07.02.2002
52. Berlinale 2002

»Die Lebenslügen von Männern sind mir viel zu gut bekannt«

Dominik Graf
Dominik Graf

Es gibt Momente, da muss man sein ganzes Leben ändern. Katrin (Karoline Eichhorn) ist soweit. Eine normale Frau, bürger­lich, eher angepasst viel­leicht, macht auf Korsika mit ihrem Geliebten Urlaub. Es sollte sowieso der letzte sein, doch schon früher kippt die Stimmung, und er reist früher ab... Auf sich selbst zurück­ge­worfen, erlebt Katrin eine eigen­ar­tige, trotzige Odyssee über die Insel und vor allem durch ihre eigenen Gefühle.
Dominik Grafs Der Felsen der am 10. Februar im Berlinale-Wett­be­werb Premiere hat, erzählt eine 'kleine' Geschichte, in der doch alles drin­steckt. Ein Film ohne Vorbild, wild und mitreißend, manchmal befrem­dend, und sicher der unge­wöhn­lichste und am stärksten heraus­for­dernde aller vier deutschen Beiträgen im Wett­be­werb. Für Graf selbst, der 1952 geboren wurde, und nach längeren Jahren als Genre­re­gis­seur (Die Katze, Die Sieger) im vergan­genen Jahrzehnt fast nur noch Fernsehen machte, und im Kino allein mit zwei doku­men­ta­ri­schen Essays (Das Wispern im Berg der Dinge, München – Geheim­nisse einer Stadt) auch auf der Berlinale zu sehen war, ist Der Felsen ein Befrei­ungs­schlag.

Mit Dominik Graf sprach Rüdiger Suchsland.

artechock: Der Film München – Geheim­nisse einer Stadt entwi­ckelt so etwas wie eine Theorie des Erzählens, dessen prak­ti­schem Beispiel, könnte man sagen wir nun in Der Felsen begegnen...

Dominik Graf: (lacht) Sagen wir mal so: Seit dem München-Film inter­es­siert mich deut­li­cher noch als vorher diese Verbin­dung von Topo­gra­phie, von Orten mit Gefühlen – ob jetzt als Erin­ne­rung oder als Gegenwart. Wenn man einen Film über die eigene Stadt macht, dann hat das natürlich viel mit Erin­ne­rung zu tun. Hier ist Korsika aber ganz und gar Gegenwart, ein völlig neuer Ort, auch für die Haupt­figur. Schon am Anfang, wenn Katrin ins Museum geht, und dann dieser großen Landkarte Korsikas gegen­ü­ber­steht, sollte man das Gefühl haben, als würde dieser Karte ein andere, innere Karte entspre­chen. Ein unsicht­bares Netz von Gefühlen der Personen, das sich über die Insel legen wird. Dazu kommt dann noch das Netz, das die Wege der Dinge in der Erzählung über die „Karte“ spannen. Orte und konkrete Gegen­s­tände liefern in diesem Film also einen Ersatz für Gefühle – wie in animis­ti­schen Reli­gionen: ein Ring, ein Flug­ti­cket, eine Pistole; ein Dorf, ein Panora­ma­blick, viel­leicht ein Klang... – sie sind alle untrennbar mit Gefühlen verbunden.

artechock: Das hat ja auch eine Kata­ly­sa­tor­funk­tion, nicht? Das Sehen des Dings lässt ein Gefühl aufscheinen. Bei Proust gibt es das Gebäck, durch das er anfängt, sich zu erinnern – das ist hier ähnlich. Nur nicht auf der Suche nach der Vergan­gen­heit, sondern in die Gegenwart gerichtet...

Graf: Ja. Die mensch­liche Biogra­phie setzt sich ja oft am deut­lichsten aus einem fast will­kür­li­chen Museum von Gegen­s­tänden und Foto­gra­fien zusammen.

artechock: Dieses Zusam­men­fügen eines Lebens und eines Gefühls­zu­standes, einer Gegenwart aus Frag­menten, aus kleinen Erfah­rungen, aus Dingen, auch aus den Zufällen, die einem wider­fahren – das wäre eine Konti­nuität beider Filme. Eine weitere: Der „Roman der Blicke“, wie es in München heißt. Die Idee des entschei­denden Zufalls: Es gibt Blicke die sich treffen, Sekunden später hätten sie sich nicht berührt. Oder eine Wegga­be­lung: Im Film heißt es einmal: »Wenn sie jetzt den anderen Weg nehmen würde, dann wäre hier die Geschichte zwischen ihnen zuende.« Es gibt auch den Blick von der Burg, wo Ihre Haupt­figur das Auto ihres Ex-Lovers wieder­erkennt...

Graf: Meine Haupt­figur macht im Grunde eine Entde­ckungs­reise durch die eigenen Gefühle. Wenn der Film einsetzt, glaubt sie, sie hätte eine klare Haltung zu sich selbst und zum Leben, nämlich eine zutiefst enttäuschte Sehnsucht nach ihrem Liebhaber. Diese Liebe geht ihrem Ende entgegen. Am Schluß der Geschichte versteht sie dann aber, dass sie schon lange vor dem Zeitpunkt, an dem sie glaubte, am tiefsten Punkt angelangt zu sein – dass sie schon lange zuvor eigent­lich das Ende dieser Liebes­ge­schichte in sich getragen hatte. Viel­leicht hat sie sogar tief unten in sich mit ihm viel früher Schluß gemacht als er mit ihr, wer weiss? Denn er hat ja offen­sicht­lich mit seinen Gefühlen zu ihr niemals so wirklich gebrochen. Sonst würde er nicht, nach seiner eigen­ar­tigen Odyssee über die Insel – die ja nicht erzählt wird, nur Ihre Reise wird erzählt – wieder zu ihr zurück­kommen wollen. Wer weiß, was er dann noch mit ihr hätte sprechen wollen...?
Das ist eine Reise, an deren Ende ihre Erkenntnis über das eigene Gefühl steht. Eine Erkenntnis, die sie scheinbar auch schon vorher hätte haben können. Aber erst der Umweg über die Bege­genung mit diesem Jungen ermög­licht der Frau diese Erkenntnis. Sie ist zunächst nur geprägt von einem: »Ich will nicht loslassen. Ich will auch nicht diejenige sein, die hier verlassen wird. Wenn jemand hier jemanden verlässt, dann gefäl­ligst ich ihn... usw.« All diese Gedanken haben ihr sozusagen die Sicht vernebelt auf das, was längst zuvor in ihren Gefühlen geschehen war.

artechock: Und um zu einer Klarheit zu kommen, braucht sie Distanz, muss raus aus der Zivi­li­sa­tion, in die wilden Berge... Sie legt ihre bürger­liche Existenz ab. Mich hat dieses merk­wür­dige Paar und der Gang in die Wildnis, den Gefühls­dschungel in diesem Fall auch an den Film Walkabout von Nicholas Roeg erinnert...

Graf: .....wo die Natur zu einem Symbol wird, ja. Die Möglich­keit, dass der Junge und die Frau da oben in dieser Wildnis zusam­men­finden können, ist theo­re­tisch ja größer, als unten in der Hafen­stadt, wo beide in ihren sozialen Bezügen gefangen sind. Ich wollte dort oben auf den Bergen aber eher eine Art Vakuum erreichen. Sie steht vor einem Endpunkt, sie fühlt gar nichts mehr- und dies in größerer Klarheit als alles andere zuvor. In Walkabout besteht die Chance der Beziehung nur solange die Figuren in der Wildnis sind – also genau das Gegenteil.

artechock: Sie setzen oft einen Erzähler aus dem Off ein. In diesem Fall zwei Stimmen, einen männ­li­chen und eine Frau. Was hat das für einen Grund? In zeit­genös­si­schen Filmen kommt das relativ selten vor...

Graf: Da täuscht man sich oft. In den letzten 10 Jahren sind die Erzähler sogar auch wieder im Main­stream-Film oft zu finden. Zumindest am Anfang, um in die Geschichte hinein­zu­führen. Und am Ende, wenn man sie wieder braucht, um Klarheit zu schaffen.
Hier soll die weibliche Erzäh­lerin die Möglich­keiten des Schick­sals­ge­webes aufzeigen. Aber sehr kalt und distan­ziert. Sie legt eine anonyme Schicht sprach­lich über die Geschichte drüber. Die – was erzählt? Gefühle manchmal. Eher Möglich­keiten. Wege. Keine Ängste und keine Träume. Und die männliche Stimme ist in erster Linie Über­setzer für das Fran­zö­sisch.

artechock: Es ist essay­is­ti­sches Erzählen, ein Erzählen, dass auch eine Distanz und eine Reflexion mit herein­nimmt, wo Sie dem Zuschauer auch einen Teil der Arbeit abnehmen. Was Vor- und Nachteile hat...

Graf: Ist da nicht doch noch einen deut­li­cher Zwischen­raum spürbar zwischen dem, was -und wie es- von der Erzäh­lerin gesagt wird, und dem, was man sieht? Genau in diesen Zwischen­raum soll die Phantasie des Zuschauers rein. Es hat ja auch dann wieder seinen Grund, dass andere Momente völlig unkom­men­tiert bleiben.

artechock: Diese Offen­heiten gibt es schon. In anderen Fällen aber beschleu­nigt der Erzähler auch. Gleich­zeitig führt er den Blick des Zuschauers zu etwas hin...

Graf: Ja. Auf etwas, das zwar mit dem, was als nächstes passiert, überhaupt nichts zu tun hat, aber was einem trotzdem das Gefühl gibt: Was kommt da noch? Wenn ich Geschichten schreiben würde, würde ich wahr­schein­lich ähnlich schreiben: also versuchen, alles zu regis­trieren, Abwege, Möglich­keiten. Aber ganz wenig Gefühle. Gefühle im seltensten Fall. Stim­mungen. Und eigent­lich im wesent­li­chen Ereig­nisse, Wege. Keine Refle­xionen.

artechock: Es liegt ja wohl auch an der relativ komplexen Struktur aus verschie­denen Geschichten, die immer wieder zusam­men­ge­führt werden müssen.
Es gibt einmal die Frau, die Haupt­figur, dann die beiden Jungen. Einer­seits wird die Geschichte eines Subjekts erzählt, dessen, was ihr passiert. Ande­rer­seits geht es um die Geschichte einer Konstel­la­tion. Was steht im Vorder­grund? Hat die Konstel­la­tion, hat der Ort Korsika in erster Linie den Zweck, als Kata­ly­sator zu wirken, also bei dieser Haupt­figur etwas auszu­lösen, wovon dann erzählt wird. Oder ist die Situation mehr, als Mittel zum Zweck?

Graf: Das sind zwei beab­sich­tigte Konkur­renten. Ich glaube, dass wir versucht haben, in diesem Wider­streit das Gleich­ge­wicht zu halten. Das eine ist das Erzählen einer Figur, und das an ihr scheinbar Dran­kleben. Da gibt es Momente, wo die Szenen ihr möglichst viel Freiheit lassen, in denen der Erzähler völlig zurück­tritt. Auf der anderen Seite gibt es aber Momente, da wird diese Freiheit rigoros beschnitten. Als würde ein deter­mi­niertes Schicksal über ihr schweben und sagen: Du hast sowieso keine Chance. Ohne dass Du irgend­einen Einfluß darauf hast, weben sich die Dinge um Dich herum in eine andere Richtung als Du sie geplant hast. Du kannst nur an bestimmten Punkten inne­halten, einen Augen­blick lang eine Explosion von Gefühlen erleben.

artechock: Die junge Frau im Zentrum inter­es­siert ja nicht in erster Linie psycho­lo­gisch. Sondern sie scheint etwas Gene­relles zu reprä­sen­tieren. Ebenso die Struktur der Film-Erzählung...

Graf: Ich habe den Eindruck, dass im Moment in vielen Köpfen Frau­en­fi­guren herum­spuken, die eine größere Form von Selbst­be­stim­mung behaupten, als diese Frau es in meinem Film tut. Sie zieht sich doch sehr zurück, wirkt eher passiv, verschwindet in ihre große Verletzt­heit. Sie fühlt sich überhaupt nicht als Herrin ihres Lebens, weder beruflich, noch privat.
Das gegen­wär­tige Frau­en­bild scheint aber doch vielfach zu fordern, dass Frauen zumindest in punkto Gefühl grund­sätz­lich besser wissen als Männer, wo es lang geht. Diese Figur hier lässt dagegen viel mit sich geschehen und der Eindruck, den sie dabei äußerlich macht, ist dennoch trotzig und tough als bestünde sie geradezu auf ihrer Ziel­lo­sig­keit,
In dieser Mischung aus Schwäche und Stärke ähnelt sie viel­leicht auch der Haupt­figur in Deine besten Jahre. So empfinden wir – mein Co-Autor Martin Busch und ich – Frau­en­fi­guren zur Zeit, glaube ich. Die Zeit des Opfer-Seins ist vorbei, aber es ist überhaupt nicht klar, wo es hingeht.

artechock: Aber sie begibt sich dann wieder in eine Situation, in der sie wieder zum Opfer werden kann... Wo ist der Unter­schied zu Männern, was ist der Grund, dass die Haupt­fi­guren Ihrer letzten Filme dann Frauen sind?

Graf: Ich glaube, dass Frauen in der Gesell­schaft, in der ich lebe, an einem voll­kom­menen anderen Punkt sind, als Männer. In ihrem Selbst­ver­s­tändnis, in ihren Wünschen, die sich alle gegen­seitig über­schneiden. Deshalb gibt es auch bei mir so ein starkes Interesse, Frauen zu beob­achten und den Weg ihrer Wünsche sowie auch ihrer Lebens­lügen nach­zu­zeichnen. Die Lebens­lügen von Männern sind mir viel zu gut bekannt. Während Frauen eher dazu tendieren, ein fast autarkes System zu bilden und sich dabei völlig zu über­for­dern, scheinen Männer zur Zeit etwas an den Rand der Rollen­sys­teme gedrängt und gehen in altbe­kannter Weise nur den Konflikten aus dem Weg.

artechock: Die Personen des Films entspre­chen sehr arche­ty­pi­schen Struk­turen. Sie ist Mutter und Geliebte, er ein Vater­mörder. Und vor allem das zeitlose Thema »Familie«...

Graf: Wirklich wichtig war das Thema des Mutter­seins. Sie schiebt es trotzig von sich weg, wird aber am Ende darauf zurück­ge­führt. Als ich begann, Filme zu machen, herrschte die Über­ein­kunft, dass Familie ein veral­tetes Lebens­mo­dell ist. Heute ist Familie – als Inter­es­sens­ge­mein­schaft wie als Emoti­ons­ge­mein­schaft – eine zerschlis­sene, ange­grif­fene Lebens­form und gleich­zeitig wieder unheim­lich wichtig. Alles strebt dahin: man hat das Gefühl, Familie ist wie so ein Flucht­punkt in der Unend­lich­keit. Auch in der Unend­lich­keit einer Illusion. Eigent­lich erstaun­lich.

artechock: Aber es sind gestörte Struk­turen...

Graf: Natürlich. (Lacht), Gestört ist gut. Der Junge hat schließ­lich seinen Vater umge­bracht. Aber im Ernst: Ich glaube, dass das Verhältnis zur Familie an sich zerstört ist, nicht nur gestört. Alles was davon übrig bleibt, sind immerhin Rest-Symbiosen, Eltern­liebe vor allem.

artechock: Wenn Geschichte überhaupt der Wandel von Fremd- zu Eigen­ver­ant­wor­tung, von Natur zu Kultur ist, dann passiert das eben auch mit der Familie: Von der natur­ge­ge­benen wird sie zur Wahl-Verwandt­schaft...

Graf: Aber wie geht das dann weiter? An den Begriff Familie schließt sich die Vorstel­lung von »Zuhause« an. Und da versteht man viel­leicht, warum so eine Geschichte nicht Zuhause spielen kann. Da gibt es zwar einen Wunsch bei wirklich allen Figuren nach einem neuen Zuhause, aber er ist – und bleibt- einst­weilen unerfüllt.

artechock: Einer­seits spielt Der Felsen gar nicht in Deutsch­land, dann aber natürlich doch: Deutsche im Urlaub, wie in Karmakers Manila, Caroline Links Nirgendwo in Afrika – die Fremde bringt es heraus...

Graf: Ja, Deutsche im Urlaub unter sich. Das ist meine Version von Baller­mann (Lacht). Was passiert denn, wenn man Touristen irgendwo in eine emotio­nale Wüste wirft? (Alex­an­der­platz raus)Man bekommt die Wahrheit dort wie in einem über­scharfen Spiegel noch deut­li­cher geliefert. Paul Bowles hat ja viel­leicht nicht umsonst die moderne westliche Ehe in „Der Himmel über der Wüste“ auf den Punkt gebracht.

artechock: Im deutschen Kino stellt man sich Glück ja auch gerne als Flucht vor – mit einem Koffer voller Geld und dem geliebten Menschen abhauen...

Graf: Ja,ja, ich weiß, bloß weg hier. Dieser 80er-Jahre-Mythos, der ja auch überhaupt nicht stimmt, nie stimmte. Denn dieses Deutsch­land ist zwar sehr desolat aber dafür überall. Und vor allem haben wir es in uns selbst. Ein anderes Zuhause gibt es nicht mehr.

artechock: Wir wollen das aber auch nicht. Wir wollen ja nicht heim­kommen, weil Zuhause auch der Horror ist. Gleich­zeitig will man es natürlich. Man will dieses Glück, aber wenn man dann da ist, muss man sofort wieder weg, weil man es nicht aushält.

Graf: Jaja. Warum fährt denn auch Ralf Herforth nicht nach Hause? Natürlich weil er sich drückt. Weil er weiß, was dort dann auf ihn zukommt. Ich glaube, dass ich zu einer Gene­ra­tion gehöre von bour­geoisen Nach­kriegs­kin­dern, von denen viele gar nicht so viel Verant­wor­tungs­ge­fühl gelernt haben, dass sie in der Lage sind, mit ernsten Lebens­si­tua­tionen wirklich umzugehen.
Nun muss man natürlich sagen, dass die Eltern-Gene­ra­tion vor uns auch wieder fast zu erwachsen gewesen war. In kürzester Zeit hatten die ja das Schlimmst­mög­liche über die Welt gelernt...

artechock: Das wollen wir ja auch gar nicht lernen...

Graf: Nein. Aber aus dieser Erfahrung kam natürlich auch der ganze europäi­sche Nach­kriegs­film, der Neorea­lismus vor allem – aus diesen Irrsinns­er­fah­rungen des Zweiten Welt­kriegs und der Zeit danach. Diesen Vorsprung an Lebens­er­fah­rung, den der hoch­ge­lobte europäi­sche Autoren­film hatte, den können wir in unserem deutschen Kino jetzt nicht per Dekret und schon gar nicht per Geld wieder einführen. Wir sind wahr­schein­lich eine relativ infantile, verant­wor­tungs­lose Gene­ra­tion von in weichen Windeln aufge­wach­senen West­deut­schen, die nicht genau wissen, was eigent­lich ihr Thema ist. Dabei ist das, was wir gerade bespro­chen haben, sicher eines davon: Das Marode-werden von Zuhause und Identität und Familie. Ich lande ja sogar in meinen Thrillern immer wieder bei diesen Themen. Offenbar habe ich den Eindruck, dazu etwas sagen zu können? Und zwar, dass ich nichts dazu sagen kann....dass ich nicht die geringste Antwort habe. Keine Moral, keine Ideologie dazu, nichts.

artechock: Man will ja keine Filme sehen, die predigen – was leider manche jener hoch­ge­lobten Nach­kriegs­filme tun.

Graf: Die guten Filme haben natürlich auch nie gepredigt. Aber es bleibt uns sicher eine andere grund­sätz­liche, extrem wichtige Frage, und zwar dass das, was der Kapi­ta­lismus predigt – dass nämlich jeder ein extremes Anrecht auf extremes persön­li­ches Glück mit allem hat, was dazu­gehört- dass diese Kriterien uns in unseren priva­testen Wünschen und Sehn­süchten immer mehr perver­tieren. In Der Felsen werden diese Wünsche nach Glück ja nicht zur Debatte gestellt. Wir sehen nur eine Frau, die sich in ihre Glücks­an­sprüche verhed­dert hat, die schwer beleidigt und sehr verletzt ist und die lange nicht merkt, dass sie dabei ist, das nächste Unglück auszu­lösen. Und wir sehen andere Glücks­an­sprüche.....

artechock: Das Problem ist sicher, dass dieser Anspruch sehr hoch ist: Glück zu haben und möglichst immer und überall. Aber den Anspruch selbst finde ich richtig. Würden Sie den wirklich infrage stellen? Würden Sie sagen: Wir haben eigent­lich kein Anrecht auf Glück?

Graf: Natürlich haben wir das, aber der Kapi­ta­lismus predigt einen völlig debilen Begriff vom einzelnen Indi­vi­duum, das seinen Glücks­an­spruch mit Zähnen und Klauen verwirk­licht, nicht nur materiell. Auch in der Liebe werden die Gesetze der freien Markt­wirt­schaft mit allen Mitteln reali­siert. Das war zwar immer schon so, aber die sozialen Hemm­schwellen sind abgebaut. »Weil Sie es sich wert sind« wie es in der Werbung heisst.

artechock: Der Felsen ist Ihre erste Kino­ar­beit nach Die Sieger. Sie haben ja öffent­lich mehrfach gesagt, dass Sie lieber fürs Fernsehen arbeiten, weil man da freier sei. Bleibt es dabei?

Graf: Da ich die meisten Filme der Film­ge­schichte auf dem Fernseher gesehen habe, kann ich mit dem ganzen Unter­schied TV/Kino wenig anfangen. Solange ich mich an die Genre-Filme halte, habe ich es im Fernsehen leichter, denn im deutschen Kino gibt es keine Genre­filme mehr. Das Wegbre­chen der deutschen Genres – Thriller, Fanta­sy­film etc.- ist natürlich fatal, denn das Publikum sieht solche Filme eigent­lich überall in der Welt gerne.
Aber Der Felsen ist ja nun auch kein Genre. Und ich regis­triere seit ein, zwei Jahren schon, dass das Kino im unteren Budget­be­reich hier sehr wohl wieder ein ernst­hafter Partner für Erzähl­wün­sche sein kann. Das „große“ deutsche Kino ist in bestimmten Gehirnen zwar derart auf Kommer­zia­lität ausge­richtet, dass das Ergebnis nur voraus­ei­lender Gehorsam einem vermeint­li­chen Publi­kums­ge­schmack gegenüber ist. Und dementspre­chend wurden die meisten teuren Main­stream-Filme ja auch heftig an die Wand gefahren.
Aber das, was wirklich gut ist im deutschen Kino, und was deutlich auch immer besser wird, das ist fast alles eigent­lich eher eine Art kleines Fern­seh­spiel. Die guten deutschen Filme kamen in den vergan­genen Jahre alle aus dem Off, von dorther, wo man sie gar nicht erwartet hat. Und bei 99 Prozent der deutschen Regis­seure kann man auch stets davon ausgehen, dass ihnen ein kleinerer Film besser gelingt als ein größerer. Weil ein von Weihrauch umgebener Groß-Kino­be­griff in Deutsch­land die Krea­ti­vität lähmt. Es heißt: „Emoti­ons­kino“, „Gefühls­kino“, „große Bilder“ – das ist im Grunde ja klein­bür­ger­liche Erbau­ungs­kultur, es ist das Verspre­chen eines kultu­rellen 5 Sterne- Menus fürs Gemüt. Bloß bitte nichts Subver­sives. Aber aus diesen kitschigen und ebenso aus den hohlen kommer­zi­ellen Kino-Verspre­chungen kommen fast durchweg in Deutsch­land die schwächeren Filme. Darauf sollte man hier mal langsam reagieren, finde ich.

artechock: Es gibt aber im Kino eine andere Bereit­schaft zum Hingucken, sich auf Neues einzu­lassen... Was erwarten denn die Zuschauer?

Graf: Die Haltung der Teenies ist ja erstmal relativ klar, und die werden ja auch satt bedient. Aber was erwarten die Leute sonst? Ich glaube sie erwarten viel mehr starke und auch erwach­sene Filme als die Branche das wahrhaben will.

artechock: Was macht diese Filme aus?

Graf: Zum Beispiel dass sie Lebens­er­fah­rung ausstrahlen wenn sie über Gefühle sprechen. Über Liebe. Über Einsam­keit. Über Tod.... Und es müssen auch wieder poli­ti­schere Filme her. Kalte Filme, die den Ist- Zustand der Gesell­schaft eisig analy­sieren, die die Menschen sowohl erschre­cken als auch zum Nach­denken anregen. Auch intel­lek­tu­el­lere Filme.

artechock: Doch auch manchmal im Gewand von Main­stream- und Genre­filmen...

Graf: Das war ja immer meine Hoffnung. Ich habe lange versucht über Thriller solche Geschichten zu erzählen, die ein gemein­sames Nach­denken und Fühlen mit den Zuschauern ermög­li­chen. Aber im Kino sind die Thriller in Deutsch­land momentan nicht mehr möglich. Wahr­schein­lich hat die Pleite meiner »Sieger« damals auch dazu beigetragen. Selbst schuld. Kinofilme sind teuer, und wenn je teurer ein Film, umso mehr fordert man von einem Drehbuch, einem Projekt eine allgemein kompa­tible Gefühls­lage. Das führt aber oft zu Inter­es­sen­kon­flikten. Die Figuren sind im deutschen Main­stream längst zu eindi­men­sional geworden, und wenn es um »Sympa­thie­träger« geht wird es bei deutschen Dreh­buch­be­spre­chungen auch manchmal völlig absurd. Dabei sind doch gerade die beständig zitierten Ameri­kaner das beste Vorbild dafür, was für komplexe Main­stream-Charak­tere dem Publikum zumutbar sind.

artechock: Markiert die dies­jäh­rige Berlinale-Wett­be­werbs­aus­wahl, auch Ihre Teilname, die neuge­schaf­fene Reihe mit deutschen Filmen so etwas wie eine Trend­wende?

Graf: Wir verbinden alle mit dem Wechsel der Leitung die Hoffnung, dass eine andere Art von deutschem Kino auch offensiv vertreten wird. Der Blick des Auslands auf deutsches Kino war in den letzten 15 Jahren sehr konser­vativ. Man erwartete von uns nur wahlweise Autoren-Tiefsinn, Forma­lismus und/oder Ausein­an­der­set­zung mit der Nazi-Zeit. Wenn ein Film das nicht hatte, war er fürs Ausland zumeist unin­ter­es­sant. Viel­leicht ändert sich das ein wenig. Als ich noch in Berlin gewohnt habe, da war die Berlinale ja ein tödliches Pflaster für alle deutschen Filme. Mal sehen.