10.05.2018
71. Filmfestspiele Cannes 2018

Konser­va­tive Revo­lu­tion gegen die Popu­listen des Publikums

Der Leopard
Der Iraner Asghar Farhadi durfte auf Spanisch eröffnen: Everybody knows

Das Zahnrad der Zeit: Cannes eröffnet mit Asghar Farhadi – Cannes-Notizen, 2.Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung!«
Richard von Weiz­sä­cker, 1985

»Ok, lass uns eine ernst­hafte Unter­hal­tung haben: Du sagst mir, was du magst, was du willst, und ich mach' dasselbe. Du fängst an...«
»Blumen, Tiere, blauer Himmel, das Geräusch von Musik... Ich weiß nicht... Alles! Was ist mit dir?«
»Die Ambition, die Hoffnung, die Bewegung der Dinge, Zufälle.«
Aus Pierrot le fou

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Am Tag der Befreiung eröffnet Cannes. Es ist nur ein Zufall, aber viel­leicht passt es ganz gut, dass die Eröffnung der dies­jäh­rigen Festi­val­aus­gabe, die in vieler Hinsicht später auch als ein Befrei­ungs­schlag für das Festival oder für das Kino als solches wahr­ge­nommen werden könnte, auf den 8. Mai fällt. Ein Feiertag in Frank­reich – auch nicht schlecht. Das Wetter hält, obschon immer wieder mal Regen droht, über­wiegen die Sonnen­mo­mente. Und auch die Streiks der fran­zö­si­schen Flug­lotsen wirken sich kaum auf den Festi­val­auf­takt aus.

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Dann geht es los. Eine tolle Eröff­nungs­feier, seit langer Zeit bekomme ich sie mal mit – das ist der erste Vorteil der neuen Regelung, nach der die Filme der Presse nicht mehr vor der eigent­li­chen Welt­pre­miere gezeigt werden.
Glamourös, emotional, intel­lek­tuell, nicht »pseudo«, dabei ohne falsche Töne – nicht so diese typisch deutsche verklemmte Mischung aus »Glamour« und dann doch mit bisschen Kunst­an­spruch in der Schamecke, die zuletzt einige Leute auf der Gala zum Deutschen Filmpreis kriti­siert hatten.

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Schon das aller­erste Bild war ein Statement – und was für eins: Eine Szene aus Pierrot le Fou, Anna Karina und Jean-Paul Belmondo im Gespräch. Ein wunder­barer, ewiger Film-Augen­blick: »Was magst du?« Sie: »Les fleurs, animaux, les bleus de ciel, le bruit de la musique. Je sais pas... tout. Et toi?« Er: »L’ambition, l’espoir, le mouvement des choses, les accidents.«
Kino ist Erin­ne­rung und Erin­ne­rung an das Kino ist notwendig. Das zele­briert schon dieser Beginn.
Aus Pierrot le Fou stammt auch das dies­jäh­rige Festi­val­plakat

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Der Moderator ist der Schau­spieler Eduard Baer: Im Sprech­ge­sang aus Endlos­sätzen, wie auch nur in Fran­zö­sisch möglich, erzählt er den Zuschauern Geschichten über Cannes (»der blaue Himmel, der rote Teppich«), über das Kino (»Was verbietet uns fort­zu­schreiten?«), begrüßt die strah­lende Anna Karina im Publikum, Belmondo in seiner Wohnung zuhause, Jean-Luc Godard in seiner Abwe­sen­heit, und unter den Gästen unter anderem Isabelle Adjani, Costa-Gavras, Chiara Mastroi­anni. Und dann die Jury. Man darf gespannt sein, was das wird: Zum ersten Mal eine mehr­heit­lich weiblich besetzte Jury, natürlich ein Tribut an die Kritik an männ­li­cher Wett­be­werbs-Dominanz (die auch diesmal gegeben ist, denn es gibt nunmal derzeit mehr Filme von männ­li­chen Regis­seuren, also auch mehr gute. Keine Dominanz aber in den Nebensek­tionen). Zugleich gilt für die Jury auch: Männer machen Filme, Frauen treten in ihnen auf; Männer sind Regis­seure, Frauen Schau­spie­le­rinnen oder Sänge­rinnen. Aber intel­lek­tu­elles Gewicht haben Kristin Stewart, Lea Seydoux, Ava du Vernay und Cate Blanchett bestimmt nicht weniger als Andrey Zvyag­intsev, Robert Guédi­guian und Denis Ville­neuve.
Die Jury­prä­si­dentin wird begrüßt als »Made­moi­selle Cate Blanchett« – in der Groß­auf­nahme fallen mir ihre sehr künst­li­chen Fingernägel auf. Und dann diese »großen Schau­spiel­mo­mente« der Cate Blanchett im Trailer: Es sind nicht immer nur gute Filme, aber doch erstaun­lich viele wichtige. Und wie lang manches schon her ist...
Von der »inspi­rance coll­ec­tive« des Kinos ist die Rede. Dann werden in kurzen Teasern 21 Filme aus 14 Ländern vorge­stellt. Sieht man diese Ausschnitte an, denke ich spontan: Stéphane Brizé wird den Grand Prix gewinnen, und der Film mit Golschifte Farahani wird auch einen Preis bekommen – nicht nur wegen der »Frau­en­jury«.

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Im Mai ‘68 lief in den USA »The Thomas Crown Affair« an, auch daran werden wir erinnert. Dann kommt Martin Scorsese auf die Bühne, nur für drei Sätze. Es stimmt einfach alles bei dieser Eröffnung.
Zum Abschluss läuft Georges-Delerue-Musik aus Le mépris. Genau die hatte ich gestern – um »Kino­stim­mung« auszu­drü­cken, in einem Radio­bei­trag verwendet. Ich wusste nicht, dass wir sie hier hören würden, aber – auch wenn das jetzt eine eitle Äußerung ist – als sie läuft, glaube ich: Ein bisschen denke ich eben wie Cannes.

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Als ich den Titel Everybody Knows erstmals gelesen hatte, habe ich spontan gedacht: Ein Doku­men­tar­film über Leonard Cohen? War es dann doch nicht, leider. Sondern eine sehr soapige Geschichte, ein Thriller, der zum Melodram mutiert und nicht besser wird über seine Laufzeit von gut zwei Stunden. Anfäng­liche Hoff­nungen, dass aus der Geschichte über eine Hochzeit in Anda­lu­sien, eine verlorene Tochter, die nach Jahren aus Argen­ti­nien mit ihren zwei Kindern zurück ins Kind­heits­dorf kommt, etwas werden könnte, wie Das Fest, Thomas Vinter­bergs »Dogma«-Offen­ba­rung, die vor genau zwanzig Jahren in Cannes die Goldene Palme gewann, oder Monsoon Wedding, zerschlagen sich schnell, trotz kleiner, fein gesetzter Signale zu Beginn.
Immerhin eine souveräne Regie Farhadis, der alles Recht hat, einen Main­stream-Film zu drehen – es auch weidlich nutzt. Muss nicht schlecht sein. Aber die Darsteller, und zwar alle, »spielen« zu sehr, sind nie »in der Rolle«. Bei Bardem gab es Szenen-Hohn­gelächter im Pres­se­saal. Bisschen hart, aber nicht falsch.
Auch sonst ein sehr formel­hafter Film. Konfek­tio­niert.

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Eine alte Uhr, ein Zahnrad zu Beginn. Das Zahnrad der Zeit im Kirchtum von Torre­laguna. Dort gekrit­zelt, dick aufge­tragen und insofern unüber­sehbar: »1982, LP«. Laura & Paco, das erschließt sich schnell.
Eine Familie aus Argen­ti­nien reist nach Anda­lu­sien, der Mann (Ricardo Darín) bleibt erstmal zuhause, die Frau (Penelope Cruz) und ihre zwei Kinder, Tochter und Sohn treffen zur Hochzeit der Schwester die Familie und alte Freunde wieder. Fast ist es schon ein Genre. Der Hoch­zeits­film: Zeit und Raum, viele Leute. Aber Farhadi macht nichts draus.
Die reichen Argen­ti­nier werden neidisch beäugt, sind aber gar nicht so reich – das stellt sich heraus, als am Hoch­zeits­abend plötzlich ein Albtraum beginnt: Die Tochter wird entführt. Worauf die ganze Familie Stück für Stück zerbirst, denn es können nur Angehö­rige des engeren Kreises sein. Man ahnt bald, wer, und das Ende ist dann richtig schlecht. Oder gibt es einen zweiten Teil? Und alles war ein Cliff­hanger, wie in einer Daily Soap.
Trotzdem: Ein okayer Eröff­nungs­film, Stars auf dem Teppich, kein Anstoß, und manche können – recht dümmlich – Poli­ti­sches hinein­in­ter­pre­tieren.

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Dieses ganze Gerede in Deutsch­land, das einen durch die Gespräche mit Redak­teuren dann doch erreicht, nervt nur, diese grund­sätz­liche Gereizt­heit, mit der man Cannes begegnet, mit der man über die Filme hier und das Autoren­kino schweigt, sich aber über Selfie­ver­bote und Klei­der­ord­nungen auf dem Roten Teppich aufregt.
Was ist denn so schlimm daran, wenn die ganzen Selfie-Addicts sich einmal nicht exhi­bi­tio­nieren dürfen? Kann man es nicht einmal lassen? Ist Freiheit denn nur eine Freiheit fürs Selfie­ma­chen?
Oder auch die Freiheit davor? Davor diese Selbst­de­mü­ti­gungen nicht anschauen zu müssen?
Und zur Klei­der­ord­nung: Die deutsche Verach­tung dafür belegt nur die Gering­s­chät­zung des Kinos. Es ist bei uns eben nicht wie in Frank­reich »Siebte Kunst«. Wäre es das, dann würde man es für selbst­ver­s­tänd­lich halten, mal zu feiern, mit Stil, mal Stil und Etikette zu zeigen. Statt­dessen: Ressen­ti­ment; die Verach­tung des Klein­bür­ger­tums für die Form, aus der Angst, ihr nicht zu genügen.
Wer aber würde Bayreuth vorwerfen, dass man da Abend­kleid und Smoking zu tragen hat? Niemand. Aber wann begreifen wir endlich, dass Cannes das Bayreuth des Kinos ist?

(to be continued)