26.06.2025

42. Filmfest München: Kurzkritiken

Filmfest München 2025

Kurz und gut: Spots auf Filme aus allen Sektionen (in alphabetischer Reihenfolge)

Von artechock-Redaktion

In Koope­ra­tion mit der LMU München.

THE BALLAD OF WALLIS ISLAND (UK 2024 · R: James Griffiths · Spotlight)

Glück macht dumm: Sollten Bauern­re­geln gültig sein, so wie das Wetter am Sieben­schlä­fertag, nachdem sich die Qualität des kommenden Sommers misst, dann sieht es für das Filmfest München eher mau ist, zumindest wenn man das Festival nach einer alten Festi­val­be­su­cher­regel an seinem Eröff­nungs­film misst. Denn die leichte Komödie über vergan­gene Liebe und verratene Ideale auf einer einsamen irischen Insel, auf der ein Musiker von einem unter­be­lich­teten, aber reichen Fan erst gestalked und dann thera­piert wird, tut wegen ihrer liebens­werten Schrul­lig­keit und groß­ar­tigen musi­ka­li­schen Einlagen zwar gut wie eine Kopf­schmerz­ta­blette, ist aber einen Tag später schon wieder vergessen. – Axel Timo Purr

Stell dir vor, du hast viel Geld und lebst auf einer Insel: Welchen Star würdest du gerne nötigen, Zeit mit dir zu verbringen? Eigent­lich eine wunder­bare Idee, die der Brite James Griffiths hatte – sie gibt aber trotzdem wenig her. Irgend­wann fragt man sich, während man dem immerhin sehr humor­vollen Spiel von Tim Key, Tom Basden und Carey Mulligan auf der beschau­li­chen Wallis Island zusieht, ob man in diesem Film nicht co-gekapert ist. Zu durch­schaubar, auch zu läppisch sind die Plot-Zwangs­lagen und das Agieren der Haupt­fi­guren. Selbst der Höhepunkt, das intime Gitarren-Konzert für den super­rei­chen Fan wird durch allzu viel gewollte Emotio­na­lität vergeigt. Immerhin: Wie Folk-Star Herb McGwyer wünscht man nichts mehr, als von dieser Insel der Eintö­nig­keit endlich wieder fort­zu­kommen. So funk­tio­niert der Film dann doch. – Dunja Bialas

BERND – OPERATION GERMANENKIND (DE 2025 · R: Cornelius Schwalm · Neues Deutsches Kino)

Tanz den Mussolini. Cornelius Schwalm spielt in seiner Burleske mit allen möglichen Meta­ebenen. Er amal­ga­miert die bizarren Ideo­lo­gien um Indi­go­men­schen mit beißender Kritik an herr­schenden Thea­ter­pa­ra­digmen und NS-Kauder­welsch im Peene­münde-Idiom. Daraus entsteht eine immer wieder bizarre und nervige Dekon­struk­tion unserer gegen­wär­tigen Gesell­schaft, aufge­peppt mit massivem Over­ac­ting und mit einem mit Endzeit­fan­ta­sien „gepreppten“ Ensemble, abge­fah­renen musi­ka­li­schen Einlagen, so dass am Ende nur noch Verblüf­fung ob der Tatsache bleibt, dass es tatsäch­lich möglich ist, Christoph Schlin­gen­sief als Zombier­ver­sion wieder­zu­be­leben. – Axel Timo Purr

BONJOUR TRISTESSE (DE, CA 2024 – R: Durga Chew-Bose – Wett­be­werb CineCoPro)

Poesie des Nichts­tuns. Das Remake von Otto Premin­gers Original von 1958 erzählt von Cécile, die an der Côte d’Azur den Sommer­ur­laub mit ihrem Vater, dessen Freundin und einem Sommer­flirt aus der Nach­bar­schaft verbringt. Attrak­tive Menschen sagen hier schön klingende Sätze, werden aber kaum zu drei­di­men­sio­nale Figuren. Das Genre »Sommer­ur­laub in schöner Gegend mit Sommer­flirt und affek­tierten Gesprächen« hat zudem schon so sehr aus dem Vollen geschöpft, dass Bonjour Tristesse nicht mehr viel beizu­tragen hat. Die Bilder sind fantas­tisch, die Schau­spieler ebenso. Die vorge­tra­genen Weis­heiten aber sind deutlich weniger komplex, als sich das die Regis­seurin wohl vorge­stellt hat. Insgesamt entfaltet der Film dann einen Reiz, wenn nur die Bilder und der Schnitt wirken und sich zwischen den Zitaten anderer Filme­ma­cher, der schönen Land­schaft und den kompli­zierten Bezie­hungen der Figuren zuein­ander ein Funken Poesie findet. – Christian Schmuck, LMU München

So eintönig wie das Rauschen des Meeres vergehen die Sommertage der 17-jährigen Cécile (Lily McInery) mit ihrem Vater und dessen Freundin: sie sonnen sich, rauchen, und Cécile trifft sich, wann immer es geht, heimlich mit ihrem Freund. Die Ankunft der Modedesignerin Anne (Chloë Sevigny), eine Freundin von Céciles verstorbener Mutter, mischt das Beziehungsgeflecht im Ferienhaus auf. Ihr Vater will nun mit Anne zusammensein, die neue Dynamik droht Céciles bislang unbeschwerten Sommer zu stören. Das Regiedebüt von Durga Chew-Bose setzt den gleichnamigen Coming-of-Age-Roman nach Otto Preminger ein zweites Mal in Szene. Leider verweilt der Film oftmals bei seinen atmosphärischen Bildern und lässt dadurch nur eine oberflächliche Auseinandersetzung mit dem spannungsvollen Verhältnis der Figuren zu. – Amelie Hoch­häusler, LMU München

BRIDES (UK 2025 · R: Nadia Fall · Wett­be­werb CineVison)

Vermeint­liche Freiheit. Nadia Fall gelingt mit ihrem Debüt ein ebenso kluger wie berüh­render Film, der sich gängigen Klischees entzieht – und dabei subtil, erschüt­ternd und zutiefst zärtlich erzählt, wie Freund­schaft, Glaube und gesell­schaft­liche Ausgren­zung ein gefähr­li­ches Geflecht bilden können. Der Film überzeugt nicht nur durch seine eindring­liche, mit poeti­schen Bild­ele­menten vers­tärkte Erzähl­weise und die präzise Regie, sondern vor allem durch seine tiefe Empathie – für seine Figuren, für ihre Herkunft, ihre Zweifel und ihre Hoff­nungen und leistet damit einen wichtigen Beitrag zum Vers­tändnis jener Fragen, die unsere Gegenwart prägen: nach Zugehö­rig­keit, Identität, Freiheit – und nach der Zerbrech­lich­keit all dessen. – Axel Timo Purr

BUBBLES (DE 2025 · R: Sebastian Husak · Neues Deutsches Kino)

Rede doch mit mir. Sebastian Husaks Kammer­spiel an der Nordsee am Watten­meer ist natürlich kein regio­naler Nord­see­krimi. Doch was Husak an psycho­lo­gi­schen Hinter­räumen seiner Prot­ago­nisten nach und nach freilegt, gleicht dann doch schon fast einem Krimi. Mehr noch, als neben die Sprach­lo­sig­keit einer Beziehung Schuld und Sühne über einen toten Freund gestellt werden und der Film dann auch noch eine poli­ti­sche Ebene öffnet. Die ist vor allem deshalb spannend, weil sie gegen alle stereo­typen Erwar­tungs­hal­tungen zeigt, dass poli­ti­sche Radi­ka­li­sie­rung nicht immer nur aus privatem Unglück erwächst und das Reden und Bezie­hungs­his­torie nicht immer helfen um, die gesell­schaft­li­chen Blasen zu über­winden. – Axel Timo Purr

CIUDAD SIN SUEÑO (ES 2025 · R: Guillermo Galoe · Wett­be­werb CineVi­sion)

Portrait eines Ortes. Tagsüber werden die verblie­benen Unter­künfte im Sektor 6 des Slums Cañada Real am Rande von Madrid zerstört. Nachts am Feuer werden den Kindern Mythen und Legenden der Nach­bar­schaft erzählt. On location und mit Laien­dar­stel­lern gefilmt, portrai­tiert der spanische Filme­ma­cher Guillermo Galoe in seinem Spiel­film­debüt diesen Ort und die dort lebenden Menschen. Es ist ein radikaler und tief huma­nis­ti­scher Blick auf die Eigen­ge­setz­lich­keiten des Milieus, der sich aus der Erfah­rungs­welt des 15-jährigen Roma-Jungen Toni (Antonio Fernández Gabarre) entwi­ckelt. Das Gefühl für den Ort vermit­telt sich am eindrucks­vollsten, wenn Toni die Umgebung mit seinem Handy filmt: Er sieht und perspek­ti­viert seine Umgebung, wodurch der Film seinem Sujet aus der Mitte seiner Figuren heraus so nahe wie möglich kommt. – Amelie Hoch­häusler, LMU München

DIE FARBEN DER ZEIT (FRA 2025 · R: Cédric Klapisch · Spotlight)

Verschrän­kung der Zeit. Cédric Klapisch, der sich neben seinen leichten, roman­ti­schen Komödien seit Mein Stück vom Kuchen (2010) auch für gesell­schaft­liche Trans­for­ma­tionen inter­es­siert, verschränkt in seinem neuesten Film die Vergan­gen­heit der impres­sio­nis­ti­schen Malerei mit unserer neoli­be­ralen Gegenwart, erzählt über Familie als Lang­zeit­ex­pe­ri­ment und das Ringen um Identität im Gestern und Heute. Das ist so klug wie poetisch und bei weitem nicht nur ein Ausflug in die Malerei, sondern viel mehr ein berüh­render Versuch, Gesell­schafts­wer­dung eine filmische Form und eine Geschichte zu geben. – Axel Timo Purr

DAS GLÜCK DER TÜCHTIGEN (DE 2025 · R: Franz Müller · Neues Deutsches Kino)

Das Glück der Tüchtigen
(Foto: Filmfest München | Franz Müller)

Tauschwerte und Dampf­ma­schinen. Beinahe doku­men­ta­risch beob­ach­tend verfolgt dieser Film das Reihen­haus-Patchwork-Leben der Super­markt-Betrei­berin Mira: Der Lebens­ge­fährte verzockt gelie­henes Geld für dubiose Crypto-Währung, das Super-Markt-Werbe­schild fällt vom Himmel und begräbt zwei geparkte PKWs unter sich. Nur zwei Beispiele aus diesem sehr lustigen, klugen Film, der seine rand­stän­dige, unauf­ge­regte Haltung nie verlässt, nahe bei seinen Figuren bleibt, ihnen einfach folgt, sie aus dem Film treten und wieder hinein­finden lässt. Alle sind sie verloren in den merk­wür­digen Systemen der Gesell­schaft, abhängig von Verträgen, die sie beständig umgeben. Geld und Liebe, alles hat seinen Tauschwert.
Zum Glück steckt in dieser Absur­dität des Daseins eine Menge Ironie, darf man trotz allem noch lachen über diese beste aller Welten. – Benedikt Gunten­taler, LMU München

Klas­sen­ver­hält­nisse. Franz Müller, Regisseur aus dem Umfeld von »Revolver« und dem Kölner Filmclub 813, befasst sich seit vielen Jahren mit dem Klas­sismus im Film. Dies schlägt sich jetzt in seinem neuesten Werk nieder, in dem eine Super­markt-Leiterin gegen die Insolvenz und den Zusam­men­bruch ihrer Existenz ankämpft. Das Glück zerrinnt ihr förmlich unter den Händen, während die eigene Mutter sie kriti­siert, sich immer »nach unten« zu orien­tieren. So geht es von der Reihen­haus-Hausmann-zwei-Kinder mit einem, wenn auch stres­sigen, so doch funk­tio­nie­renden Alltag rapide in die Zerschla­gung der klein­bür­ger­li­chen Verhält­nisse. Da dies aber ein Kölner Film ist, regiert hier die trocken-humorige Bestands­auf­nahme eines Lebens, das sich nicht mehr in den Griff kriegen lässt, durch­setzt von etlichen Insider-Anspie­lungen, von der Nummer des Hotel­zim­mers 813 ange­fangen bis zum Pärchen in einer Bar. – Dunja Bialas

UN GRAN CASINO (AT 2025 · R: Daniel Hoesl · Wett­be­werb CineRe­bels)

Bruta­lis­tisch und erhaben thront das 13-stöckige Gebäude des Spiel­ca­sinos in Campione d’Italia über den Ufern des Luganer Sees. In seinem poeti­schen Filmessay in puris­ti­schem Schwarz-Weiß beschwört Daniel Hoesl die kapi­ta­lis­ti­schen Geister, die hier in einer italie­ni­schen Enklave und Steu­er­oase in der Schweiz ihr Unwesen treiben. Nach dem sati­ri­schen Spielfilm Veni Vidi Vici wendet sich Hoesl damit wieder expe­ri­men­tel­leren Formen zu. Seine filmische Medi­ta­tion über die unsicht­bare Hand des Markts wird getragen von dem glei­cher­maßen luziden wie unaus­lot­baren Text des Drama­ti­kers Thomas Köck. Dazu erklingen düster-abgrün­dige Songs der Band Ja, Panik, deren Sänger Andreas Spechtl auch als Darsteller mitwirkt. Doch vor allem die glei­tenden Fahrten der Kamera schlagen einen in Bann. Sie umkreisen das Casino beharr­lich, erkunden die Straßen und die Land­schaft der Umgebung und erzeugen jenen somnam­bulen und doch klar­sich­tigen Schwe­be­zu­stand, der den Inbegriff des Kinos ausmacht. – Wolfgang Lasinger

HARD TRUTHS (GB 2024 · R: Mike Leigh · Wett­be­werb CineMas­ters)

Frau am Rande des Nerven­zu­sam­men­bruchs. Pansy hat unglaub­lich schlechte Laune, schimpft sich durch den Alltag, entfes­selt Streit, wann auch immer sich die Gele­gen­heit ergibt. Spoiler: Es gibt etliche. Unter der Wut und dem Zorn aber verbirgt sich viel Trauer, das macht Mike Leigh mit viel Gespür für seine Haupt­figur deutlich. Depres­sion und unver­ar­bei­tete Erleb­nisse verwan­deln sich unter seiner Regie zu einer durch und durch komischen Schwarz­gal­lig­keit . Diese Film-Trou­vaille des 82-jährigen Briten spielt zudem zur Gänze in der blacken Community, die Weißen sind Rand­fi­guren, fungieren als Möbel­ver­käu­fe­rinnen, Kassie­re­rinnen etc. Eine Umkehrung der sonst in europäi­schen Filmen abge­bil­deten rassi­schen Norm­ver­hält­nisse, die bravourös funk­tio­niert, uns aber weniger einen mora­li­schen, denn einen zutiefst huma­nis­ti­schen Spiegel vorhält. – Dunja Bialas

HOLY MEAT (DE 2025 · R: Alison Kuhn · Neues Deutsches Kino)

Das wieder­ge­fun­dene Leben. Schwä­bi­sche Provinz meets Berlin meets Katho­li­zismus – in souver­äner paral­leler Erzähl­technik gelingt es Alison Kuhn, unsere ganze frag­men­tierte Gegenwart in einem kleinen schwä­bi­schen Dorf zu bündeln und so berührend wie klug und komisch davon zu erzählen, was es braucht, um sich bei all dem Irrsinn, den unsere Welt heute ausmacht, zu eman­zi­pieren und wieder- und neu zu erfinden. Die Ensem­ble­leis­tung ist stark und die Dialoge ein Genuss und der erzäh­le­ri­sche Anker – eine von Pater Iversens veran­stal­tete Laien­thea­ter­in­sze­nie­rung ist ein großer Spaß. Und das nicht nur, weil sie an Oskar Panizzas Liebes­konzil erinnert. – Axel Timo Purr

Passi­ons­spiel wird absurder Rave. Holy Meat erfrischt mit Humor, der situativ und aus den Figuren selbst entsteht, ohne platte Witze zu brauchen. Alle wirken schräg, aber echt. Gerade das macht viele Szenen amüsant und gleich­zeitig mensch­lich, während eine gelungene multi­per­spek­ti­vi­sche Erzähl­weise die persön­li­chen Schick­sale in der schwä­bi­schen Pfarr­ge­meinde Winte­ringen mitein­ander verwebt. Die Ausein­an­der­set­zung mit der katho­li­schen Kirche ist mal satirisch, mal ernsthaft. Visuell kreative Vignetten, die ein Stück Fleisch insze­nieren, unter­strei­chen die Absur­dität des Gesche­hens. Ein unge­wöhn­lich unter­halt­samer und berüh­render Film von Alison Kuhn. – Lara Pleyer, LMU München

KLARA (DE 2025 · R: Christina Tour­natzés · Neues Deutsches Kino)

Damit man mir glaubt. Selbst­er­mäch­ti­gung und die Arti­ku­lie­rung von Miss­brauchs­er­fah­rung sind kein Kind unserer Gegenwart, sondern gab es schon Anfang der 1960er Jahre. Ein wenig statisch und einer Versuchs­an­ord­nung gleich, erzählt Christina Tour­natzés die wahre Geschichte der 12-jährigen Karla. Die Statik macht Sinn, denn Tour­natzés unterlegt sie mit einer immer wieder düsteren, poeti­schen Bild­sprache und Dialogen, durch die sich ihr über­ra­gendes Ensemble regel­recht ringen muss, denn es wird spürbar, dass hier erzählt wird, worüber bislang stets geschwiegen wurde. Und die Erkenntnis, dass vor Gericht die Wahrheit nicht ermittelt, sondern nur verhan­delt wird, erinnert an Lars Kraumes Der Staat gegen Fritz Bauer, in dem ebenfalls die bleierne Zeit der früher BRD erklärte, warum wir unser heutiges Deutsch­land so ist, wie es ist. – Axel Timo Purr

THE LIFE OF CHUCK (USA 2024 · R: Mike Flanagan · Spotlight)

Ich bin Vielheit. Mike Flanagans konge­niale Umsetzung eines Kurz­ro­mans von Stephen King zeigt nicht nur, dass King weit mehr als nur ein Best­sel­ler­autor mit Horror­schwer­punkt ist, sondern wie so oft, auch hier nah am Puls unserer Gegenwart operiert. Es ist eine so lyrische wie analy­ti­sche Geschichte, in der nicht nur der Lauf der Zeit umgedreht, sondern auch die Mathe­matik als die Quelle von exis­ten­ti­eller Wahrheit in den Raum gestellt wird. Und dann ist da noch Walt Whitmans „Song of Myself“ und die schöne Trau­rig­keit ob der Erkenntnis, dass wir alle mehr sind, als wir zumeist glauben. Im engli­schen Original erzählt übrigens Nick Offerman aus dem Off die verbin­denden Passagen, was an sich den Film schon lohnt. – Axel Timo Purr

LEONORA IM MORGENLICHT (DE, MEX, ROU, UK 2025 · R: Thor Klein, Lena Vurma · Wettbewerb CineCoPro)

Ein Künstler-Biopic – und es geht kaum um Kunst? Das kann funk­tio­nieren, sogar sehr gut. Über 15 Jahre folgen wir der Surrea­listin Leonora Carrington durch die Welt, toll von Olivia Vinall gespielt und ebenso toll mit der Kamera einge­fangen. Sie flieht vor dem Kind­heits­trauma, vor dem Wahnsinn, vor dem Krieg in Europa. Am Ende steht ein neuer Anfang. Dabei bleibt der Film auf ihre Person fokus­siert, selten sehen wir sie malen, noch seltener ihre Gemälde. Das wird filmisch ersetzt: mit dem Produk­ti­ons­de­sign, der Kamera, dem Schau­spiel. Selbst mit dem hölzernen Dialog wird ein subtiler Surrea­lismus erzeugt, und es wird sehr deutlich, wie die Welt Leonora geprägt hat. Am Ende hätte man jedoch gern mehr über die Rolle der Kunst in Leonoras Leben erfahren. Deshalb sollte man sich nach dem Film unbedingt ihre Gemälde ansehen, das ergänzt sich dann sehr gut – im Nach­hinein. – Nicolai Meußling, LMU München

OMAHA (USA 2025 · R: Cole Webley · Wett­be­werb CineKindl)

Omaha
(Foto: Filmfest München | Cole Webley)

Kinder haften für ihre Eltern. Nicht »herz­er­grei­fend« (Katalog), sondern abgrund­tief grausam wie das Märchen von Hänsel und Gretel ist, was in Cole Webleys Roadmovie den Kinder­fi­guren wider­fährt. Da ist die Abgabe des Fami­li­en­hundes ins Tierheim erst der Auftakt in diesem Kinder­seelen-Trauma. Der Sound­track und die Bilder folgen, fast schon zu aufge­setzt, den gängigen Inde­pen­dent-Standards. Immer wieder wird gegen die Sonne gefilmt, wird das Schmut­zige und das Alltäg­liche überhöht, während die Fahrt nach Nebraska im Gitarren-Sound badet. Die Figuren und die Grund­kon­stel­la­tion werden dabei kaum erzählt, auch gibt es keine Perspek­tive der Kinder, die die Undurch­schau­bar­keit der Situation plausibel gemacht hätte. Als American Inde­pen­dent hätte man sich den Film eingehen lassen, weil er sich gut ins Genre fügt. Aber als »Cine-Kindl«? – Dunja Bialas

Sundance-Darling. Indiefilm mit Indie-Musik, mit guten Kinder-Schau­spieler*innen, mit (natürlich) einem nied­li­chen Hund, mit Drachen­steigen, Hotel-Pools, Feuerwerk und einem Besuch im Zoo. Mit Männern, die schwarzen Bart tragen, Kapu­zen­pull­over, das Herz zwar am rechten Fleck haben, nicht aber über ihre Gefühle reden können: Daraus entsteht ein klas­si­scher US-Road-Trip mit schön gewählten Locations, der andeutend bleibt, moment­weise erzählt. Passend dazu: Der große poli­ti­sche Pauken­schlag wird nach­ge­reicht, als Texttafel darf er den Abspann einleiten, konkre­ti­siert die vergan­genen 80 Minuten von außerhalb. Man hätte sich diese Infor­ma­tion früher gewünscht, einen poli­ti­schen Bezug, der verhan­delt wird, dringlich ist, der sich nicht lediglich ohnmächtig senti­mental – wie hier – durch den Film zieht. So aber bleibt Omaha beim souver­änen Gefühls­kino stehen. – Benedikt Gunten­taler, LMU München

Roadmovie im Indie-Gewand. Ein Vater weckt morgens früh seine Kinder und fährt mit ihnen in eine zunächst ungewisse Zukunft. Von nun an sehen wir eine schier endlose Autofahrt, gedan­ken­ver­lo­rene Blicke und spielende Kinder, die wie die Zuschauer nicht so recht wissen, was los ist. Cole Webley hat das Indie-Film Handbuch gründlich studiert und kommen­tiert im Subtext die ameri­ka­ni­sche Gesell­schaft. Die wirklich inter­es­santen Aspekte seiner Geschichte deckt er jedoch erst im Abspann auf. Der wohl erhoffte Schlag in die Magen­grube bleibt aus. Mit seinen 83 Minuten Laufzeit sieht sich der Film zwar recht bequem und kurz­weilig, sein Potenzial bleibt jedoch auf der Strecke. Die Einord­nung in den Wett­be­werb CineKindl kann man obendrein mehr als frag­würdig finden, bedenkt man worauf der Film hinaus will. Damit also ange­schnallt für eine Autofahrt »Indie« Bedeu­tungs­lo­sig­keit. – Christian Schmuck, LMU München

SIRÂT (FR, ES 2025 · R: Óliver Laxe · Wett­be­werb CineMas­ters)

Tour de Force durch die Wüste. Ein Rave in Marokko: Ausge­las­senes Tanzen, sphäri­sche, harte Musik, eine Lichtshow, die eine Treppe in die alles umge­benden Felsen zeichnet. Mitten­drin: Vater und Sohn, sie suchen die ausge­ris­sene Tochter. Schon der erste Bruch in diesem Film, der erste Stör­faktor in der eigens erschaf­fenen, rand­stän­digen Harmonie.
Weitere werden folgen, werden ein abgrün­diges, pessi­mis­ti­sches Bild unserer Welt zeichnen. Ständig im Hinter­grund: Der Krieg, eine bevor­ste­hende Apoka­lypse, und die traurige Erkenntnis, dass jener Kampf nie temporär bleiben wird, dass sich die Bomben in die Geschichte einschreiben, in den Boden, in die Land­schaften. Eine Aussichts­lo­sig­keit entsteht, der die Freiräume genommen wurden, in der keiner mehr tanzen kann, sich lediglich linear nach vorne bewegen lässt. – Benedikt Gunten­taler, LMU München

SECHSWOCHENAMT (DE 2025 · R: Jacque­line Jansen · Neues Deutsches Kino)

Arith­metik des Todes. Ein Film über den Tod und die Trauer, ganz und gar im Alltäg­li­chen verankert, einer kleinen Stadt in NRW. Die Regis­seurin folgt ihrer jungen Prot­ago­nistin Lore, die mit dem Tod ihrer Mutter sich nicht nur dem Verlust dieser Beziehung stellen, sondern auch die Bezie­hungen hinter­fragen muss, die ihr bislang selbst­ver­s­tänd­lich schienen und die sich durch den Tod der Mutter schlag­artig ändern. Momente der Zärt­lich­keit finden genauso Raum wie Momente beißender Banalität. Und die Formen der Trauer und die Fragi­lität der Bezie­hungen sind in Jansens Bildern genau so komplex präsen­tiert wie in dem kürzlich erschienen islän­di­schen Trau­er­drama Wenn das Licht zerbricht. – Axel Timo Purr

THE EXPOSURE (CH, GB 2025 · R: Thomas Imbach · Wett­be­werb CineMas­ters)

Fräulein Elses Stream of Conscious­ness. Der Schweizer Thomas Imbach hat der hundert­jäh­rigen Novelle von Arthur Schnitzler eine filmische Form gegeben, die auf der tech­ni­schen Ebene den neuar­tigen Gedan­ken­strom der lite­ra­ri­schen Vorlage von 1924 überträgt. Else ist hier Lili, die im Urlaub in eine Zwangs­lage gerät, als die Mutter sie dazu bringen will, einen gewissen Dorsay um Geld zu bitten – der Vater hat eine beträcht­liche Summe verspielt, Gefängnis droht. Einge­zwängt von zwei potenten Männern – hier das Fami­li­en­ober­haupt, dort der schmie­rige Fami­li­en­freund – muss sich Lili entscheiden, ob sie ihren nackten Körper gegen Geld dem Male Gaze aussetzt. Das thema­ti­siert früh »Me too«, bei Imbach übersetzt sich das in eine rasante Insze­nie­rung vor einer 3D-Projek­tion, gefilmt in 16mm-Tief­kör­nig­keit, während die Gedanken unauf­haltsam in einen Strudel geraten. – Dunja Bialas

Träume und Gedan­ken­ströme. Lili ist zu Besuch bei ihrer Tante, als sie plötzlich ein Telegram ihrer Mutter erhält: Sie soll einen wohl­ha­benden Freund der Familie um Geld bitten, um die Schulden ihres Vaters zu tilgen. Wir begleiten Lili dabei vor allem durch ihre Gedanken, die dem Zuschauer als so gut wie ständige Off-Text Beglei­tung mitge­teilt werden. Das Konzept ist überaus inter­es­sant und die visuelle Aufbe­rei­tung in 16mm ausschließ­lich im Studio mit 3D-Projek­tionen gedreht, ist sehr anspre­chend. Unglück­li­cher­weise stellt sich bald heraus, dass Lilis Gedanken sich letztlich ständig im Kreis drehen, so wie es der Film auch tut. An den 16mm Bildern sieht man sich ebenso allzu schnell satt, weswegen der Film spätes­tens zum dritten Akt seine Lang­at­mig­keit auch nicht durch Traum­se­quenzen und Tanz­ein­lagen verschleiern kann. Positiv hervor­heben sollte man dennoch Haupt­dar­stel­lerin Deleila Piasko, die die Doppel­rolle aus Gedan­ken­stimme und leben­diger Figur mit Bravour meistert. – Christian Schmuck, LMU München

UNTERWEGS IM NAMEN DER KAISERIN (DE 2025 · R: Jovana Reisinger · Neues Deutsches Kino)

Unterwegs im Namen der Kaiserin
(Foto: Filmfest München | Jovana Reisinger)

Post-, Neo- oder einfach nur Glamour-Femi­nismus: Jovana Reisin­gers Sissi-Fantasie ist eine poin­tierte Persi­flage auf den Jugend- und Schön­heits­wahn, der nicht erst seit »Longevity« trendet. Das nahm schon in den Jahren der jungen Kaiserin ihren Anfang. Reisinger schickt Romy (Julia Windisch­bauer), Karlheinz (Thomas Hauser) und Magda Gustav (Benjamin Radjai­pour) als Fin-de-siècle-Trio auf eine stylische Pilger­schaft, auf der sie die Reinkar­na­tion von Kaiserin Sissi in einem ihrer Luxus­körper erwarten. Als Will­kom­mens­kultur eignen sie sich den Habitus der ersten Schön­heits­kö­nigin an: Beauty-Treat­ments, Jungsuppe und üppige Püree- und Nach­spei­se­bomben gehören ebenso dazu wie zarte Schlei­fen­ohr­ringe, Abend­roben und eine fein zise­lierte Sprache aus der Feder der begna­deten Schrei­berin Jovana Reisinger. Ihr Sissy-Universum ist raum­grei­fend, Ganz­kör­per­kult, Instal­la­tion und Perfor­mance – und ein wunder­barer Spaß. – Dunja Bialas

WINTER IN SOKCHO (FR 2024 · R: Koya Kamura · Wett­be­werb CineVi­sion)

Die Schönheit der realen Dinge. Soo-Ha arbeitet in einem Gasthaus, in welches eines Tages der fran­zö­si­sche Künstler Yan Kerrand auf unbe­stimmte Zeit einzieht. Nach anfäng­li­cher Abneigung zeigt sie ihm ihr Heimat­dorf Sokcho, während sie ihn immer mehr als Instru­men­ta­li­sie­rung ihres leib­li­chen, fran­zö­si­schen Vaters sieht, der ihre Mutter vor ihrer Geburt verlassen hat. Visionär ist die Synopsis dieser Roman­ver­fil­mung nicht gerade, doch den eher durch­schnitt­li­chen Korpus befüllt Koya Kamura mit Culture-Clash, Gesell­schafts­kritik und Liebe zu echten Emotionen. Ob es um Schön­heits­ideale in Südkorea oder das Vermit­teln des Kultur­ge­dächt­nisses des Landes geht, Kamura findet einen Weg, seinen Themen­pool in leise Poesie zu verwan­deln. Die selbst gestellten Klischee-Fallen des Plots werden in ange­nehmer Weise umgangen. Durch die hervor­ra­genden Leis­tungen der Haupt­dar­steller Bella Kim und Roschdy Zem trägt der Film auch bis zum Schluss. Ein stiller Film, in dem man sich gut verlieren kann. – Christian Schmuck, LMU München

ZIRKUSKIND (DE 2025 · R: Julia Lemke, Anna Koch · Wett­be­werb CineKindl)

Ein anderes Leben. Nachdem die Entwick­lung des Stoffes 2021 von der Initia­tive Der Besondere Kinder­film gefördert wurde, ging es für diesen beson­deren doku­men­ta­ri­schen Kinder­film über eine kleinen Zirkus und die letzten Nomaden und den wohl ältesten Zirkus­di­rektor in Deutsch­land tatsäch­lich nur noch bergauf. Und was für ein Ergebnis! Über die Erin­ne­rungen des alten Mannes, die liebevoll animiert darge­stellt werden und den Alltag seines Urenkels Santino wird eine Gegenwelt zum Alltag »normaler« deutscher Familien darge­stellt, der verblüf­fender nicht sein könnte. Julia Lemke und Anna Koch vermeiden dabei aber jeglichen Exotismus, sondern zeigen einfach ein anderes Leben, das dennoch Teil des deutschen Alltags ist. Was früher ganz und gar nicht selbst­ver­s­tänd­lich war, was der kluge Exkurs in die NS-Erin­ne­rungen des Groß­va­ters eindrucks­voll illu­mi­nieren. – Axel Timo Purr

ZWEIGSTELLE (DE 2025 · R: Julius Grimm · Neues Deutsches Kino)

Sterben als Therapie. Das Kontrast­pro­gramm zu Jacque­line Jansens „Sechs­wo­chenamt“, der ebenfalls dieses Jahr in der Reihe Neues Deutsches Kino läuft. Ist es bei Jansen jedoch auto­fik­tio­nale Inten­sität, die sich an büro­kra­ti­sierten Struk­turen persön­li­cher und behörd­li­cher Art reibt, steht in Julius Grimms Groteske ein Gedan­ken­spiel im Zentrum der Erzählung, das sich nicht um die Verblie­benen, sondern um die Toten und ihr Leben im Himmel­reich kümmert. Das ist meist banaler, bayerisch gefärbter Klamauk und an klein­kind­liche Fantasien über das Leben „im Jenseits“ angelehnt wie etwa der Notaus­gang in den Himmel und auch hier spielt die Büro­kratie wie bei Jansen eine wichtige, dann aber rein komö­di­an­ti­sche Rolle. Doch dann und wann gelingen Grimm mit seinem starken, jedoch allzu oft um Over­ac­ting bemühten Ensemble auch schön Tiefen. Nicht nur im Müller­schen Volksbad und ange­sichts des Nichts, das immer schon so war, sondern auch beim Abgleich der Karma­qua­li­täten des Verstor­benen. Tod, wo ist dein Stachel? – Axel Timo Purr