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11.10.2001
 
 

Sehnsucht und Zerfall
Neue Mythologie: Georg Seeßlen seziert das Universum des Steven Spielberg

  Georg Seeßlen: "Steven Spielberg und seine Filme" - 266 Seiten, Schüren Verlag, Marburg 2001
 
266 Seiten, Schüren Verlag, Marburg 2001
 
 
 
 
 

Am Anfang war der leere Raum. Die Sprachlosigkeit zwischen dem Anhalterpärchen in seinem Erstlingsfilm AMBLIN'. Der unmotivierte, unbegründete Schock durch das Böse, das in Form eines unsichtbaren Verfolgers in DUELL einfach da ist - der Steven Spielbergs Durchbruch begründete. Oder die Leere zwischen den drei Jägern auf dem Boot. mit dem DER WEIßE HAI verfolgt wird - der erste Welterfolg des Regisseurs. Vielleicht hat Steven Spielberg diesen leeren Raum später zu oft gefüllt, um auch ein wirklich großer Regisseur zu werden. Ein ganz wichtiger ist er allemal.

Die Geschichte des US-Kinos der letzten 30 Jahre ist nicht zuletzt eine Geschichte seiner Filme: Kein zweiter repräsentiert so wie er den Gang der Dinge in seinen Stärken wie in seinen Schwächen - und dass er das tut, ist seine Stärke wie Schwäche zugleich. Immer nahe dran am Zeitgeist bestimmt er Diskussionen, beeinflusst in vielfältiger Weise Kollegen, prägt mit seinen Firmen die Produktionsbedingungen.

Doch obwohl sich Themen und Stil seiner Filme gleichen, man ihm wohl auch eine eigene Handschrift zugestehen muss, hat Spielberg doch kein Werk geschaffen, dass einen ähnlich künstlerischen Anspruch erheben könnte, wie etwa die Filme von Martin Scorsese oder Francis Ford Coppola, um nur zwei Beispiele zu nennen - von einem Stanley Kubrick, dessen letzten Stoff A.I. er gerade verfilmt hat, ganz zu schweigen. Auch ist er in keiner Weise ein Autorfilmer (was immer das in Amerika überhaupt heißt), er repräsentiert vielmehr ein Antiautoren-Kino par excellence.

Aber nicht alle seine Filme sind schlecht. Man vergisst, was Spielberg alles in den letzten 30 Jahren gedreht hat: Nicht nur die beim Publikum beliebten, aber nichtsdestotrotz in vieler Hinsicht fragwürdigen drei INDIANA JONES-Folgen, nicht nur Schmonzetten wie E.T. und THE COULOUR PURPLE nicht nur Popcorn-Movies wie JURASSIC PARK und LOST WORLD, sondern eben auch tiefschürfend-geniale Seelenanalysen seiner Heimat wie THE SUGARLAND EXPRESS, abgründige Komödien wie 1941, subtile Mythenspiele wie der sympathisch verworrene UNHEIMLICHE BEGEGNUNG DER DRITTEN ART, anrührend-sensible Dramen wie EMPIRE OF THE SUN (DAS REICH DER SONNE) oder pathetische Moralstücke wie SCHINDLER'S LISTE, den man nicht mögen muß, um neben seinen guten Absichten auch zu respektieren, dass ihm immerhin das Kunstsück gelang, den Holocaust in einer Weise ins Kino zu bringen, die neue Zuschauerschichten erreicht; um eine Diskussion um Massenmord und dessen Darstellbarkeit dorthin zu bringen, wo sie bis dahin nicht stattfand. Das alles zusammen macht ihn rätselhaft. Polemiken, die nur sehen, was sie möchten, helfen da nicht weiter. Wer sich zum Beispiel wie auch in einem etwas zurückliegenden artechock Artikel über die Tatsache ärgert, dass Spielberg Kubrick-A.I.-Vorlage verfilmt, sollte sich als Kubrick-Fan zumindest auch die Frage stellen, warum wohl der verehrte Meister ausgerechnet Spielberg und keinen anderen für die Verfilmung gewinnen wollte - was keineswegs nur eine von diesem postum gestrickte Legende ist.
Jede Auseinandersetzung mit Spielberg wird es sich nicht zu leicht machen dürfen, wird diese Vielschichtigkeit in irgendeiner Form zu Kenntnis nehmen müssen - das Rätsel Spielberg.

"Spielberg hat nicht nur Hollywood wiedererfunden, er hat vor allem Hollywood als moralische Anstalt wiedererfunden", schreibt Georg Seeßlen in seiner nun erschienen Monographie des Regisseurs. Diese Wiedererfindung glückte freilich nur mittels einer Kinderperspektive, der "Rückkehr zu einer kindlichen Form der Unschuld. Er hat aus dem Kino wieder eine Heimat gemacht. Was vielleicht in der Tat keine allzu moderne Idee ist. Aber auch keine schlechte."
Von Seeßlen, einem der bekanntesten, wichtigsten und produktivsten deutschen Filmkritiker, würde man ein Buch ausgerechnet über Spielberg nicht auf den ersten Blick erwarten. Bisher schrieb er über David Lynch, Stanley Kubrick, Quentin Tarantino und die Coen-Brüder (gemeinsam mit Peter Körte), also über Regisseure, die für die Verbindung von Popularität und Anspruch stehen. Aber es ist eines der Anliegen seines neuen Buches, eben nachzuweisen, dass auch in Spielbergs Filmen mehr steckt, als nur perfektes Unterhaltungskino, Blockbuster, die geschickt technische Innovationen mit rückwärtsgewandtem Gefühlskitsch verbinden. "Kein anderer Regisseur hat so (scheinbar) gnadenloses Entertainment verbinden können mit moralisch-künstlerischen Gesten wie AMISTAD oder SCHINDLER'S LIST."

Dabei leugnet er Spielbergs konservative Seiten, seine betont unrebellische Haltung, die den 1947 geborenen von den meisten seiner Generationsgenossen unterschied, keineswegs: "Spielberg gehört zu den jungen Filmemachern, die sich mit der Sicht der Väter-Generation Hollywoods identifizierten. Das Erbe war wichtiger als die Revolte, das Verständnis bedeutender als die Reflexion." Nur weist der Autor sehr überzeugend nach, dass es sich all jene viel zu einfach machen, die in Spielberg nur einen furchtbaren Sentimentalisten sehen wollen, ihn allenfalls als brillanten Handwerker gelten lassen.

Es gibt unzweifelhaft Szenen bei Spielberg, anhand derer man zeigen könnte, wohin es gekommen ist mit Hollywood, anhand derer man alles erklären könnte, was falsch läuft im Kino der Gegenwart, das nicht zuletzt in seiner heutigen Gestalt Spielbergs Schöpfung ist. Etwa das Ende von A.I: Der Bär, der auf das Bett purzelt, in dem Mutter und Sohn einschlafen: ein Rettungshaken gegen Gefühl, sozusagen als verkörpertes Augenzwinkern eingesetzt. Das funktioniert so nicht. Große Gefühle und dann das sich-nicht-trauen, das Relativieren durch ein knuffiges, "süßes" Spaß-Element - das ist dann eben Kitsch, und im Ergebnis, der Feier des gedämpften Gefühls gegen die mögliche Ekstase auch ideologisch.
Aber es gibt wiederum andere Momente, die enthalten alles, was den Zauber Hollywoods ausmacht. Und wer weiß, wo das US-Kino ohne ihn stünde.

Seeßlens Text weckt solchen Sinn für Differenzierung. Er zeigt, dass Spielberg nicht anders will, wo ein Roland Emmerich nicht anders kann. Und dieser Unterschied muss unsere Perspektive ändern. Spielberg will Kino für die breite Masse machen, und man kann kritisieren, dass er genau das tut. Aber es hat wenig Sinn, ihm immer wieder vorzuhalten, dass es ihm auch gelingt.

Seeßlen beschreibt Spielberg als Märchenerzähler, Schöpfer großer Abenteuergeschichten (und es ist zweifellos der vielleicht größte Vorwurf, dass er ALLES immer auch als Abenteuergeschichte erzählt, selbst den Hollocaust, der unter seinen Fingern augenblicksweise zum NAZI-PARK wurde), als gnadenlosen Plünderer der Kinogeschichte. Er geht gegen das Klischee des Harmoniesüchtigen an: "Der Mann, der später für sein familienfreundliches Weltbild bekannt werden sollte, beginnt seine Arbeit für das Kino mit einer der radikalsten Anti-Familienfilme der Filmgeschichte." (gemeint ist THE SUGARLAND EXPRESS). Nicht ein einziger Spielberg-Film würde, so Seeßlen, "den Kriterien entsprechen, die in den populären Ragebern für erfolgreiche Drehbücher aufgestellt werden." Auch historische Kontexte bilden einen wichtigen Bezugspunkt für das Nachdenken des Autors. Für Seeßlen betreibt Spielberg zwar zumeist keine wirklich kritischen Analysen ihrer Themen im Kino, seine Filme spielen aber "in der Geschichte der Selbstaufklärung des Mediums eine größere Rolle, als ihnen die europäische Filmgeschichtsschreibung zugestehen will."

Seeßlens Buch ist eine fundierte Analyse des Spielbergschen Universums, die weit über die üblichen Muster anderer Regisseursmonographien hinausgeht. Spielbergs über 20 eigene Filme (zuzüglich seiner Arbeit fürs Fernsehen, als Produzent und Drehbuchautor) werden nicht der Chronologie folgend abgehakt, sondern in verschiedenen Themenblöcken miteinander verschachtelt und aufeinander bezogen. So arbeitet Seeßlen die Leitmotive des Spielbergschen Opus konsequent heraus.
Dabei liest Seeßlen Spielbergs Filme in erster Linie und kaum überraschend als Versöhnungsangebote, als Versuch, "eine neue amerikanische Mythologie" zu schaffen. Kinder und Erwachsene verschmelzen in ihnen, so wie die Kinder oft allzu früh erwachsen werden müssen, dürfen die Erwachsenen immer wieder den Traum der Kindheit träumen, sind große Kinder wie Indiana Jones, oder zumindest nostalgisch schwankende Melancholiker zwischen Zerfall und Sehnsucht. Doch dabei gelingt Spielbergs Filmen immer wieder, "mehr oder minder schmerzhafte Erinnerungsschübe auszulösen." Spielbergs Welt, das versucht Seeßlen zu zeigen, ist kein zuckersüßes Paradies, sondern "eine unabänderliche Hölle, die dem Einzelnen dennoch immer wieder die moralischen Entscheidungen abfordert. Weder die Revolte, noch die Erkenntnis versprechen Befreiung." Jenseits der fundamentalen Abwesenheit von Sinn in Spielbergs existentialistischem Weltbild, gelingt dem Regisseur doch auch "das Einschreiben jüdisch-humanistischer Phantasien in den verdammten Mainstream." "Spielbergs Filme suchen den Gerechten," seine Helden sind "alle in Wahrheit Hysteriker", "Menschen, die nicht tun wollen, was sie tun müssen - also keineswegs 'Helden' - und die nicht sind, wo sie sein sollten. Spielberg und seine Helden wollen nicht fort und hinaus. Sie wollen zurück."
Hier deutet sich Seeßlens Lösung des Rätsels Spielberg an: Überanpassung und "Übermalen des Jüdisch-Seins", der "anständige Liberale" und Kritiker Amerikas will zugleich ein besonders guter Amerikaner sein.

Ein ausgezeichnetes Buch: Klug und gut geschrieben, voll großartiger Exkurse etwa zur jüdischen und christlichen Religion, zur Bedeutung des Vietnam-Kriegs für das US-Kino, ein Buch, dass in seiner Haltung und Vorgehensweise, in Dichte und Tiefe der Analyse Maßstäbe setzt in der an guten Filmbüchern leider viel zu armen deutschen Buchlandschaft.
Und ein Buch, dem es gelingt, seinem Thema gerecht zu werden, ohne apologetisch zu sein. Spielberg, auch daran lässt Seeßlen keinen Zweifel, betreibt "keine Aufklärung im Kino"; wer in Hollywood heute höhere Ansprüche stellt, arbeitet sich nicht zuletzt an einer Figur wie ihm, an seinen Filmen ab.

Rüdiger Suchsland

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