05.01.2012

Welt­un­ter­gang

Melancholia
Hochzeiten und andere Katastrophen: Melancholia

Ein Rückblick auf das Krisen- und Katastrophenjahr 2011

Von Michael Haberlander

Auch wenn von vielen (Medien) behauptet wird, dass das Jahr 2011 außer­ge­wöhn­lich ereignis-, kata­stro­phen- und krisen­reich war, wird es bei genauer Betrach­tung (und sofern man das überhaupt irgendwie sinnvoll messen und verglei­chen kann) wohl genauso turbulent gewesen sein, wie die vorher­ge­henden. Dass es uns (und den Medien) so vorkommt, als sei 2011 das schlimmste, hektischste und drama­tischste Jahr seit langem bzw. überhaupt gewesen, hat wohl mehr mit der zuneh­menden Bericht­erstat­tung und mit unserer Wahr­neh­mung zu tun. Die Wahr­neh­mung von Krisen (womit wohl­ge­merkt in erster Linie externe Krisen gemeint sind, also nicht solche, die uns unmit­telbar persön­lich betreffen) ist eine eigen­ar­tige und sehr wech­sel­hafte Sache. Tritt eine Krise auf, nimmt sie uns voll­kommen in Beschlag. Sie dominiert unser Denken, ängstigt uns, macht uns Sorgen, drängt uns dazu, sich immer mehr damit zu beschäf­tigten, also z.B. im Fernsehen die zehnte Sonder­sen­dung zu einer Kata­strophe anzu­schauen. Die Krise führt dazu, dass wir (positiv ausge­drückt) unser Denken fokus­sieren bzw. dass (negativ ausge­drückt) unser Denken verengt und einge­schränkt wird. Unbedingt wollen wir eine Lösung oder Linderung der Krise, wir bemühen uns, enga­gieren uns, wir spenden, wir disku­tieren ohne Unterlass darüber. Das geht so eine gewisse Zeit, steigert sich stel­len­weise bis zur Manie, um dann schlag­artig abzu­fallen. Plötzlich inter­es­siert und berührt es uns nicht mehr, lässt es uns kalt, selbst wenn der Missstand weiterhin besteht oder sogar noch größer wird. Dieses sonder­bare Verhalten lässt sich auch rational biolo­gis­tisch erklären, schließ­lich ist es gut, ange­sichts einer Krise bzw. Bedrohung alle seine Kräfte zur Bewäl­ti­gung der kriti­schen Situation zu bündeln, eine dauer­hafte Konzen­tra­tion dieser Art würde uns aber unwei­ger­lich lebens­un­fähig machen.

Unter diesen Vorzei­chen sind auch die peri­odisch auftre­tenden Kino­krisen zu betrachten und mögli­cher­weise besser zu verstehen. Seit 50 Jahren steckt das Kino schon wegen des Fern­se­hens in der Krise. Vor 20 Jahren lösten die seelen­losen Multi- und Megaplexe eine Kinokrise aus. 10 Jahre kriselt es im Kino jetzt schon wegen der DVD und in den letzten Jahren sorgte dies­be­züg­lich das Internet für Krisen­stim­mung. Verwun­dert reibt man sich da die Augen, dass überhaupt noch Kinos übrig waren, die 2011 von Gentri­fi­zie­rung und inner­s­täd­ti­scher Nutzen­op­ti­mie­rung kaputt gemacht werden konnte. München hat zwei Tradi­ti­ons­kinos verloren und prompt tauchen wir ein in fokus­sie­rende bzw. veren­gende Kino­kri­sen­be­klem­mung. Wenn dieses Gefühl wieder abge­klungen ist, sollte unser Denken offen genug sein, um zwei Dinge zu erkennen. Erstens: Mit dem Wort »Kino« kann sowohl eine einzelne Film­ab­spiel­stätte wie auch die Gesamt­heit der Film­ab­spiel­stätten wie auch der gesamte Bereich der (mehr oder minder) kommer­zi­ellen Herstel­lung und Verbrei­tung von Filmen wie auch eine Kunstform wie auch ein Medium gemeint sein. Eine Kinokrise kann sich auf eine oder mehrere Bedeu­tungen dieses Wortes beziehen, ohne dass die rest­li­chen Bedeu­tungen auch nur im Geringsten davon betroffen wären. Zweitens: Der Krise (die man immer als Stadium einer Entwick­lung betrachten muss) ist es meist ziemlich egal, ob wir vor Sorge vergehen, oder ob wir uns nicht darum kümmern. Krisen bzw. Entwick­lungen haben ihre ganz eigene, übli­cher­weise undurch­schau­bare und kaum zu steuernde Dynamik. Ebenso im Kino: Im Krisen­jahr 2011 konnte man einmal mehr erkennen, dass ein Kino (also Filme) ohne Krisen eine echte Kata­strophe wäre.

Was wäre das Kino etwa ohne Krisen zwischen Liebenden, zwischen Freunden, Fremden, Feinden und sonstigen Menschen? Dann gäbe es keine ergrei­fende Filme wie Another Year oder Blue Valentine oder Jane Eyre oder Der Name der Leute oder Tyran­no­saur – Eine Liebes­ge­schichte oder Samson & Delilah. Sie alle erzählen auch von Hoffnung und Zuver­sicht, die untrennbar mit einer Krise verbunden sind (auch wenn dies ange­sichts von massivem Schmerz und über­wäl­ti­gender Tristesse nicht immer leicht zu erkennen ist).

Mindes­tens genauso wichtig sind für das Kino Iden­ti­täts­krisen, wenn Menschen also nicht mehr wissen wer oder was sie sind (Bullhead), wer oder wie viele sie sind (Black Swan), wohin sie gehen sollen (Meek’s Cutoff), wieso bzw. wofür sie leben (Alles, was wir geben mussten), welchen Sinn ihr aktueller Lebens­wandel hat (I’m Still Here) oder warum sie so und nicht anders sind (Atmen).

Daneben gibt es natürlich noch die Krisen und Kata­stro­phen, denen wir täglich in den Nach­richten begegnen, allen voran die Finanz­krise (Der grosse Crash – Margin Call) und die Atomkrise (Unter Kontrolle), aber auch die Folgen einer Pandemie (Contagion, Perfect Sense) oder inter­kul­tu­relle Span­nungen und Terro­rismus (Four Lions) oder soziale Probleme und die Verelen­dung ganzer Gesell­schafts­schichten (Attack the Block) lieferten die Grund­lagen für sehens­werte Filme.

Eine geradezu essen­ti­elle Zutat sind Krisen und Kata­stro­phen für gelungene Komödien. Wo alles nur schön, harmo­nisch und problemlos ist, da kann kein Humor entstehen. Lustig wird es erst, wenn etwas daneben geht und aus dem Ruder läuft. Und aus dem Ruder kann – zum Glück – so einiges laufen, etwa eine Beziehung (Woher weisst du, dass es Liebe ist?), ein Verbre­chen (Kill the Boss), die Verbre­chens­be­kämp­fung (The Guard), eine Reise (Paul – Ein Alien auf der Flucht) und die Pubertät ist sowieso ein einziges aus dem Ruder laufen (Submarine). In die Reihe passt auch Mein bester Feind, der weit­ge­hend gelungen eine der größten mensch­li­chen Kata­stro­phen mit vielen kleinen persön­li­chen Krisen verstrickt.

Gänzlich ohne Krise kam Over Your Cities Grass Will Grow aus, der noch nicht einmal eine Schaf­fens­krise des portrai­tierten Anselm Kiefer zeigen konnte oder wollte. Trotzdem ein sehr gelun­gener Film. Ob es im Leben des Rolf Eden jemals eine Krise oder eine Kata­strophe gab oder ob er wirklich ein unglaub­li­ches Glücks­kind ist oder ob da vielfach doch greller Schein manch Schmerz­haftes überdeckt, bleibt eine Frage, die nach Betrach­tung von The Big Eden erfreu­li­cher­weise unklarer ist als zuvor.

Die größte Kata­strophe, den höchsten Trumpf hatte im vergan­genen Jahr aber (einmal mehr) Lars von Trier in der Hand. Erst führt er in Melan­cholia virtuos Krisen der mensch­li­chen Seele vor und dann lässt er kurzer­hand die Welt unter­gehen. Damit ist Melan­cholia der perfekte Film für jede Kino­kri­sen­stim­mung, weil er auf berü­ckende Weise belegt, dass im Kino die Welt schon oft unter­ge­gangen ist, in der Welt dagegen das Kino noch nie. Ange­sichts der vorste­henden Filme (und den zahl­rei­chen anderen, die im Jahr 2011 zu sehen waren und hier – aus welchen Gründen auch immer – nicht genannt sind) kann man davon ausgehen, dass das Kino auch in abseh­barer Zeit nicht unter­gehen wird und wenn, dann nur zusammen mit der rest­li­chen Welt.