09.05.2013
28. DOK.fest München 2013

»Es steht keine Märchenrevolution bevor«

Nishtha Jain, Femi Odugbemi und Toyin Fajj auf dem DOK,fest
Regisseurin Nishtha Jain (links) mit den Leitern des nigerianischen Dokumentarfilmfestivals iREP Lagos Femi Odugbemi (Mitte) und Toyin Fajj
(Foto: DOK.fest/Maren Willkomm)

Nishta Jain über ihre Dreharbeiten zu Gulabi Gang, den Unterschied von Befreigung und Schutz der Frau und über den Mut und die Furchtlosigkeit der Frauen in den pinkfarbenen Saris

Die mehrfache Verge­wal­ti­gung und Ermordung einer 23-jährigen Studentin in Neu Delhi im Dezember vergan­genen Jahres durch sechs Männer hat in Indien wochen­lange Proteste und Empörung ausgelöst. Dieses Verbre­chen hat es in die west­li­chen Schlag­zeilen geschafft, sind die vielen Morde und Gewalt­taten, die indischen Frauen vor allem auf dem Land angetan werden, in dem Medien kaum präsent. Das dürfte sich mit Nishtha Jains Film Gulabi Gang ändern, in dem sie von einer Frau­en­be­we­gung erzählt, die gegen die herr­schenden Zustände aufbe­gehrt und schon vieles bewirkt hat. Doch die Regis­seurin, die heuer zum fünften Mal Gast beim Dok.fest ist, warnt vor zuviel Euphorie.

Natascha Gerold sprach mit ihr über gefähr­liche Verall­ge­mei­ne­rungen, die Allmacht der Dorf­ge­mein­schaft und die Zusam­men­ar­beit mit einer furcht­losen Frau.

artechock: Frau Jain, wie sind Sie auf Sampat Pal und ihre Gulabi Gang gestoßen?

Nishta Jain: Ein Freund hat mir 2008 von ihr erzählt. Nach dem traurigen Film Lakshmi and Me wollte ich etwas „Inspi­rie­rendes“ machen (lacht). Inter­es­sant war, dass Sampat und ich gleich zu Beginn Streit hatten. Ich teile nicht ihre Ansichten über Frauen und Familie. Klar, ich habe eine städ­ti­sche, unab­hän­gige Sicht­weise, während Sampat mit Frauen zu tun hat, die nicht einfach ihre Männer verlassen und allein weiter­leben können. Deshalb will sie Frauen auch zurück zu den Familien bringen, es geht ihr nicht um weibliche Befreiung, für sie ist die Familie sehr wichtig. „Women’s libe­ra­tion“ ist hier im Zusam­men­hang mit dem länd­li­chen Patri­ar­chat zu sehen, das ist ein ganz anderer Stand­punkt als der, den ich persön­lich vertrete. Ich bewun­derte Sampat von Anfang an, habe mich aber nicht in sie verliebt, wie es in meinen bishe­rigen Filmen geschah. Manche ihrer Stand­punkte stelle ich durchaus in Frage. Auch das Team war mitunter gespalten – manche waren ganz schön sauer auf sie.

artechock: Wie geht es der Gulabi Gang und ihrer Anfüh­rerin?

Jain: Ich traf Sampat vor Kurzem in Norwegen zum dortigen Filmstart von Gulabi Gang. Die Bewegung wächst, aber die meisten Frauen, auch Sampat, haben keine Schule besucht. Die Gulabi Gang ist spontan entstanden, deshalb kann es sich in zwei Rich­tungen entwi­ckeln: entweder kann sie zu einer großen NGO heran­wachsen, die für Frau­en­rechte kämpft. Oder sie schlägt eher eine politisch-regionale Richtung ein. Einige der Frauen wurden zu Dorf­vor­ste­he­rinnen gewählt, wodurch sie in den Dörfern mehr poli­ti­sche Ände­rungen voran­bringen können. Dabei geht es nicht nur um Frau­en­rechte, sondern um Korrup­tion und viele andere Probleme. Offen gestanden weiß ich nicht, wie die Zukunft für sie aussieht. Aber die Botschaft verbreitet sich und Frauen haben endlich eine Anlauf­stelle für sich und ihre Belange. Aller­dings wird der Bewegung im Moment die große Bürde des gesell­schaft­li­chen Wandels aufge­laden – ich denke, das ist falsch.

artechock: Aber die Frauen haben doch schon so viel verändert!

Jain: Ja, aber man sollte es im Zusam­men­hang mit anderen Bewe­gungen sehen, die in den länd­li­chen Gegenden passieren. Man darf sie nicht mit struk­tu­rierten Orga­ni­sa­tionen verglei­chen. Sie reagieren unmit­telbar auf Gewalt­fälle und Unrecht. Es geht hier nicht um eine bevor­ste­hende Märchen­re­vo­lu­tion, es ist eine komplexe Ange­le­gen­heit – was ich auch im Film zeigen wollte. Für das westliche Publikum ist es wichtig, die Komple­xität und Nuancen verstehen zu können. Man neigt dazu, Dinge zu verall­ge­mei­nern oder zu verkürzen à la »indische Frauen sind soundso, indische Männer sind soundso«. Das ist unser Haupt­an­liegen: die Dinge so kompli­ziert zu zeigen, wie sie sind. Erst dann versteht man, wie hart der Kampf wirklich ist.

artechock: Eine der großen Leis­tungen ihres Films ist die Genau­ig­keit, mit der die Reak­tionen der Menschen auf das Verhalten der Gulabi Gang fest­ge­halten werden. Die Männer wirken meist wie unbe­hol­fene Augen­zeugen. Warum erhebt keiner die Stimme gegen das grau­en­volle Unrecht?

Jain: Weil die Dorf­ge­mein­schaft tonan­ge­bend ist, weder das Indi­vi­duum noch eine einzelne Familie. In diesen Kreisen gibt es keine Entschei­dungen des Indi­vi­duums, deshalb haben Menschen Angst davor, sich von dem zu entfernen, was die Gemein­schaft bestimmt. Dazu gehört auch, welche Version man bei einem Mord angibt. Deshalb sagt auch jeder das gleiche, der in dem Dorf noch gut weiter­leben will.

artechock: Haben Sie die Reak­tionen nicht auch manchmal über­rascht?

Jain: Absolut. Die Filmcrew besteht ja haupt­säch­lich aus Stadt­men­schen. Wir sahen die Sachen genau so, wie sie der Zuschauer sieht und waren genau so scho­ckiert. Da war nichts geplant.

artechock: Besteht manchmal nicht auch Gefahr, dass der Ruf der Gulabi Gang miss­braucht wird?

Jain: In der Tat ist der geschil­derte Fall so einer, in dem die Bewegung keine Mitglieder vor Ort hat. Hätte jemand die Familie persön­lich gekannt, wäre die Geschichte wohl anders verlaufen, doch hier hat man Sampat gerufen, damit sie, nach Begut­ach­tung des Tatorts und der Leiche dieses Mädchens, sozusagen bestätigt, dass es sich um einen Unfall und nicht um ein Verbre­chen handelte. Doch sie hat genau hinge­sehen. Es ist nicht die Aufgabe der Gulabi Gang, Ermitt­lungen durch­zu­führen, doch sie fällt ihr meist zwangs­läufig zu, da ihn sonst niemand macht.

artechock: Mut und Furcht­lo­sig­keit spielen eine große Rolle in Ihrem Film. Wie hängen diese beiden Eigen­schaften Ihrer Meinung nach zusammen?

Jain: Ohne Furcht­lo­sig­keit gibt es keinen Mut. Und Sampat kennt keine Furcht, ich bin ihr da nicht unähnlich. Dank ihrer fühlte ich mich nicht wie ein Zuschauer während der Dreh­ar­beiten, sondern ich war ein Teil, der auch diese Verän­de­rungen will. Einmal hielt sie es für zu gefähr­lich, an den Drehort zurück­zu­kehren. Als wir allein gehen wollten, hat sie uns doch begleitet und somit Sicher­heit gegeben.

artechock: Wie gefähr­lich waren die Dreh­ar­beiten? Mit welchen Risiken leben die Frauen und Sampat?

Jain: Mit hohen Risiken – von hier auf jetzt kann man von einer Kugel getroffen werden. Da Sampat aber nicht furchtsam ist, hat sich das auf die Crew über­tragen. Wir haben uns gegen­seitig unter­stützt und zusam­men­ge­ar­beitet, denn auch wir wollten wissen, warum dieses Dorf schwieg und was sich alles hinter dieser merk­wür­digen Geschichte des verbrannten Mädchens verbarg.