29.09.2022

Das große Staunen über Mensch & Welt

Werner Herzog, Erinnerungen
So spannend (wie ein Abenteuerroman) zu lesen...
(Foto: Hanser Verlag)

Werner Herzog, der am 5. September 80 Jahre alt wurde, erinnert sich

Von Wolfram Schütte

I.
Werner Herzog, der 1962 zur gleichen Zeit aus dem Dunkel der Geschichte auftauchte wie die »Ober­hau­sener«, also die erste Gene­ra­tion des »Neuen (Jungen) Deutschen Films« in der BRD, gehörte gleich­wohl nicht zu ihnen. Schon damals, als die Gene­ra­tion Kluge, Reitz, Schlön­dorff, Wenders è tutti quanti weltweit für Aufsehen sorgte, war der gleich­alt­rige Münchner Herzog ein Außen­seiter, der sowohl thema­tisch & stilis­tisch als auch, was seine Drehorte anging, ganz & gar seine eigenen Wege ging.

Obwohl er wie seine bundes­deut­schen Gene­ra­ti­ons­ge­nossen »Opas Kino« verab­scheute (aber er allein verehrte das expres­sio­nis­ti­sche deutsche Stumm­film­kino), wirkte er selbst & auch seine ersten Kurzfilme »befremd­lich« & »wie aus der Zeit« (der gärenden links-liberalen Unruhe) »gefallen«. Gesell­schafts­po­li­ti­sches Denken oder psycho­lo­gisch-realis­ti­sches, »bürger­li­ches« Kino schienen dem jungen »Wilden«, dem eigen-sinnigen Herzog »wesens­fremd« zu sein. Er glich damals eher dem einst rätsel­haft aufge­tauchten Kaspar Hauser, dem er prompt seinen dritten Spielfilm widmete. Wie dessen Titel (Jeder für sich und Gott gegen alle, 1974) heißen nun auch wieder seine »Erin­ne­rungen«, die er vor einem Jahr abge­schlossen, aber jetzt erst zu seinem 80. Geburtstag publi­ziert hat.

Begonnen hatte Werner Herzog seine Filme­ma­cher­kar­riere mit empha­ti­schen Doku­men­tar­filmen, z.B. über Taub­blinde & mit zwei Spiel­filmen: über einen verrückt gewor­denen deutschen Besat­zungs­of­fi­zier in Grie­chen­land (Lebens­zei­chen, 1967) und mit der ebenso absurden wie gewalt­tä­tigen Rebellion von »Lili­pu­ta­nern« gegen ihre Kaser­nie­rung (Auch Zwerge haben klein ange­fangen,1970) – einer surrea­lis­ti­schen Parabel, die in der BRD als höhni­scher Kommentar zur Revolte der Acht­und­sech­ziger verstanden wurde.

Herzog hatte inter­na­tional damit aber mehr Neugier erregt als in der Bundes­re­pu­blik, wo er z.B. für seinen »Zwer­gen­film« keinen Verleih fand. Er irri­tierte damals sowohl durch seinen geistigen Geschichts-Pessi­mismus wie durch seine Faszi­na­tion von Ausnahme-Menschen, deren mutige oder tollkühne Lebens­ent­schei­dungen zum »Gefähr­li­chen Leben« (Nietzsche) er fokus­sierte. Kate­go­ri­siert wurde er in der BRD als so etwas wie ein cinéas­ti­scher Fremdling aus dem Geiste des »Anarchen« Ernst Jüngers.

Erst der weltweite Erfolg des Aguirre (1972) & danach von Fitz­car­raldo (1982) – kräftig befördert durch den Exzen­triker Klaus Kinski – machten Herzog zum Weltstar. Ein soge­nannter »Durch­bruch« nach Hollywood war das gleich­wohl nicht. Aber Herzog lebte fortan in Los Angeles. Von dort aus – in dritter Ehe mit einer 28 Jahre jüngeren Frau verhei­ratet – mehrte er seinen Ruhm als Solitär des Weltkinos weniger aber durch seine späteren Spiel- als durch eine Vielzahl spek­ta­kulärer Doku­men­tar­filme, zu deren spezi­fi­scher Attrak­tion sein baju­wa­ri­sches Englisch als Erzähler gehörte – ein indi­vi­du­elles Spezi­fikum, wie die gehauchte Flüs­ter­stimme Alexander Kluges in dessen doku­men­ta­ri­schen Arbeiten.

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II.
Werner Herzog hat seine Film­kar­riere in Abständen begleitet durch eigen­s­tän­dige lite­ra­ri­sche Werke. Zuerst durch die Schil­de­rung seines Fußmarschs von München nach Paris zur »Leben­ser­ret­tung« Lotte Eisners (»Vom Gehen im Eis«,1974), dann durch die Über­ar­bei­tung seiner Notizen während der Entste­hung & Produk­tion von Fitz­car­raldo im Amazonas-Dschungel (»Eroberung des Nutzlosen«, 2004), schließ­lich 2021 durch die novel­lis­ti­sche Storyline eines unge­drehten Films über den letzten Soldaten des japa­ni­schen Kaiser­reichs (»Das Dämmern der Welt«, 2021) & nun mit seinen »Erin­ne­rungen«. Erin­ne­rungen, nicht »Auto­bio­gra­phie« oder »Memoiren«.

Der Acht­zig­jäh­rige weiß, dass das mensch­liche Gedächtnis lücken­haft & nach­for­mend, also höchst subjektiv ist. Subjek­ti­vität ist für Herzog ohnehin ein zentraler Begriff gewesen. Seine irri­tie­rende Formu­lie­rung von der »eksta­ti­schen Wahrheit«, der alle seine Filme folgen, die mit doku­men­ta­ri­schem Material umgehen, meint eine von ihm als Künstler durch Imagi­na­tion, Konzen­tra­tion & Intuition erschaf­fene »Wahrheit«, eine expressiv poin­tierte »poetische Wahrheit«, die hohn­la­chend auf die bloß mecha­nisch regis­trie­rende Wider­spie­ge­lungs­praxis des »Cinema vérité« herab­blickt. (»Eksta­tisch« kann aber auch die Wahrheit sein, wenn der erin­nernde Künstler über sich selbst schreibt.).

Für seine »exsta­ti­sche Wahrheit« hat Herzog in seinen doku­men­ta­ri­schen Filmen gele­gent­lich sogar eigene Ansichten als authen­ti­sche Äuße­rungen seiner Helden ausge­geben, also ihnen unter­schoben – ein prekäres Verfahren, zumindest unter jour­na­lis­ti­schen Gesichts­punkten & im Lichte der kürz­li­chen Erfahrung mit Trumps »alter­na­tiven Fakten« (die gewis­ser­maßen die eksta­ti­schen Wahr­heiten des Werner Herzog als deren Perver­sionen begleiten).

Für das jüngste Buch, das faktisch das Resümee seines gelebten & tätigen Lebens ist (wie er es gesehen haben möchte), hat er den Titel seines Kaspar-Hauser-Films gewählt. Das ist ein deut­li­cher Hinweis, an wessen Seite & unter welchen pessi­mis­ti­schen Auspizien sich Werner Herzog gestellt sehen will. »Nur Lumpe sind bescheiden«. (Goethe)

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III.
Der Filme­ma­cher & Bücher­schreiber hat keinen Grund, bescheiden zu sein, wenn er auf sein Leben & Arbeiten zurück­blickt. Auch nicht als »Selber­le­bens­be­schreiber« (Jean Paul). Erst recht nicht, wenn er nun selbst ein Kunstwerk der lite­ra­ri­schen Imagi­na­tion aus seinem Leben durch Erzählung, Poin­tie­rung oder Auslas­sung herstellt (gleich einem Film durch die Montage). Denn als Schrift­steller – der mutmaßt, sein lite­ra­ri­sches Oeuvre über­dauere sein kine­ma­to­gra­phi­sches! – ist er sich seiner selbst so bewusst wie als Filme­ma­cher.

Das wird schon in der ebenso lako­ni­schen wie komplexen Kompo­si­tion des Anfangs erkennbar – & gilt struk­tu­rell für alle seine asso­ziativ ausschwär­menden 36 Kapitel. Nach dem Vorwort hebt das erste Kapitel (»Sterne, das Meer«) mit der Beschrei­bung zweier toter Männer an, die beweint & beschrien von ihren Witwen & Verwandten in einem Raum neben dem Friedhof an der Südküste Kretas aufge­bahrt sind. Dem Gesetz der Blutrache folgend hatten sie sich gegen­seitig umge­bracht.

Der junge Deutsche, der die neben­ein­ander liegenden Toten betrachtet, ist sechzehn Jahre alt. In der folgenden Nacht wird er zusammen mit anderen Fischern, jeder allein in einem Boot mit einer Karbidlampe, auf das spie­gel­glatte Meer in voll­kom­mener Stille zur Pulpojagd hinaus geschleppt & allein gelassen werden: über sich der uner­mess­liche Ster­nen­himmel, unter sich das Glitzern unzäh­liger kleiner Fische. »Einge­bettet in ein Weltall ohne­glei­chen, oben, unten, überall, in dem es allen Geräu­schen den Atem verschlagen hatte, fand ich mich selbst auf einmal in einem unfass­baren Staunen wieder«. Der Junge war von der rätsel­haften Schönheit dieser magischen Welt­erfah­rung derart über­wäl­tigt, dass er glaubte, bald sterben zu müssen, weil »es niemals wieder gewöhn­liche Zeit für mich geben könnte«.

Aber schon im nächsten Kapitel (»El Alamein«) erleben wir den Hals-über-Kopf aus den USA nach Mexiko geflo­henen 23-jährigen Werner Herzog als clow­nesken Rodeo-Reiter auf Jung­bullen zum sams­täg­li­chen Vergnügen der Arena, wenn »El Aleman« abge­worfen im Staub liegt. Er habe darauf bestanden, behauptet der Selbst­er­zähler, dass die ergötzten Mexikaner ihn aber »El Alamein« nannten – weil er »kurz vor den entschei­denden Wende­punkten des Zweiten Welt­kriegs (Stalin­grad- & El Alamein-Nieder­lage) in München geboren worden war.«

Über­be­werte ich diese wort­spie­le­ri­sche Verbin­dung des Autors an den Beginn des Unter­gangs (Nazi-) Deutsch­lands als diskrete Anspie­lung auf die »glück­li­chen« astro­lo­gi­schen Konstel­la­tionen, die Goethe in »Dichtung und Wahrheit« zu seiner Geburt aufge­boten hat? Mit diesem Beginn hat Herzog aber schon alle die Spezifika seiner Welt­erfah­rung versam­melt: Tod, Archaik, Einsam­keit, indi­vi­du­eller Mut, elemen­tare Welt­erfah­rung, physi­sches Abenteuer, persön­li­ches Drauf­gän­gertum.

Dieses Geburts­ka­pitel unseres Helden ist zugleich ein Mäander, in dessen Erzähl­ver­lauf Werner Herzog nicht nur von seiner ersten Liebe erzählt oder wie er nach den USA (& Mexico!) gekommen ist & bei seiner Rückkehr mit der Geliebten für ein paar Tage durch­ge­brannt war, obwohl sie gerade von der Hoch­zeits­reise mit seinem Cousin (!) zurück­ge­kehrt gewesen war. »Das grandiose Mysterium und die Agonie der Liebe habe ich nie ganz verstanden«, bemerkt er hier, obwohl er später erzählt, dass er eine lebens­ge­fähr­liche, geradezu unglaub­lich tollkühne winter­liche Alpenü­ber­que­rung, allein zu Fuß natürlich, nur unter­nommen habe, um einer seiner drei Ehefrauen zu impo­nieren.

Aber in »El Alamein« spricht Werner Herzog auch von seiner impo­nie­renden Mutter, die noch im hohen Alter, allein & ohne die Landes­sprache zu können, eine türkische Freundin in Anatolien besuchte; seinen Vater, der als nichts­nut­zige Drohne sich von seinen Ehefrauen aushalten ließ, verachtet er umso mehr, während er von deren beider Voreltern sympa­thi­sche Eigen­schaften berichtet.

So habe der Großvater mütter­li­cher­seits »einen Hang zum surrealen Witz & zum Absurden« besessen. Auf väter­li­cher Seite zitiert er aus den bis 1829 zurück­rei­chenden Memoiren seiner auf einem ostpreußi­schen Gut groß gewor­denen Urur­groß­mutter. Sie schreibt, dass die Förster aus Wolfs­la­gern die Jungtiere in Säcken entführten & sie den begeis­terten Kindern zum vorü­ber­ge­henden Spielen mitbrachten – bevor die Jungwölfe alle getötet wurden & ihre Ohren & Klauen als Beleg für eine Prämie der Regierung dienten.

Greift die Erzählung dieses zweiten Kapitels bis tief ins 19. Jahr­hun­dert des länd­li­chen Ostpreußens zurück, so greift sie zugleich auch voraus – ohne dass man als Leser durch diese Zeitsprünge & deren Hin & Her aus der Bahn geworfen würde oder der muntere Erzähl­fluss ins Stocken geraten würde.

Es ist z.B. schon aber­witzig, wie Herzog von seiner kind­li­chen Erfahrung des Kuhmel­kens in dem Waldidyll von Sachrang, wohin die geschie­dene Mutter mit ihren Kindern im Krieg geflohen war, bis zu einer NASA-Shut­tle­be­sat­zung »von hoch­qua­li­fi­zierten Wissen­schaft­lern« gelangt, die als Darsteller in einem seiner Science­fic­tion-Filme mitspielen sollen. Er habe diese »ernst­haften Intel­lek­tu­ellen« für sein »wüstes« Film-Spektakel gewonnen, als er einem von ihnen auf den Kopf zusagte, dass er Kühe melken könne.

Herzog behauptet, dass er durch seine »Arbeit mit Darstel­lern und Gesich­tern oft Dinge, die in Personen ruhen, erkennen könne« – so auch in den »klaren, starken Zügen, wie man sie aus Cowboy­filmen kennt« bei einem der Wissen­schaftler dessen Melker-Vergan­gen­heit. Wie sich heraus­stellte, war er auf einer Farm aufge­wachsen, wo er als Bauern­junge Kühe melken musste. Damit hatte der baye­ri­sche »Hellseher« alle Wissen­schaftler im Kontroll­zen­trum von Houston beein­druckt.

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IV.
Das ist die erste von zahl­rei­chen Koin­zi­denzen, Merk­wür­dig­keiten oder intui­tiven Hell-& Weit­sich­tig­keiten, die sich Werner Herzog im Laufe seines Lebens & dessen fort­lau­fenden anek­do­ti­schen Beschwörungen in »Jeder für sich und Gott gegen alle« zuspricht. Dazu zählt z.B. auch, was er von einem seiner Vorfahren geerbt zu haben scheint: »Land­schaften lesen« zu können. Von der Konver­sion des a-religiös Aufge­wach­senen zum Katho­li­zismus (noch während seiner Gymna­si­al­zeit), bemerkt er, sei ihm einzig seine »Heils­ge­wiss­heit« geblieben – obgleich der Begriff der protes­tan­ti­schen Theologie entstammt. Herzog möchte damit aber die Recht­schaf­fen­heit seines oftmals tollkühn-lebens­ge­fähr­li­chen Handelns ausdrü­cken, wenn er – als Doku­men­ta­rist des Außer­or­dent­lich-Außer­ge­wöhn­li­chen –»immer Außen­posten zu halten« versuchte, »die von anderen flucht­artig verlassen worden waren«.

Dazu gehörte physische Kraft, Mut, Kühnheit, Empathie & Aben­teu­er­lust, ja auch Aben­teu­rertum, dem eine uner­sätt­liche Neugier für die Wunder & Gefahren der Welt auf die Sprünge ins Lebens­be­droh­liche half. Aber auch einen unzer­stör­baren Glauben an sich selbst & seine außer­ge­wöhn­li­chen Fähig­keiten.

Dass er etwas Beson­deres werden werde, habe ihm schon seine Schul­leh­rerin prophe­zeit. Aber durch das Ritual eines über 1000 Kilometer langen Fußmarschs von München nach Paris die krebs­kranke Lotte Eisner vorm Tod gerettet zu haben, ließ ihm magische Kräfte bei sich vermuten. Früh war die Neigung da, den elemen­taren Rätseln Mensch, Leben, Welt mit tran­szen­den­taler Speku­la­tion & poeti­scher Energie auf die Spur zu kommen.

Frühro­mantik & deutscher Stumm­film­ex­pres­sio­nismus kreuzen sich in Herzog & seinen Filmen. Kaspar Hauser, Aguirre & Fitz­car­raldo sind monu­men­tale Projek­tionen des Visionärs, der mehrfach betont, nicht zu träumen – wenn­gleich sein Oeuvre gespickt ist mit Traum­land­schaften, die er der realen Welt abgelesen & nicht künstlich herge­stellt hat. Dieser irra­tio­nale Kern seines filmi­schen Oeuvres erzeugt dessen faszi­nie­rende Leucht­kraft, das es in die Nähe von Tarkowski, aber auch von Joseph Beuys rückt, dem anderen deutschen Schamanen unter den Künstlern unserer Zeit.

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V.
Lieb ist Herzog auch zur Selbst­cha­rak­te­ri­sie­rung das meta­pho­ri­sche Bild des (einfachen) »Soldaten«, womit er aber eher solda­ti­sche Tugenden wie Mut, Loyalität, Verläss­lich­keit, Tapfer­keit meint & nicht den barba­ri­schen Killer. Er beschreibt, wie er seinen jugend­li­chen Jähzorn besiegte & sich diszi­pli­nierte. Schon im Vorwort tritt er dem öffent­li­chen Eindruck des »einsamen Einzel­kämp­fers« entgegen: »Tatsache ist, dass ich fast immer Mitar­beiter um mich hatte, Familie, Frauen«. Diesem Begleit­per­sonal seines Lebens & Arbeitens wie seinem Bruder Lucki, seiner jüngsten Ehefrau Lena & seinem häufigen Kame­ra­mann Thomas Mauch, attes­tiert er, »ausnahmslos selb­ständig, stark, schön und intel­li­gent« gewesen zu sein: »Ich wäre nur ein Schatten meiner selbst ohne sie«.

Das ist zwar sehr pauschal gesagt & das Beiwort »schön« bezieht sich wohl eher nur auf seine Lebens­be­glei­te­rinnen, obwohl er seinen Frauen & Kindern ein eigenes Kapitel widmet; aber Herzogs Wunsch, mit seinen bösar­tigen, exzen­tri­schen Helden nicht iden­ti­fi­ziert zu werden (ein psycho­lo­gi­scher Kolla­te­ral­schaden durch das Hollywood-Kino), ist ihm womöglich primär im Hinblick auf sein us-ameri­ka­ni­sches Publikum wichtig. Obgleich ich den Eindruck habe, dass durch sein Schielen auf die poten­ti­ellen Inter­essen & Kennt­nisse seiner US-Fans der erzäh­le­ri­sche Schwung erlahmt, weil das Buch im zweiten Teil seine lite­ra­ri­sche Qualität reduziert & gele­gent­lich zum Name­drop­ping & Promi­nen­ten­sam­mel­su­rium sich vermin­dert.

Werner Herzogs Groß­zü­gig­keit bei der Beur­tei­lung von Zeit­ge­nossen offenbart sich darin, dass er an Menschen »Warm­her­zig­keit« als oberste Tugend schätzt & seine »Erin­ne­rungen« ganz ohne »bad memories« auskommen. Bis auf die Ausnahme eines öster­rei­chi­schen Opern-Drama­turgen, der Herzog einen Opern­stoff entwendet hatte. Aber auch den Namen des Diebs & Hehlers schreibt er nicht aus – um das Buch seiner Erin­ne­rungs-Freuden nicht durch eine Person zu verbit­tern, die ihn tief & nach­haltig verletzt hatte?

Die »Erin­ne­rungen« Herzogs sind deshalb so spannend (wie ein Aben­teu­er­roman) zu lesen, weil ihre asso­zia­tive, a-chro­no­lo­gi­sche Erzähl­weise nicht nur jederzeit die künst­le­ri­sche Souver­ä­nität ihres Verfas­sers offenbart, der seine biogra­phi­sche Darstel­lung zu einem bewun­derns­werten Selbst­por­trät lite­ra­risch verdichtet, sondern weil es ihm auch gelingt, beim Leser selbst permanent Neugier zu gene­rieren, weil nie absehbar oder vorher­sehbar ist, wohin uns der versatile Autor als nächstes führen wird.

Wenn ich gefragt würde, was die schönsten Passagen seien, die dem Erzähler Werner Herzog diesmal in dem überaus anek­do­ten­rei­chen Buch gelungen sind, würde ich die traurige Geschichte seiner Freund­schaft mit Bruce Chatwin nennen – oder seine kleine Novelle von den Zwil­lings­schwes­tern Freda & Greta Chaplin, über die er einen seiner unrea­li­sierten Spiel­filme hätte machen wollen.
Aber das berüh­rendste Prosa­stück erzählt in einer plastisch beschwo­renen (Film-)Sequenz von seinem dement gewor­denen Großvater väter­li­cher­seits, einem berühmten Archäo­logen. Bis zuletzt kümmerte sich dessen gesunde Ehefrau um ihren wahn­sinnig gewor­denen Mann: Er »erkannte sie am Ende über Jahre hinweg nicht mehr, redete sie mit 'gnädige Frau' an. Bei einem Abend­essen erschien er ungewohnt formell, mit Anzug und Krawatte. Nach der Vorspeise legte er sorg­fältig seine Serviette an ihren Falten wieder zusammen, reihte das Besteck säuber­lich neben den Teller auf und erhob sich. 'Gnädige Frau', sagte er mit einer Verbeu­gung, 'wenn ich nicht schon verhei­ratet wäre, würde ich jetzt um ihre Hand anhalten wollen'«.