, sekun­diert von ebenso realen Kampfjets der fran­zö­si­schen Armee, die als PR-Gag die Croisette mit einer Trikolore überzogen. Schau her, schien Cannes an Putin adres­siert zu sagen, wir können, was du selbst noch nicht einmal am »Tag des Sieges« kannst, und das sogar just for fun.

Das ist ekel­haftes Muskel­spiel einer fehl­ge­lei­teten PR-Kampagne und sicher­lich nichts, was Selenskyj mit seiner Rede anzetteln wollte. Dicke-Hose-Gesten eines Dicke-Hose-Kinos, das entspre­chende Dicke-Hose-Texte nach sich zog, Fantum und Begeis­te­rung für den kriegs­trei­benden Geschwin­dig­keits­rausch eines neuer­dings salon­fähigen Mili­ta­rismus. Da hätte ich von meinen Kollegen eigent­lich weniger dicke Hose und mehr dickes Hirn erwartet.

Gender Gap: Schöne Frauen, schöne Dinge

In Cannes aber ist die Männer­welt noch in Ordnung. Frauen sind hier zumindest im öffent­li­chen Erschei­nungs­bild vor allem Acces­soires der Männer, »schöne Frauen« tun hier noch »schöne Dinge«, wie Truffauts einschlä­giges Bonmot zur Nouvelle Vague lautet. Vor wenigen Tagen gab es ein Panel des Festivals, über dessen Inhalt wenig bekannt wurde, weil es in einer Empörungs­welle unterging. Zur Frage »Was bedeutet es, heute Filme­ma­cher zu sein?« waren ausschließ­lich männliche Regis­seure aufs Podium geladen: Paolo Sorren­tino, Guillermo Del Toro, Claude Lelouch, Michel Hazana­vicius, Gaspar Noé, Costa-Gavras, Robin Campillo, Mathieu Kassovitz, Kleber Mendonça Filho und Nadav Lapid, und erst in einer zweiten Runde durften »Quinzaine«-Regis­seurin Rebecca Zlotowski und die Schottin Lynne Ramsay weib­li­ches Feigen­blatt spielen. Frauen spielen auch sonst kaum eine Rolle in der Aufmerk­sam­keit, es sei denn, sie sind Schau­spie­le­rinnen: Nur fünf Frauen (Valeria Bruni Tedeschi, Claire Denis, Kelly Reichardt, Léonor Serrailles und in Co-Regie Charlotte Vander­meersch) zeigen ihre Filme im Wett­be­werb (neben achtzehn Männern). »Außer Konkur­renz« beträgt die Männer­quote sagen­hafte 100 Prozent, ebenso in der neuen Reihe »Cannes Premières« sowie bei den Mitter­nachts­filmen. Der Gender Gap ändert sich erst, wenn man in die Neben­reihen »Un Certain Regard« und die unab­hän­gige Sektion »Quinzaine des Réali­sa­teurs« blickt, die wohl hoffent­lich bald umbenannt wird.

Mit der unge­bro­chenen Männer­do­mi­nanz scheint es für Cannes ein starkes Kino wohl nur vom soge­nannten starken Geschlecht geben zu können. Verpasst wird damit aber auch die Chance, neuen Namen den Vortritt zu lassen und so den Wett­be­werb tatsäch­lich nach der Zukunft des Kinos zu befragen. Statt­dessen wird hier das Kino alter Schule hoch­ge­halten, mit Filmen, die aus der Tiefe der Acht­zi­ger­jahre kommen, wie Top Gun: Maverick, und Regis­seuren, die bereits Film­ge­schichte geschrieben haben, wie David Cronen­berg oder Jerzy Skoli­mowski.

Auch wenn man der Festi­val­po­litik gerne wider­spre­chen möchte: Cannes ist kein Festival der Wider­sprüche. So wie man sich bereit­willig dem Dresscode unter­wirft, bleiben an der Croisette die Männer unbe­hel­ligt von Diversity-Rufen oder gar Frauen, die ihnen nicht an die Hose, sondern an ihren Thron wollen. Potenz-Demons­tra­tionen wie die Kampfjets über der Croisette sind da inbe­griffen.

Loznitsa: Luftkrieg als Filmkunst

Dass man aber mit Krieg nicht spielen soll, demons­trierte eindrucks­voll Sergej Loznitsa mit seinem neuen Film The Natural History of Destruc­tion (Séance Speciale). Inspi­riert von W.G. Sebalds gleich­na­migem Text, einer theo­re­ti­schen Einlas­sung zum Luftkrieg der Allierten und seiner Nicht­be­hand­lung in der deutschen Literatur, ging Loznitsa gewis­ser­maßen in den Fron­tal­an­griff über, brachte den Luftkrieg auf die Leinwand von Cannes und durch­brach mit ihm die von Sebald beklagte Schall­mauer des Schwei­gens in der Kunst. The Natural History of Destruc­tion ist ausschließ­lich aus Archiv­ma­te­rial montiert (ein Verfahren, das Loznitsa bereits 2005 für Blokada ange­wendet hat) und skizziert eine Chro­no­logie der Vernich­tung. Der Film beginnt am Vorabend des 2. Welt­kriegs in Berlin. Man trifft sich zum Tanz­kaffee im Café Kranzler, es ist die auslau­fende Weimarer Republik, bald schon sind erste Haken­kreuz­fahnen zu entdecken. Die Metropole pulsiert, die Straßen­bahnen evozieren das Berlin von Alfred Döblin und Erich Kästner, im Münchener Rathaus dreht sich das Glocken­spiel, auf dem Land marschieren nur Gänse, Schafe und Pferde. Der Zeppelin »Hinden­burg« macht Luft­auf­nahmen der unzer­störten Städte, Deutsch­land wirkt wie eine Phantasie aus einem Märchen­film, aus »Zwerg Nase« oder »Hans im Glück«.

Dann die Aufrüs­tung, es geht rasant in den Krieg hinein, der Film wird sich im folgenden auf die Zers­törung dieses deutschen Idylls konzen­trieren, das Wissen um die Kriegs­ver­bre­chen natürlich voraus­ge­setzt, die er selbst ausspart. Die Montage gleitet ohne Not vom Zivil­leben in den Krieg und die Vernich­tung der Städte hinüber und hinter­lässt heftige Wirkung. Ein Schwarm von Bomben wird von den Alli­ierten bei einem einzigen Flug über die deutschen Städte abge­worfen, akribisch doku­men­tieren sie die Einschläge, die bren­nenden Städte, die Vernich­tung. Die Flucht aus den Städten wird gezeigt, die voll­be­la­denen Hand­karren, der Hunger, bis am Ende des Films mit den Trüm­mer­frauen dann das große Aufräumen einsetzt.

Loznitsa hat wie schon in Blokada die Bilder nach­ver­tont, gibt ihnen damit mehr Präsenz und mehr »Realismus«. Die aufheu­lenden Motoren der Kampf­flug­zeuge türmen sich zu einer Symphonie des Grauens, sicher­lich ein proble­ma­ti­scher Neben­ef­fekt, wenn die Alli­ier­ten­kämpfe so auch als Akte der Aggres­sion und Vernich­tung wahr­ge­nommen werden. Es macht was mit einem, wenn man über eine Stunde lang auf Flugzeuge und Bomben blickt, auf brennende Häuser und fliehende Menschen. Warum jetzt dieser Film, fragt man sich. Das ist kaum auszu­halten, und doch virtuos in seiner Montage und grandios im zusam­men­ge­tra­genen Material. »Natural History of Destruc­tion« freilich, der Titel, den sich Loznitsa von Sebald geborgt hat, bereitet einiges Unbehagen. Als würde die Zers­törung einem Natur­ge­setz folgen. Aber genau dies könnte auch eine Gruß­bot­schaft des Films an Putin sein: Auf Zers­törung folgt noch mehr Zers­törung. Im Kinosaal in Cannes sitzt man plötzlich mitten im Krieg.

Mantas Kvedara­vičius: Zeugnis ablegen bis zum letzten

Vom Krieg lässt sich aber auch anders berichten. Der litaui­sche Regisseur Mantas Kvedara­vičius hat in Mariupol die russi­schen Angriffe und die Bela­ge­rung der Stadt doku­men­tiert. Er kehrt damit in die Stadt zurück, die er schon einmal im Kriegs­zu­stand gefilmt hatte, Mariu­polis, der bereits 2014 entstanden war. Diesmal aller­dings sollte Kvedara­vičius die Stadt nicht überleben. Ende März wurde er von den Russen gefangen genommen und ermordet, viele berichten von Folter. Seine Lebens­ge­fährtin Hanna Bilobrova hat das gefilmte Material ins Ausland gebracht und der Filmedi­torin Dounia Sichov übergeben, die bereits Kvedara­vičius' ersten Mariu­polis-Film montiert hatte.

Mariu­polis 2 zeigt die ersten Bilder des Ukraine-Krieges, die nicht von Kriegs­re­por­tern aufge­nommen wurden, aus der Perspek­tive der bela­gerten Stadt. Der Film gibt Zeugnis ab von einem Leben unter Tode­s­angst, Kvedara­vičius befindet sich mit mehreren Dutzend Männern und Frauen in einem Sammel­lager, das eine evan­ge­li­sche Kirche einge­richtet hat. Am Morgen versam­meln sie sich zu einem Gebet, danken Gott, dass sie die letzte schlimme Nacht der Bomben­an­griffe überlebt haben, dass die Kirche verschont geblieben ist. Es gibt dünne Suppe im Gemein­de­saal, gekocht wird auf dem Platz vor der Kirche auf offenem Feuer. »Wenigs­tens ist schönes Wetter«, sagt eine der Frauen. Der Frühling bricht in Mariupol gerade an, noch sind die Menschen empfäng­lich für den Kreislauf der Natur, für die aufblühenden Bäume, für die Ignoranz ihrer Schönheit. Immer wieder filmt Kvedara­vičius den Horizont über den Dächern. Ein dysto­pi­sches Gemälde von einer Stadt unter Beschuss tut sich in seinen langen Einstel­lungen auf, mit Vorder­grund, in dem die Hunde unter den Apfel­bäumen des Hofs nach etwas Essbarem suchen, im Mittel­grund die Häuser der Nachbarn, am Horizont zwischen Fabrik­schorn­steinen leuchtend die Deto­na­tionen der Einschläge, bis die Sonne aufgeht. Noch ist die Front ein paar Kilometer weg, sie wird im Laufe des Films immer näher rücken, bis die Nach­bar­häuser zerstört werden und die Kirche schließ­lich geräumt werden muss. »Wir können nicht mehr für euer Leben garan­tieren«, sagt der Pfarrer, als er die Menschen wegschickt, die nicht wissen, wohin.

In der Notun­ter­kunft erleben sie die Alltäg­lich­keit des Sterbens, sind umgeben von Leichen. Einmal holen sie aus einem Nach­bar­ge­bäude einen Generator aus dem Schuppen, den sie brauchen, um in der Kirche Strom zu haben. Eine Leiche liegt über dem Gerät, der Mann hatte noch versucht, sich vor einem Angriff in Sicher­heit zu bringen. Sie schleifen den Toten über den Hof, bedecken ihn mit einer Plane, werden sich später um ihn kümmern, jetzt ist erst einmal der Generator wichtiger. Mit vielen solcher erschüt­ternden Mikro­er­zäh­lungen macht Kvedara­vičius das Leben der Todge­weihten plastisch, greifbar, auch die Uner­müd­lich­keit in diesem Über­le­bens­kampf. Immer wieder wird der Hof gekehrt, werden die unzäh­ligen Glas­splitter der gebors­tenen Fenster beseitigt, in denen deutlich wird, wie nahe die Kampf­hand­lungen kommen.

Eine weiße Taube fliegt in den Hof der Kirche, sofort ist die Symbolik da. Die vielen kleinen Szenen, die Kvedara­vičius einge­fangen hat, die Menschen, Frauen und Männer, Kinder und Alten, sind die Prot­ago­nisten seines Films, die alltäg­li­chen und vergeb­li­chen Heldinnen und Helden der Bela­ge­rung. Kvedara­vičius zeigt in seinem letzten Zeugnis, das er vom Krieg in der Ukraine ablegt, seine große Doku­men­tar­film­kunst, Dounia Sichov hat seine Bilder zu einer ergrei­fenden Chro­no­logie montiert. Man weiß: am Ende dieser Bilder steht der Tod. Der Tod des litaui­schen Regis­seurs, den man in einem Bild noch einmal als Schat­ten­wurf sieht, als Schatten seiner selbst. Wenn es am Ende des Films über der zerstörten Stadt dunkel wird, brennt die Nacht. Keine Feuer­wehr­si­renen sind zu hören, überhaupt keine Geräusche sind über der Stadt zu vernehmen. Die Apoka­lypse des Krieges, auch das erzählt uns Kvedara­vičius, passiert still.

Mariu­polis 2 kommt so auch ganz ohne Kriegs­rhe­torik aus, es ist das ferne Gegenteil von großen Gesten, Durch­hal­te­pa­rolen oder Propa­ganda, ein anrüh­render Film, der »Zeugnis ablegt bis zum letzten«, wie es Victor Klemperer in seinen Tage­büchern der Kriegs­jahre 1933-1945 beschreibt. Kvedara­vičius hat mit der Notwen­dig­keit eines Kriegs­ta­ge­buchs gefilmt, die ihm letztlich zum Verhängnis wurde, und einen unhin­ter­geh­baren Film geschaffen, der in kleinen Gesten der großen Kata­strophe unserer Zeit ganz nahe kommt.