42. Filmfest München: Kurzkritiken |
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In Kooperation mit der LMU München.
Glück macht dumm: Sollten Bauernregeln gültig sein, so wie das Wetter am Siebenschläfertag, nachdem sich die Qualität des kommenden Sommers misst, dann sieht es für das Filmfest München eher mau ist, zumindest wenn man das Festival nach einer alten Festivalbesucherregel an seinem Eröffnungsfilm misst. Denn die leichte Komödie über vergangene Liebe und verratene Ideale auf einer einsamen irischen Insel, auf der ein Musiker von einem unterbelichteten, aber reichen Fan erst gestalked und dann therapiert wird, tut wegen ihrer liebenswerten Schrulligkeit und großartigen musikalischen Einlagen zwar gut wie eine Kopfschmerztablette, ist aber einen Tag später schon wieder vergessen. – Axel Timo Purr
Stell dir vor, du hast viel Geld und lebst auf einer Insel: Welchen Star würdest du gerne nötigen, Zeit mit dir zu verbringen? Eigentlich eine wunderbare Idee, die der Brite James Griffiths hatte – sie gibt aber trotzdem wenig her. Irgendwann fragt man sich, während man dem immerhin sehr humorvollen Spiel von Tim Key, Tom Basden und Carey Mulligan auf der beschaulichen Wallis Island zusieht, ob man in diesem Film nicht co-gekapert ist. Zu durchschaubar, auch zu läppisch sind die Plot-Zwangslagen und das Agieren der Hauptfiguren. Selbst der Höhepunkt, das intime Gitarren-Konzert für den superreichen Fan wird durch allzu viel gewollte Emotionalität vergeigt. Immerhin: Wie Folk-Star Herb McGwyer wünscht man nichts mehr, als von dieser Insel der Eintönigkeit endlich wieder fortzukommen. So funktioniert der Film dann doch. – Dunja Bialas
Tanz den Mussolini. Cornelius Schwalm spielt in seiner Burleske mit allen möglichen Metaebenen. Er amalgamiert die bizarren Ideologien um Indigomenschen mit beißender Kritik an herrschenden Theaterparadigmen und NS-Kauderwelsch im Peenemünde-Idiom. Daraus entsteht eine immer wieder bizarre und nervige Dekonstruktion unserer gegenwärtigen Gesellschaft, aufgepeppt mit massivem Overacting und mit einem mit Endzeitfantasien „gepreppten“ Ensemble, abgefahrenen musikalischen Einlagen, so dass am Ende nur noch Verblüffung ob der Tatsache bleibt, dass es tatsächlich möglich ist, Christoph Schlingensief als Zombierversion wiederzubeleben. – Axel Timo Purr
Poesie des Nichtstuns. Das Remake von Otto Premingers Original von 1958 erzählt von Cécile, die an der Côte d’Azur den Sommerurlaub mit ihrem Vater, dessen Freundin und einem Sommerflirt aus der Nachbarschaft verbringt. Attraktive Menschen sagen hier schön klingende Sätze, werden aber kaum zu dreidimensionale Figuren. Das Genre »Sommerurlaub in schöner Gegend mit Sommerflirt und affektierten Gesprächen« hat zudem schon so sehr aus dem Vollen geschöpft, dass Bonjour Tristesse nicht mehr viel beizutragen hat. Die Bilder sind fantastisch, die Schauspieler ebenso. Die vorgetragenen Weisheiten aber sind deutlich weniger komplex, als sich das die Regisseurin wohl vorgestellt hat. Insgesamt entfaltet der Film dann einen Reiz, wenn nur die Bilder und der Schnitt wirken und sich zwischen den Zitaten anderer Filmemacher, der schönen Landschaft und den komplizierten Beziehungen der Figuren zueinander ein Funken Poesie findet. – Christian Schmuck, LMU München
So eintönig wie das Rauschen des Meeres vergehen die Sommertage der 17-jährigen Cécile (Lily McInery) mit ihrem Vater und dessen Freundin: sie sonnen sich, rauchen, und Cécile trifft sich, wann immer es geht, heimlich mit ihrem Freund. Die Ankunft der Modedesignerin Anne (Chloë Sevigny), eine Freundin von Céciles verstorbener Mutter, mischt das Beziehungsgeflecht im Ferienhaus auf. Ihr Vater will nun mit Anne zusammensein, die neue Dynamik droht Céciles bislang unbeschwerten Sommer zu stören. Das Regiedebüt von Durga Chew-Bose setzt den gleichnamigen Coming-of-Age-Roman nach Otto Preminger ein zweites Mal in Szene. Leider verweilt der Film oftmals bei seinen atmosphärischen Bildern und lässt dadurch nur eine oberflächliche Auseinandersetzung mit dem spannungsvollen Verhältnis der Figuren zu. – Amelie Hochhäusler, LMU München
Vermeintliche Freiheit. Nadia Fall gelingt mit ihrem Debüt ein ebenso kluger wie berührender Film, der sich gängigen Klischees entzieht – und dabei subtil, erschütternd und zutiefst zärtlich erzählt, wie Freundschaft, Glaube und gesellschaftliche Ausgrenzung ein gefährliches Geflecht bilden können. Der Film überzeugt nicht nur durch seine eindringliche, mit poetischen Bildelementen verstärkte Erzählweise und die präzise Regie, sondern vor allem durch seine tiefe Empathie – für seine Figuren, für ihre Herkunft, ihre Zweifel und ihre Hoffnungen und leistet damit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis jener Fragen, die unsere Gegenwart prägen: nach Zugehörigkeit, Identität, Freiheit – und nach der Zerbrechlichkeit all dessen. – Axel Timo Purr
Rede doch mit mir. Sebastian Husaks Kammerspiel an der Nordsee am Wattenmeer ist natürlich kein regionaler Nordseekrimi. Doch was Husak an psychologischen Hinterräumen seiner Protagonisten nach und nach freilegt, gleicht dann doch schon fast einem Krimi. Mehr noch, als neben die Sprachlosigkeit einer Beziehung Schuld und Sühne über einen toten Freund gestellt werden und der Film dann auch noch eine politische Ebene öffnet. Die ist vor allem deshalb spannend, weil sie gegen alle stereotypen Erwartungshaltungen zeigt, dass politische Radikalisierung nicht immer nur aus privatem Unglück erwächst und das Reden und Beziehungshistorie nicht immer helfen um, die gesellschaftlichen Blasen zu überwinden. – Axel Timo Purr
Portrait eines Ortes. Tagsüber werden die verbliebenen Unterkünfte im Sektor 6 des Slums Cañada Real am Rande von Madrid zerstört. Nachts am Feuer werden den Kindern Mythen und Legenden der Nachbarschaft erzählt. On location und mit Laiendarstellern gefilmt, portraitiert der spanische Filmemacher Guillermo Galoe in seinem Spielfilmdebüt diesen Ort und die dort lebenden Menschen. Es ist ein radikaler und tief humanistischer Blick auf die Eigengesetzlichkeiten des Milieus, der sich aus der Erfahrungswelt des 15-jährigen Roma-Jungen Toni (Antonio Fernández Gabarre) entwickelt. Das Gefühl für den Ort vermittelt sich am eindrucksvollsten, wenn Toni die Umgebung mit seinem Handy filmt: Er sieht und perspektiviert seine Umgebung, wodurch der Film seinem Sujet aus der Mitte seiner Figuren heraus so nahe wie möglich kommt. – Amelie Hochhäusler, LMU München
Verschränkung der Zeit. Cédric Klapisch, der sich neben seinen leichten, romantischen Komödien seit Mein Stück vom Kuchen (2010) auch für gesellschaftliche Transformationen interessiert, verschränkt in seinem neuesten Film die Vergangenheit der impressionistischen Malerei mit unserer neoliberalen Gegenwart, erzählt über Familie als Langzeitexperiment und das Ringen um Identität im Gestern und Heute. Das ist so klug wie poetisch und bei weitem nicht nur ein Ausflug in die Malerei, sondern viel mehr ein berührender Versuch, Gesellschaftswerdung eine filmische Form und eine Geschichte zu geben. – Axel Timo Purr
Tauschwerte und Dampfmaschinen. Beinahe dokumentarisch beobachtend verfolgt dieser Film das Reihenhaus-Patchwork-Leben der Supermarkt-Betreiberin Mira: Der Lebensgefährte verzockt geliehenes Geld für dubiose Crypto-Währung, das Super-Markt-Werbeschild fällt vom Himmel und begräbt zwei geparkte PKWs unter sich. Nur zwei Beispiele aus diesem sehr lustigen, klugen Film, der seine randständige, unaufgeregte Haltung nie verlässt, nahe bei seinen Figuren bleibt, ihnen
einfach folgt, sie aus dem Film treten und wieder hineinfinden lässt. Alle sind sie verloren in den merkwürdigen Systemen der Gesellschaft, abhängig von Verträgen, die sie beständig umgeben. Geld und Liebe, alles hat seinen Tauschwert.
Zum Glück steckt in dieser Absurdität des Daseins eine Menge Ironie, darf man trotz allem noch lachen über diese beste aller Welten. – Benedikt Guntentaler, LMU München
Klassenverhältnisse. Franz Müller, Regisseur aus dem Umfeld von »Revolver« und dem Kölner Filmclub 813, befasst sich seit vielen Jahren mit dem Klassismus im Film. Dies schlägt sich jetzt in seinem neuesten Werk nieder, in dem eine Supermarkt-Leiterin gegen die Insolvenz und den Zusammenbruch ihrer Existenz ankämpft. Das Glück zerrinnt ihr förmlich unter den Händen, während die eigene Mutter sie kritisiert, sich immer »nach unten« zu orientieren. So geht es von der Reihenhaus-Hausmann-zwei-Kinder mit einem, wenn auch stressigen, so doch funktionierenden Alltag rapide in die Zerschlagung der kleinbürgerlichen Verhältnisse. Da dies aber ein Kölner Film ist, regiert hier die trocken-humorige Bestandsaufnahme eines Lebens, das sich nicht mehr in den Griff kriegen lässt, durchsetzt von etlichen Insider-Anspielungen, von der Nummer des Hotelzimmers 813 angefangen bis zum Pärchen in einer Bar. – Dunja Bialas
Brutalistisch und erhaben thront das 13-stöckige Gebäude des Spielcasinos in Campione d’Italia über den Ufern des Luganer Sees. In seinem poetischen Filmessay in puristischem Schwarz-Weiß beschwört Daniel Hoesl die kapitalistischen Geister, die hier in einer italienischen Enklave und Steueroase in der Schweiz ihr Unwesen treiben. Nach dem satirischen Spielfilm Veni Vidi Vici wendet sich Hoesl damit wieder experimentelleren Formen zu. Seine filmische Meditation über die unsichtbare Hand des Markts wird getragen von dem gleichermaßen luziden wie unauslotbaren Text des Dramatikers Thomas Köck. Dazu erklingen düster-abgründige Songs der Band Ja, Panik, deren Sänger Andreas Spechtl auch als Darsteller mitwirkt. Doch vor allem die gleitenden Fahrten der Kamera schlagen einen in Bann. Sie umkreisen das Casino beharrlich, erkunden die Straßen und die Landschaft der Umgebung und erzeugen jenen somnambulen und doch klarsichtigen Schwebezustand, der den Inbegriff des Kinos ausmacht. – Wolfgang Lasinger
Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs. Pansy hat unglaublich schlechte Laune, schimpft sich durch den Alltag, entfesselt Streit, wann auch immer sich die Gelegenheit ergibt. Spoiler: Es gibt etliche. Unter der Wut und dem Zorn aber verbirgt sich viel Trauer, das macht Mike Leigh mit viel Gespür für seine Hauptfigur deutlich. Depression und unverarbeitete Erlebnisse verwandeln sich unter seiner Regie zu einer durch und durch komischen Schwarzgalligkeit . Diese Film-Trouvaille des 82-jährigen Briten spielt zudem zur Gänze in der blacken Community, die Weißen sind Randfiguren, fungieren als Möbelverkäuferinnen, Kassiererinnen etc. Eine Umkehrung der sonst in europäischen Filmen abgebildeten rassischen Normverhältnisse, die bravourös funktioniert, uns aber weniger einen moralischen, denn einen zutiefst humanistischen Spiegel vorhält. – Dunja Bialas
Das wiedergefundene Leben. Schwäbische Provinz meets Berlin meets Katholizismus – in souveräner paralleler Erzähltechnik gelingt es Alison Kuhn, unsere ganze fragmentierte Gegenwart in einem kleinen schwäbischen Dorf zu bündeln und so berührend wie klug und komisch davon zu erzählen, was es braucht, um sich bei all dem Irrsinn, den unsere Welt heute ausmacht, zu emanzipieren und wieder- und neu zu erfinden. Die Ensembleleistung ist stark und die Dialoge ein Genuss und der erzählerische Anker – eine von Pater Iversens veranstaltete Laientheaterinszenierung ist ein großer Spaß. Und das nicht nur, weil sie an Oskar Panizzas Liebeskonzil erinnert. – Axel Timo Purr
Passionsspiel wird absurder Rave. Holy Meat erfrischt mit Humor, der situativ und aus den Figuren selbst entsteht, ohne platte Witze zu brauchen. Alle wirken schräg, aber echt. Gerade das macht viele Szenen amüsant und gleichzeitig menschlich, während eine gelungene multiperspektivische Erzählweise die persönlichen Schicksale in der schwäbischen Pfarrgemeinde Winteringen miteinander verwebt. Die Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche ist mal satirisch, mal ernsthaft. Visuell kreative Vignetten, die ein Stück Fleisch inszenieren, unterstreichen die Absurdität des Geschehens. Ein ungewöhnlich unterhaltsamer und berührender Film von Alison Kuhn. – Lara Pleyer, LMU München
Damit man mir glaubt. Selbstermächtigung und die Artikulierung von Missbrauchserfahrung sind kein Kind unserer Gegenwart, sondern gab es schon Anfang der 1960er Jahre. Ein wenig statisch und einer Versuchsanordnung gleich, erzählt Christina Tournatzés die wahre Geschichte der 12-jährigen Karla. Die Statik macht Sinn, denn Tournatzés unterlegt sie mit einer immer wieder düsteren, poetischen Bildsprache und Dialogen, durch die sich ihr überragendes Ensemble regelrecht ringen muss, denn es wird spürbar, dass hier erzählt wird, worüber bislang stets geschwiegen wurde. Und die Erkenntnis, dass vor Gericht die Wahrheit nicht ermittelt, sondern nur verhandelt wird, erinnert an Lars Kraumes Der Staat gegen Fritz Bauer, in dem ebenfalls die bleierne Zeit der früher BRD erklärte, warum wir unser heutiges Deutschland so ist, wie es ist. – Axel Timo Purr
Ich bin Vielheit. Mike Flanagans kongeniale Umsetzung eines Kurzromans von Stephen King zeigt nicht nur, dass King weit mehr als nur ein Bestsellerautor mit Horrorschwerpunkt ist, sondern wie so oft, auch hier nah am Puls unserer Gegenwart operiert. Es ist eine so lyrische wie analytische Geschichte, in der nicht nur der Lauf der Zeit umgedreht, sondern auch die Mathematik als die Quelle von existentieller Wahrheit in den Raum gestellt wird. Und dann ist da noch Walt Whitmans „Song of Myself“ und die schöne Traurigkeit ob der Erkenntnis, dass wir alle mehr sind, als wir zumeist glauben. Im englischen Original erzählt übrigens Nick Offerman aus dem Off die verbindenden Passagen, was an sich den Film schon lohnt. – Axel Timo Purr
Ein Künstler-Biopic – und es geht kaum um Kunst? Das kann funktionieren, sogar sehr gut. Über 15 Jahre folgen wir der Surrealistin Leonora Carrington durch die Welt, toll von Olivia Vinall gespielt und ebenso toll mit der Kamera eingefangen. Sie flieht vor dem Kindheitstrauma, vor dem Wahnsinn, vor dem Krieg in Europa. Am Ende steht ein neuer Anfang. Dabei bleibt der Film auf ihre Person fokussiert, selten sehen wir sie malen, noch seltener ihre Gemälde. Das wird filmisch ersetzt: mit dem Produktionsdesign, der Kamera, dem Schauspiel. Selbst mit dem hölzernen Dialog wird ein subtiler Surrealismus erzeugt, und es wird sehr deutlich, wie die Welt Leonora geprägt hat. Am Ende hätte man jedoch gern mehr über die Rolle der Kunst in Leonoras Leben erfahren. Deshalb sollte man sich nach dem Film unbedingt ihre Gemälde ansehen, das ergänzt sich dann sehr gut – im Nachhinein. – Nicolai Meußling, LMU München
Kinder haften für ihre Eltern. Nicht »herzergreifend« (Katalog), sondern abgrundtief grausam wie das Märchen von Hänsel und Gretel ist, was in Cole Webleys Roadmovie den Kinderfiguren widerfährt. Da ist die Abgabe des Familienhundes ins Tierheim erst der Auftakt in diesem Kinderseelen-Trauma. Der Soundtrack und die Bilder folgen, fast schon zu aufgesetzt, den gängigen Independent-Standards. Immer wieder wird gegen die Sonne gefilmt, wird das Schmutzige und das Alltägliche überhöht, während die Fahrt nach Nebraska im Gitarren-Sound badet. Die Figuren und die Grundkonstellation werden dabei kaum erzählt, auch gibt es keine Perspektive der Kinder, die die Undurchschaubarkeit der Situation plausibel gemacht hätte. Als American Independent hätte man sich den Film eingehen lassen, weil er sich gut ins Genre fügt. Aber als »Cine-Kindl«? – Dunja Bialas
Sundance-Darling. Indiefilm mit Indie-Musik, mit guten Kinder-Schauspieler*innen, mit (natürlich) einem niedlichen Hund, mit Drachensteigen, Hotel-Pools, Feuerwerk und einem Besuch im Zoo. Mit Männern, die schwarzen Bart tragen, Kapuzenpullover, das Herz zwar am rechten Fleck haben, nicht aber über ihre Gefühle reden können: Daraus entsteht ein klassischer US-Road-Trip mit schön gewählten Locations, der andeutend bleibt, momentweise erzählt. Passend dazu: Der große politische Paukenschlag wird nachgereicht, als Texttafel darf er den Abspann einleiten, konkretisiert die vergangenen 80 Minuten von außerhalb. Man hätte sich diese Information früher gewünscht, einen politischen Bezug, der verhandelt wird, dringlich ist, der sich nicht lediglich ohnmächtig sentimental – wie hier – durch den Film zieht. So aber bleibt Omaha beim souveränen Gefühlskino stehen. – Benedikt Guntentaler, LMU München
Roadmovie im Indie-Gewand. Ein Vater weckt morgens früh seine Kinder und fährt mit ihnen in eine zunächst ungewisse Zukunft. Von nun an sehen wir eine schier endlose Autofahrt, gedankenverlorene Blicke und spielende Kinder, die wie die Zuschauer nicht so recht wissen, was los ist. Cole Webley hat das Indie-Film Handbuch gründlich studiert und kommentiert im Subtext die amerikanische Gesellschaft. Die wirklich interessanten Aspekte seiner Geschichte deckt er jedoch erst im Abspann auf. Der wohl erhoffte Schlag in die Magengrube bleibt aus. Mit seinen 83 Minuten Laufzeit sieht sich der Film zwar recht bequem und kurzweilig, sein Potenzial bleibt jedoch auf der Strecke. Die Einordnung in den Wettbewerb CineKindl kann man obendrein mehr als fragwürdig finden, bedenkt man worauf der Film hinaus will. Damit also angeschnallt für eine Autofahrt »Indie« Bedeutungslosigkeit. – Christian Schmuck, LMU München
Tour de Force durch die Wüste. Ein Rave in Marokko: Ausgelassenes Tanzen, sphärische, harte Musik, eine Lichtshow, die eine Treppe in die alles umgebenden Felsen zeichnet. Mittendrin: Vater und Sohn, sie suchen die ausgerissene Tochter. Schon der erste Bruch in diesem Film, der erste Störfaktor in der eigens erschaffenen, randständigen Harmonie.
Weitere werden folgen, werden ein abgründiges, pessimistisches Bild unserer Welt zeichnen. Ständig im Hintergrund:
Der Krieg, eine bevorstehende Apokalypse, und die traurige Erkenntnis, dass jener Kampf nie temporär bleiben wird, dass sich die Bomben in die Geschichte einschreiben, in den Boden, in die Landschaften. Eine Aussichtslosigkeit entsteht, der die Freiräume genommen wurden, in der keiner mehr tanzen kann, sich lediglich linear nach vorne bewegen lässt. – Benedikt Guntentaler, LMU München
Arithmetik des Todes. Ein Film über den Tod und die Trauer, ganz und gar im Alltäglichen verankert, einer kleinen Stadt in NRW. Die Regisseurin folgt ihrer jungen Protagonistin Lore, die mit dem Tod ihrer Mutter sich nicht nur dem Verlust dieser Beziehung stellen, sondern auch die Beziehungen hinterfragen muss, die ihr bislang selbstverständlich schienen und die sich durch den Tod der Mutter schlagartig ändern. Momente der Zärtlichkeit finden genauso Raum wie Momente beißender Banalität. Und die Formen der Trauer und die Fragilität der Beziehungen sind in Jansens Bildern genau so komplex präsentiert wie in dem kürzlich erschienen isländischen Trauerdrama Wenn das Licht zerbricht. – Axel Timo Purr
Fräulein Elses Stream of Consciousness. Der Schweizer Thomas Imbach hat der hundertjährigen Novelle von Arthur Schnitzler eine filmische Form gegeben, die auf der technischen Ebene den neuartigen Gedankenstrom der literarischen Vorlage von 1924 überträgt. Else ist hier Lili, die im Urlaub in eine Zwangslage gerät, als die Mutter sie dazu bringen will, einen gewissen Dorsay um Geld zu bitten – der Vater hat eine beträchtliche Summe verspielt, Gefängnis droht. Eingezwängt von zwei potenten Männern – hier das Familienoberhaupt, dort der schmierige Familienfreund – muss sich Lili entscheiden, ob sie ihren nackten Körper gegen Geld dem Male Gaze aussetzt. Das thematisiert früh »Me too«, bei Imbach übersetzt sich das in eine rasante Inszenierung vor einer 3D-Projektion, gefilmt in 16mm-Tiefkörnigkeit, während die Gedanken unaufhaltsam in einen Strudel geraten. – Dunja Bialas
Träume und Gedankenströme. Lili ist zu Besuch bei ihrer Tante, als sie plötzlich ein Telegram ihrer Mutter erhält: Sie soll einen wohlhabenden Freund der Familie um Geld bitten, um die Schulden ihres Vaters zu tilgen. Wir begleiten Lili dabei vor allem durch ihre Gedanken, die dem Zuschauer als so gut wie ständige Off-Text Begleitung mitgeteilt werden. Das Konzept ist überaus interessant und die visuelle Aufbereitung in 16mm ausschließlich im Studio mit 3D-Projektionen gedreht, ist sehr ansprechend. Unglücklicherweise stellt sich bald heraus, dass Lilis Gedanken sich letztlich ständig im Kreis drehen, so wie es der Film auch tut. An den 16mm Bildern sieht man sich ebenso allzu schnell satt, weswegen der Film spätestens zum dritten Akt seine Langatmigkeit auch nicht durch Traumsequenzen und Tanzeinlagen verschleiern kann. Positiv hervorheben sollte man dennoch Hauptdarstellerin Deleila Piasko, die die Doppelrolle aus Gedankenstimme und lebendiger Figur mit Bravour meistert. – Christian Schmuck, LMU München
Post-, Neo- oder einfach nur Glamour-Feminismus: Jovana Reisingers Sissi-Fantasie ist eine pointierte Persiflage auf den Jugend- und Schönheitswahn, der nicht erst seit »Longevity« trendet. Das nahm schon in den Jahren der jungen Kaiserin ihren Anfang. Reisinger schickt Romy (Julia Windischbauer), Karlheinz (Thomas Hauser) und Magda Gustav (Benjamin Radjaipour) als Fin-de-siècle-Trio auf eine stylische Pilgerschaft, auf der sie die Reinkarnation von Kaiserin Sissi in einem ihrer Luxuskörper erwarten. Als Willkommenskultur eignen sie sich den Habitus der ersten Schönheitskönigin an: Beauty-Treatments, Jungsuppe und üppige Püree- und Nachspeisebomben gehören ebenso dazu wie zarte Schleifenohrringe, Abendroben und eine fein ziselierte Sprache aus der Feder der begnadeten Schreiberin Jovana Reisinger. Ihr Sissy-Universum ist raumgreifend, Ganzkörperkult, Installation und Performance – und ein wunderbarer Spaß. – Dunja Bialas
Die Schönheit der realen Dinge. Soo-Ha arbeitet in einem Gasthaus, in welches eines Tages der französische Künstler Yan Kerrand auf unbestimmte Zeit einzieht. Nach anfänglicher Abneigung zeigt sie ihm ihr Heimatdorf Sokcho, während sie ihn immer mehr als Instrumentalisierung ihres leiblichen, französischen Vaters sieht, der ihre Mutter vor ihrer Geburt verlassen hat. Visionär ist die Synopsis dieser Romanverfilmung nicht gerade, doch den eher durchschnittlichen Korpus befüllt Koya Kamura mit Culture-Clash, Gesellschaftskritik und Liebe zu echten Emotionen. Ob es um Schönheitsideale in Südkorea oder das Vermitteln des Kulturgedächtnisses des Landes geht, Kamura findet einen Weg, seinen Themenpool in leise Poesie zu verwandeln. Die selbst gestellten Klischee-Fallen des Plots werden in angenehmer Weise umgangen. Durch die hervorragenden Leistungen der Hauptdarsteller Bella Kim und Roschdy Zem trägt der Film auch bis zum Schluss. Ein stiller Film, in dem man sich gut verlieren kann. – Christian Schmuck, LMU München
Ein anderes Leben. Nachdem die Entwicklung des Stoffes 2021 von der Initiative Der Besondere Kinderfilm gefördert wurde, ging es für diesen besonderen dokumentarischen Kinderfilm über eine kleinen Zirkus und die letzten Nomaden und den wohl ältesten Zirkusdirektor in Deutschland tatsächlich nur noch bergauf. Und was für ein Ergebnis! Über die Erinnerungen des alten Mannes, die liebevoll animiert dargestellt werden und den Alltag seines Urenkels Santino wird eine Gegenwelt zum Alltag »normaler« deutscher Familien dargestellt, der verblüffender nicht sein könnte. Julia Lemke und Anna Koch vermeiden dabei aber jeglichen Exotismus, sondern zeigen einfach ein anderes Leben, das dennoch Teil des deutschen Alltags ist. Was früher ganz und gar nicht selbstverständlich war, was der kluge Exkurs in die NS-Erinnerungen des Großvaters eindrucksvoll illuminieren. – Axel Timo Purr
Sterben als Therapie. Das Kontrastprogramm zu Jacqueline Jansens „Sechswochenamt“, der ebenfalls dieses Jahr in der Reihe Neues Deutsches Kino läuft. Ist es bei Jansen jedoch autofiktionale Intensität, die sich an bürokratisierten Strukturen persönlicher und behördlicher Art reibt, steht in Julius Grimms Groteske ein Gedankenspiel im Zentrum der Erzählung, das sich nicht um die Verbliebenen, sondern um die Toten und ihr Leben im Himmelreich kümmert. Das ist meist banaler, bayerisch gefärbter Klamauk und an kleinkindliche Fantasien über das Leben „im Jenseits“ angelehnt wie etwa der Notausgang in den Himmel und auch hier spielt die Bürokratie wie bei Jansen eine wichtige, dann aber rein komödiantische Rolle. Doch dann und wann gelingen Grimm mit seinem starken, jedoch allzu oft um Overacting bemühten Ensemble auch schön Tiefen. Nicht nur im Müllerschen Volksbad und angesichts des Nichts, das immer schon so war, sondern auch beim Abgleich der Karmaqualitäten des Verstorbenen. Tod, wo ist dein Stachel? – Axel Timo Purr