19.05.2011
64. Filmfestspiele Cannes 2011

Die Tränen der Meer­jung­frauen

Am Set von Midnight In Paris
Woody Allen, Owen Wilson und Rachel Mc Adams am Set von Midnight In Paris
(Foto: Concorde Filmverleih GmbH)

Cannes morbid: Leben und Sterben und Sterben lernen beim Filmfestival – Notizen aus Cannes, 1. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Wenn die Palmen Trauer tragen. Es gehört zum Beruf des Film­kri­ti­kers, dass man manchmal auch dann etwas zu Papier bringen muss, wenn einem nach Schreiben als Aller­letztes zumute ist. Wenn einem die Worte fehlen, oder es einfach nichts zu sagen gibt, das ange­messen wäre. Das muss seine Ursache nicht immer im Kino haben, ein solcher Moment ist auch der Tod eines Kollegen, Vorbilds und Freundes. Michael Althen war dies für viele deutsche Film­kri­tiker. Und als uns am Donners­tag­morgen, unmit­telbar vor Beginn der Vorstel­lung des neuen Gus-van-Sant-Films, die Nachricht erreichte, dass Michael gestorben ist, war einem erstmal überhaupt nicht mehr nach Kino zumute – auch wenn wir in den letzten Wochen geahnt hatten, dass diese Nachricht uns irgend­wann erreichen würde, erscheint sie doch auch jetzt seltsam irreal. Noch knapp eine Woche später ist dies alles unfassbar. Das kann man nicht glauben und es hat den Kopf und erst recht das Herz noch nicht wirklich erreicht. Nur den Magen, und so fällt es gerade ziemlich schwer, und hilft doch auch zugleich, Filme zu sehen, und über sie zu schreiben. Denn dass das Kino und das Schreiben darüber auch eine große Trost-Maschine ist, auch das hat Michael immer gewusst.

Zum Werk und zur Rolle, die Michael Althen gehabt hat, wird man noch viel lesen. Aber man muss es viel­leicht einfach hinschreiben, wie es ist: Von ihm, der nie krank war, der immer selbst­ver­s­tänd­lich da war, hätte man solch einen Abgang am wenigsten erwartet. Auf ihn war Verlass. Und so schön es war, ihn gekannt zu haben, so sehr fühlt man sich jetzt verlassen.

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Ein Fest fürs Leben. Man möchte schon mal gern wissen, was im Kopf von Woody Allen vorgeht… Inner­welt­liche Askese und protes­tan­ti­sche Arbeits­ethik, viel­leicht seinem Vorbild Bergman abge­schaut – jeden­falls hat es der New Yorker Komiker wieder geschafft, in seinem gewohnten Arbeits-Rhythmus zu bleiben, und auch in diesem Jahr einen neuen Film zu präsen­tieren. Und auch wenn es manche guten Gründe gibt, den dies­jäh­rigen Cannes-Jahrgang von seiner Papier­form her als »Old Boys Club« zu charak­te­ri­sieren, muss man ein solches Urteil, sollte es einschrän­kend gemeint sein, gleich wieder zurück zu nehmen. Denn Midnight In Paris, Allens neuester Film ist, soviel kann man schon mal fest­stellen, ein großes Vergnügen geworden. Ein geist­rei­cher, unter­halt­samer, stel­len­weise kluger Film. Es geht darin um Gil, einen jungen Schrift­steller, ein von vielen Zweifeln und Unsi­cher­heiten gepei­nigter Künstler – und eine Art Allen-alter-ego-, der mit einem zwar reichen, hübschen, aber sonst lang­wei­ligten höheren Töch­ter­chen verlobt ist, und gerade auf Paris­reise. Ihre Eltern, ober­fläch­liche, ja dumme Ameri­kaner und Tea-Party-Sympa­thi­santen sind auch dabei, und Gil fühlt sich zunehmend unwohl. Da trifft er bei einem nächt­li­chen Spazier­gang Schlag Mitter­nacht auf eine Art…. – nun ja: Ein Tor zur Vergan­gen­heit. Er kann es kaum fassen, aber plötzlich ist Gil, in seine Lieb­lings­ver­gan­gen­heit kata­pul­tiert, in das Paris der 20er Jahre. Dort trifft er Hemingway, Gertrude Stein, Cole Porter, die Fitz­ge­rald, und Adriana, die Geliebte von Pablo Picassso…

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Ein Märchen­plot, ein gewagtes Szenario das aber auf der Leinwand großartig aufgeht – und Allen-Freunde daran erinnern wird,. dass solche irrwit­zigen Spiele mit Zeit, Raum, Medien und Magie Allen schon früher inter­es­sierten: In The Purple Rose of Cairo stieg eine Figur aus einem Film von der Kino­lein­wand.
Dies ist natürlich auch eine roman­ti­sche Liebes­ge­schichte, ange­haucht von fran­zö­si­schem Flair, mit typischen Woody-Allen-Wort­witzen und einigem schwarzen Humor – mit diesem ersten Highlight wurden am Mitt­woch­abend die Film­fest­spiele von Cannes eröffnet.

Allen pendelt in seinem Märchen nicht nur immer wieder zwischen der profanen Gegenwart, in der Geld und Kultur­lo­sig­keit alles domi­nieren, und Gils bald täglichen Nacht­aus­flügen in die Vergan­gen­heit hin und her, und spielt witzig mit den Ameri­kaner in Paris-Motiven. Es geht auch um die logischen Probleme des Zeitrei­sens: Denn irgend­wann bemerkt Gil, das es im Paris der Zwanziger noch eine Zeit-Tür gibt, die ihn ins Paris der Belle Epoque führt. Und in der Gegenwart trifft er auf ein altes Buch, in dem er selbst erwähnt wird, und auf eine junge hübsche Anti­quarin, gespielt von Nach­wuchs­star Lea Sedoux – an der er schließ­lich hängen­bleibt. Und Paris wird Gil zum Fest fürs Leben.

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Dies ist das erste Werk von Allen, das in Paris spielt, und gerade in der Haupt­stadt wurde der Film aus mehreren Gründen gespannt erwartet: Eine Neben­rolle spielt nämlich Carla Bruni, Model, Sängerin, Gele­gen­heits­schau­spie­lerin und im Haupt­beruf die Gattin von Präsident Nicholas Sarkozy. Noch, etwa eine Stunde vor der Premiere, rätselt man, ob Sarkozy wohl am Abend als »Mann an ihrer Seite« auf dem roten Teppich flanieren wird. Genauso tauchen pünktlich zur Premiere in den bunten Blättern der Haupt­stadt Gerüchte auf, die Bruni sei womöglich schwanger – alles läuft also wieder einmal wie geschmiert für die PR-Kampagne von Allen und der Eröffnung des Festivals.

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Mit seiner präch­tigen Kulisse aus Strand, Meer und der berühmten Palmen­pro­me­nade Croisette besticht das Film­fes­tival schon äußerlich. Doch auch mit seinem Programm beweist Cannes auch dieses Jahr aufs Neue, dass es das Mekka des Kinos ist, der Ort, an den die Cine­philen aller Welt einmal im Jahr pilgern, um den Göttern der »Siebten Kunst«, wie das Kino im Land seiner Erfinder, gern genannt wird, zu huldigen. Schon ein kurzer Blick in das Programm dessen, was den paar tausend profes­sio­nellen Besuchern in den nächsten 12 Tagen bis zur Verlei­hung der »Goldenen Palme« bevor­steht, genügt, um die Festi­val­di­rek­toren der Konkur­renz von Berlin und Venedig vor Neid erblassen zu lassen.

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Johnny Depp in Taka-Tuka-Land. Zum Höhepunkt des Glamour­be­triebs wurde dann der Samstag: Da enterten die Pirates of the Caribbean im vierten Film der scheinbar endlosen Frei­beu­ter­fan­tasy-Saga (Regie diesmal: Rob Marshall) für einen Tag das Festival: Die Pres­se­vor­füh­rung am Morgen, Pres­se­kon­fe­renz am Mittag und Welt­pre­miere am Abend mit dem geschlech­terü­ber­grei­fenden Schwarm Johnny Depp, mit Spaniens Weltstar Penelope Cruz und Geoffrey Rush, machten es allen anderen Filmen schwer, noch Platz für eigene Schlag­zeilen zu erobern.

Der Film, der außer Konkur­renz läuft erntete wohl­wol­lende, aber nicht enthu­si­as­ti­sche Reak­tionen – wie die drei Vorgän­ger­filme, bei denen Gore Verbinski Regie führte, ist auch Rob Marschalls erster Pirates...-Film, dem ein fünfter Teil folgen soll, eine roman­ti­sche Hommage an das klas­si­sche Genre des Pira­ten­films. Aller­dings scheinen die Macher dem selbst nicht ganz über den Weg zu trauen, daher wird die Story mit dem Fabel­motiv der Suche nach den Quellen der ewigen Jugend aufge­peppt und einem Rudel vampi­ri­scher Meer­jung­frauen, die eher einer nordi­schen entstiegen scheinen. Auch spielt der größte Teil auf einer Tropen­insel – Johnny Depp in Taka-Tuka-Land. Als kurz­wei­lige Unter­hal­tung funk­tio­niert das trotz aller erz ähle­ri­scher Untiefen aber sehr gut.

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Der Wett­be­werb um die Goldene Palme wurde mit Sleeping Beauty eröffnet, einem höchst sonder­baren Film und Debüt der Austra­lierin Julia Leigh. Der Film ist eine Verfil­mung des gleichen japa­ni­schen Romans von Yasunari Kawabata, den Vadim Glowna 2006 als Haus der schla­fenden Schönen verfilmte. Die Geschichte klingt wie ein Altmän­ner­traum: Junge schöne Frauen lassen sich gegen viel Geld betäuben, um in einem Zimmer die Nacht in tiefem Schlaf zu verbringen. Männer können diese Zimmer für noch mehr Geld mieten, und dürfen alles mit den jungen Mädchen machen – außer zu pene­trieren. Während Glownas Film aus der Perspek­tive eines dieses Edel­puff­gänger als morbides Drama über Altern und Vergäng­lich­keit insze­niert ist, stellt Julia Leigh eines der Mädchen ins Zentrum: Lucy, ein junges Mädchen aus zerrüt­teten Verhält­nissen, das sich so durch­schlägt. Sie studiert, und um das zu finan­zieren, nimmt sie so ziemlich jede Arbeit an, die sie bekommt – als Versuchs­person, als Kellnerin, als Gele­gen­heits­call­girl. Und dann eben in besagtem Haus. warum sie das tut, ist ziemlich klar: Sie ist jung, braucht das Geld, hat keinen Menschen, und weil das Leben sowieso aus lauter Demü­ti­gungen besteht, sollen diese ihr wenigs­tens etwas einbringen. Die Haupt­rolle spielt Emily Browning, die wir vor wenigen Wochen erst in Sucker Punch gesehen haben, die man hier aber kaum wieder­erkennt. Und ihre Leistung ist beacht­lich, zumal Lucy in fast jedem Bild hier zu sehen ist. Mit der Eisprin­zes­sin­nen­haf­tig­keit einer jungen Isabelle Huppert geht Browning durch die Szenen. Diese erinnern mal an Kubricks Eyes Wide Shut t, dann wieder an Belle de jour von Bunuel.

Die Bilder sind so steril, wie das Leben, das sie zeigen, aber sie sind präzis, wohlü­ber­legt und visuell stringent. Das kann man vom Drehbuch leider nicht sagen, darum verliert der Film vor allem am Ende die Spur, und hört vor allem zu abrupt einfach auf: Einer der Männer bringt sich an der Seite der schla­fenden Lucy um. Doch dieses völlig miss­glückte Ende sollte nicht darüber hinweg­täu­schen, dass hier der Wett­be­werb mit einem recht starken Film eröffnet wurde.

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Der Wett­be­werb kann diesmal mit einem beein­dru­ckenden Dutzend bekannter Namen des Weltkinos aufwarten: Neue Filme von Pedro Almodóvar – bekannt für schöne starke Frauen, aber diesmal eher ein Horror­s­tück! –, von Aki Kauris­mäki (saufende Finnen), und von den Dardennes-Brüdern (bedau­erns­wertes Prekariat) lassen zwar kaum Über­ra­schendes erwarten, garan­tieren aber für Niveau. Mit mehr Spannung erwartete man Nanni Morettis Komödie Habemus Papam – sie handelt vom Papst Papa Ratzinger. Geradezu fiebrige Erwartung gilt bereits jetzt zwei Filme­ma­chern, die immer dafür gut sind, ihr Publikum glei­cher­maßen zu fesseln und aufzu­regen: The Tree of Life der neue Film von Terrence Malick (The Thin Red Line) und Melan­cholia vom genia­li­schen dänischen Über-Regisseur Lars von Trier. Die Haupt­rolle spielt US-Star Kirsten Dunst, und man hört, es soll sich um ein Welt­un­ter­gangs­drama handeln. Das deutsche Kino reprä­sen­tiert Andreas Dresen in der Reihe »Un Certain Regard«. Dort sind auch viele weitere bekannte Namen präsent, Filme mit Catherine Deneuve und Sean Penn, Charlotte Rampling und Milos Forman. Die renom­mierte Nebensek­tion Semaine de la Critique feiert ihr 50. Jubiläum. Einst entdeckte man dort die ersten Werke von Regis­seuren wie Wong Kar-wai, Guillermo del Toro und Arnaud Desplechin.

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Aber wer könnte gewinnen? Bisher können wir, und das ist ja gerade der Reiz des Spiels, nur von der Papier­form ausgehen. Unser Freund Josef Schnelle hatte schon am Ankunftstag gewettet: Terrence Malicks The Tree of Life werde die Goldene Palme bekommen. Alin Tasciyan aus Istanbul glaubt an Debüts: »Das ist das einzige, was mich inter­es­siert, und ich denke bei dieser Jury haben neue Filme­ma­cher eine Chance.« Ich selbst glaube an Lars von Trier. Von den ganzen älteren Männern, die endlich mal eine Goldene Palme gewinnen müssen,. ist er der Inter­es­san­teste. Und Melan­cholia sieht auf den Bildern am besten aus. Sara Brito aus Madrid denkt: Vielleich Naomi Kawase. »Ihr letzter Film war aller­dings wirklich schlecht – aber der lief ja auch in San Sebastian. Viel­leicht hat sie für Cannes einen guten gemacht.« So geht das Leben weiter, und Cannes irgendwie seinen Gang. Ob das eine gute Nachricht ist?

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Es kann nicht nur ein Zufall sein. Auch nicht nur der Zufall einer persön­li­chen Wahr­neh­mung. Daher muss auch heute wieder fest­ge­stellt werden: Die dies­jäh­rige Auswahl beim Film­fes­tival von Cannes ist überaus morbid. Und inter­es­san­ter­weise kreisen die Filme, auch wenn es mal nicht um den Tod geht, um Wieder­auf­er­ste­hungs­sze­na­rien.

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Genau das Gegenteil hiervon bietet der Deutsche Andreas Dresen: Kaum Stars, keine prächtig-exoti­schen Kulissen, und eine Geschichte, die das Zeug zum Saalfeger hat. Zwar erlebt man Frank, die von Milan Peschel gespielte Haupt­figur, einmal mit seiner Familie auf »Tropical Island«, einem bran­den­bur­gi­schen »tropi­schen« Frei­zeit­park. Aber da ist schon klar, dass der kleine Berliner Post­an­ge­stellte einen inope­ra­blen Hirntumor und nur noch wenige Wochen zu leben hat. Der letzte Fami­li­en­aus­flug geht gründlich schief, zu stark leidet Frank bereits unter seiner Krankheit und den Wirkungen starker Medi­ka­mente. »Halt auf freier Strecke«, der außerhalb des Wett­be­werbs in der Nebensek­tion »Un Certain Regard« läuft, ist also noch ein Film über das Sterben lernen, und auch ganz objektiv betrachtet, auch außerhalb momen­taner Stim­mungs­lagen schwer erträg­lich.

Eine akri­bi­sche Chro­no­logie des Sterbens – vom Augen­blick der tödlichen Diagnose bis zu den letzten Momenten des Kranken. Es ist eine Reise, in der jeder Schritt eine Verschlech­te­rung bedeutet, und keine Hoffnung übrig ist. Der Film begleitet Therapien und Abschieds­be­suche der Angehö­rigen, letzte kleine Freuden des Todkranken, ein letztes Mal Weih­nachten, ein letztes Sylvester. Vor allem aber entfaltet er die Dynamik innerhalb der Familie: Die Leiden der Angehö­rigen, die Kinder, die mit der Situation nicht umgehen können. Wie stirbt man »richtig«? Wie erklärt man so etwas kleinen Kindern? Wie geht man mit dem Ehepartner um? Zu solchen Fragen hat Dresen eine Meinung und ein Bild – wenn auch natur­gemäß nicht immer eine Antwort.

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Wie aber stellt man einen derart delikaten Stoff im Kino dar? Wie vermeidet man Kitsch, gibt ein realis­ti­sches Bild, ohne auf Emotionen zu verzichten. Dresen ist diese Grad­wan­de­rung miss­glückt. Mal ist der Ton zu flapsig, dann wieder »menschelnd« nahe am Melo, dann betont natu­ra­lis­tisch: Es wird gespuckt, gekotzt, gepinkelt und viel geweint in diesem Film – was ohne Frage die Wirk­lich­keit wieder­gibt.

Womöglich hält Dresen so etwas wirklich für Neorea­lismus, und glaubt, dass er wieder einmal ein tabui­siertes Thema auf die Leinwand bringt. Aber im Unter­schied zu Rosselini, dem frühen Antonioni ist Dresens Haltung bis zum Schluss völlig unklar: Er hat schon immer Gutmen­schen­filme und Soz-Päd-Kino gemacht. Und auch wenn man es nicht gern sieht, verzeiht man ihm diese Arte-Povera-Attitüde: Betont »normale« Menschen in einer Aller­welts-Wohnung, die nicht ein einziges geschmack­volles Detail besitzt – Kino, das immer wieder Zuflucht in Spießig­keit sucht.

Aber was soll zum Beispiel die Eröff­nungs­szene: Der Arzt verkündet Frank die schlimme Nachricht. Dabei wird er einmal von einem banalen Anruf minu­ten­lang unter­bro­chen. Schon dass ein Arzt in so einer Situation abnimmt, glaube ich nicht. Erst recht nicht, dass er dann den Anrufer nicht kurz abfertigt. Danach stammelt der Arzt immer wieder blöde und unsicher herum, erklärt dem Kranken nichts. Mag schon sein, dass es so etwas gibt, aber ich glaube kein Wort. Dann gibt es einen von Thorsten Merten gespielten Tumor in Menschen­ge­stalt. Und ein Art Todes­ta­ge­buch per I-phone – alles Mätzchen, die Film Form und Story nicht weiter­bringen. Will Dresen mit all dem Natu­ra­lismus und ein schwie­riges Thema endlich auf die Leinwand bringen? Oder eher mit leisem Humor die Absur­dität der Lage von Todkranken beschreiben, und darauf aufmerksam machen, dass es womöglich Dinge gibt, die sich filmisch nicht unver­fremdet darstellen lassen? Beides wäre legitim, aber er müsste sich entscheiden. Dresens Haltung aber blieb unklar.

So war die Reaktion des inter­na­tio­nalen Premie­ren­pu­bli­kums verhalten und gespalten – während manche genervt den Saal vor Tore­schluß verließen, hatten andere Tränen der Rührung in den Augen. So wie der Satz gilt, dass jeder für sich allein stirbt, so sieht auch jeder gerade bei einem solchen Thema seinen eigenen Film. Und zum (Gott sei Dank) bestimmt vorhan­denen Einfluss momen­taner Stim­mungs­lagen auf die Film­be­trach­tung sei gesagt: Als ich hörte, dass dieser Film von einem unheilbar Krebs­kranken handelt, wollte ich erst gar nicht reingehen, und bin es dann nur aus Bericht­erstat­ter­pflicht. Aber das Gute an diesem Film ist, dass er so Scheiße ist, dass er einen überhaupt gar nicht erst berührt

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Was Dresens Film von wirklich großem Kino trennt, zeigten die belgi­schen Brüder Dardennes, die hier schon zweimal die Goldene Palme gewannen. Le gamin au vélo (Der Junge mit dem Fahrrad) heißt ihr neuer Film: Auch dies könnte leicht auf ein Misera­bi­li­täts­por­trait hinaus laufen – handelt der Film doch von einem Heim­jungen, der verzwei­felt seinen Tauge­nichts von Vater sucht, und in Gefahr läuft, ins krimi­nelle Milieu abzu­gleiten. Doch mit wenigen Kniffen, mit Ruhe, einer dezenten Abstrak­tion und dem klugen Einsatz eines Stücks von Beethoven heben die Dardennes ihre Geschichte auf die Ebene einer Fabel und einer Art Heili­gen­le­gende: Der Junge, der schon verloren schien, erlebt eine Wieder­auf­er­ste­hung – und das Kino einen ersten Glücks­mo­ment in einem Wett­be­werb, der bislang viel von Tod und Trauer handelt.