Wild

Deutschland 2014 · 97 min. · FSK: ab 16
Regie: Nicolette Krebitz
Drehbuch:
Kamera: Reinhold Vorschneider
Darsteller: Lilith Stangenberg, Georg Friedrich, Silke Bodenbender, Saskia Rosendahl, Kotti Yun u.a.
Poetische Tiefe und Wahrheit

Kontra Klischees

Es wurde vor, während und nach der letzten Berlinale viel über das Dilemma des deutschen Films gemunkelt, der es auf kein inter­na­tio­nales Festival, geschweige denn mehr auf ein Sieger­trepp­chen schafft. Kaum gehört, wird man schon eines Besseren belehrt, erfahren wir, dass Maren Ades Toni Erdmann im Wett­be­werb in Cannes laufen wird und dass Nicolette Krebitz ihren neuen Film Wild ganz bewusst nicht zuerst auf der Berlinale hat zeigen wollen, sondern lieber in Sundance, auch deshalb wohl, weil man sich dort eine unab­hän­gi­gere Rezeption, schlichtweg einen besseren Start verspro­chen hat. Das diffe­ren­zierte Vorablob aus Sundance spricht für diesen Schritt und zeigt gleich­zeitig die Unab­hän­gig­keit, mit der Krebitz agiert, eine Unab­hän­gig­keit, die sich auch in Wild wieder­findet.

Denn Wild ist eine erstaun­liche, aufre­gende, konse­quente und immer wider­sprüch­liche Grat­wan­de­rung in Sachen Iden­ti­täts­suche in unseren post­in­dus­tri­ellen Gesell­schaften. Und Krebitz verwei­gert sich in ihrer Geschichte um die junge Ania ausserdem so ziemlich allen Erwar­tungs­hal­tungen, die man ihrer Geschichte entge­gen­bringen könnte. Eine Geschichte, die vorder­gründig auf die Mitt­zwan­zi­gerin Ania fokus­siert, die sich sowohl in ihrem Bürojob als auch in ihrem privaten Alltag unter­for­dert sieht und eine Liaison mit einem Wolf eingeht. Was textlich ein wenig abstrus klingen mag, verwan­delt sich durch das großar­tige Drehbuch von Krebitz, den umwer­fenden schau­spie­le­ri­schen Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess von Lilith Stan­gen­berg und die subtil suchende Kamera von Reinhold Vorschneider in eine glaub­wür­dige, fast selbst­ver­s­tänd­liche Rite de Passage in Sachen Leben, so wie sie auch in ethno­lo­gisch-ethno­gra­fi­schen Kontext immer wieder erzählt wurde: Menschen, die durch gezielten Kontakt mit Tieren eine neue Identität, eine neue Stufe ihres Mensch­seins erreichen. Damit wischt Krebitz vor allem Spon­ta­nasso­zia­tionen vom Tisch, die man beim Erst­kon­takt mit der Geschichte haben könnte, wie etwa die von Rotkäpp­chen und dem bösen Wolf.

Krebitz Wolf ist nicht böse, aber wild. Gleich­zeitig erzeugt die langsame Annähe­rung von Mensch und Tier bei Ania eine subkutane Wildheit, die sich mehr und mehr Raum bricht, zuerst emotional, dann auch körper­lich – eine Verwand­lung, die immer wieder verblüfft. Zum einen mag dass an der Echtheit des Materials liegen. Denn Krebitz hat tatsäch­lich mit einem ganzen Rudel unga­ri­scher Wölfe gear­beitet, denen sich ihre Haupt­dar­stel­lerin mit Hilfe eines Wolfs­trai­ners in einem drei­wöchigen Kennen­lern­pro­zess annähern lernen musste. Zum anderen sind da aber Krebitz immer wieder über­ra­schende Ideen, die diesem Kennen­lern­pro­zess eine poetische Tiefe und Wahrheit geben, die immer wieder atem­be­rau­bend ist: Sei es durch die Verdre­hung des klas­si­schen »Wildheits«-Attributs bezüglich Mann und Frau oder sei es durch eine großar­tige »Traum­szene« wie die von Anias Mens­trua­ti­ons­blut, dem der Wolf instinktiv folgt und das zu einer ebenso unbe­re­chen­baren wie furcht­ein­flößenden Symbiose führt. Erfri­schend dabei ist vor allem auch, dass all diese Sequenzen tatsäch­lich Neuland sind, sie weder wie schon eingangs erwähnt auf Märchen-Archen­typen rekur­rieren, noch etwas mit der femi­nis­ti­schen bzw. esote­ri­schen Wolf-Literatur gemein habe, die seit einigen Jahren populär ist oder auf reale Mensch-Wolf-Bezie­hungs­mo­delle Bezug nehmen wie das der Pianistin Hélène Grimaud.

Und dann ist da schließ­lich noch Halle an der Saale, die Stadt, die Krebitz sich für ihren Film ausge­sucht hat und die, man merkt es sofort, viel zu selten in deutschen Filmen zu sehen ist. Denn wie Krebitz die kontras­tie­renden alten und neuen Viertel der Stadt für das Alltags­por­trät ihrer Prot­ago­nistin benutzt, ist stimmig und aufregend zugleich und erinnert an die besten Momente von Christian Petzolds »Stadt­trans­for­ma­tionen«, etwa in Wolfsburg oder Yella. Und Halle, mit seinen spek­ta­ku­lären Brachen mensch­ge­machter Natur, ist dann auch so etwas wie der ideale Schluss­punkt eines Films, der mit Anias Lächeln Utopie und Dystopie glei­cher­maßen verein­nahmt.

Der Wolf in uns

Ein kurzer Moment nur, da trifft sich ihr Blick. Ihre Augen sehen einander an, weit aus der Distanz, doch die Blicke kommen sich nahe und es ist um sie beide geschehen. Ein Schlüs­sel­mo­ment, ein Blick in den Abgrund, wie in ein anderes Leben, in eine zuvor nie gekannte Inten­sität des Daseins. Wildheit.

Ein wildes Wesen war Ania viel­leicht schon immer. Nur sieht man ihr das nicht an. In der Arbeit scheint sie brav und angepasst, aber in ihr steckt ein Wolf. Zunächst merkt der Betrachter nur, dass anderes in ihr schlum­mert, wenn man die junge Frau bei Schießübungen mit einer schweren Pistole beob­achtet. Dann bricht das Wilde aus.

Die Begegnung im Park war Zufall: Doch von jetzt an muss Ania ihn unbedingt wieder­sehen, will ihn anlocken, einfangen, verzau­bern. Von jetzt an hat Ania, die Büro­an­ge­stellte und IT-Expertin, Mädchen für alles und die weibliche Variante eines Computer-Nerds, endlich einen Freund. Sie kümmert sich um ihn, bringt ihm seine Lieb­lings­speisen, und irgend­wann über­nachtet er bei ihr. Am Morgen danach: »Jetzt mach' ich uns Frühstück... Wie schlau Du bist... Guck mal, da ist ein Hühnerei. Kennst du doch bestimmt. Also ich esse Eier ohne Schale. Ich esse sie gerührt oder als Spiegelei.«

Bloß, dass dieser neue Freund von Anja, ein Wolf ist, ein wildes Tier, das sich in den Wäldern in der Nähe der Stadt an die Menschen gewöhnt hat, und von ihren Abfällen ernährt. Es geht also um Zoophilie, weniger vornehm ausge­drückt, um Sex mit einem Wolf.

Natürlich schwebt die Rotkäpp­chen-Geschichte zwischen den Bildern dieses Films. Dort ist zwar der Wolf bedroh­lich, hier fast Opfer, aber auch bei Rotkäpp­chen verkör­pert er das Andere, und über­schreitet die Grenze zum Menschen. Das Nach­denken über das Mensch-Tier-Verhältnis kennt zum einen das wilde Tier als Bedrohung, zum anderen als Opfer des Menschen. Hier ist die Heraus­for­de­rung eine dritte: Wie kann man zwischen zwei sehr unter­schied­li­chen Wesen vermit­teln, ohne die Eigenart der einen Seite der der anderen zu opfern? Selbst­ver­s­tänd­lich ist zumindest ein tieferer Sinn des Films die mensch­liche Perspek­tive: Ein Nach­denken über den Wolf in uns, über das Verhältnis zwischen dem Wilden und dem Zivi­li­sierten, die Zähmung des Anima­li­schen und die Entfal­tung des Mensch­li­chen.

Regis­seurin Nicolette Krebitz ist einer der wenigen Stars des deutschen Kinos, eine unbe­re­chen­bare Traumfrau des Films: Zu Krebitz' Unbe­re­chen­bar­keit gehört auch, dass sie neben ihrer Arbeit als Schau­spie­lerin noch vieles andere macht. Nicht zuletzt führt sie Regie: 2001 debü­tierte sie mit Jeans, in dem unter anderem Büchner-Preis­träger Rainald Goetz einen Gast­auf­tritt hat. Der Film ist aus recht­li­chen Gründen nicht auf DVD erhält­lich und daher aus der Erin­ne­rung des deutschen Kinos verschwunden. 2008 folgte Das Herz ist ein dunkler Wald, ein zerset­zendes Portrait des Bürger­tums, zugleich bereits ein Zwischen­schritt auf dem Weg, der jetzt zu Wild führt. Denn getragen von der Regie und den beiden Haupt­dar­stel­lern Lilith Stan­gen­berg und Georg Friedrich, mutet auch Krebitz neuer Film an, wie ein Clash zwischen Märchen und Gegenwart.

Nicht unter­schätzen darf man in diesem Film aber die Ober­flächen über der Tiefe. Krebitz zeigt eine anonyme Traban­ten­stadt, Wohnsilos der Vorstadt – gedreht wurde in Halle-Neustadt, dessen Tristesse und Billig­lohn­wirt­schaft, gele­gent­lich ange­spielt, aber nicht ausbuch­sta­biert wird. Die Kleidung ist ungla­mourös, die Farben pastellen und blass-entsät­tigt – wie die Büroräume, die Autos. All das lässt die Tierwelt um so pracht­voller erscheinen.

Krebitz Insze­nie­rung ist klar, aber offen. Getragen von großer Geis­tes­ge­gen­wart, mit der die Regis­seurin Spuren legt, und Asso­zia­ti­ons­räume absteckt, sich auch wilde atmo­s­phä­ri­sche Sprünge und Perspek­tiv­wechsel gestattet. Souverän balan­ciert Krebitz über dem Abgrund zwischen Thesen­kino, Auto­ren­film-Verschro­ben­heit, und zurück-zur-Natur-Kitsch.

Wie es Ania gelingt, das scheue wilde Wesen in ihre Wohnung zu locken ist ein großartig und schön insze­niertes filmi­sches Kleinod für sich: Eine »Lappjagd«. Zuerst ist der Wolf ein Gefan­gener, doch dann verschmelzen die Grenzen zwischen Gefan­genem und Wärterin. Und Anias Wohnung verwan­delt sich immer mehr in ein Wolfs­ge­hege. So wie er seine Scheu abwirft, tut auch sie das mit ihrer und entdeckt die Wölfin in sich. Nicht nur die Wände ihrer Wohnung reißt sie ein.

Diese gleich­be­rech­tigte Annährung ist nicht nur ein Tabubruch. Sie ist ein inten­sives sinn­li­ches wie intel­lek­tu­elles Expe­ri­ment. Sinnlich – denn es geht hier um Lecken, Tasten, Fühlen, Heulen, Schmatzen, um Wärme. Und ein intel­lek­tu­elles: Denn Nicolette Krebitz' hoch­span­nender Film fordert seine Zuschauer heraus: Er bleibt in mindes­tens einer Hinsicht rätsel­haft: Wie sehr ist das, was wir sehen, auch wörtlich gemeint, wie sehr soll es als Metapher stehen für anderes?

Krebitz' Film hat viele Bezug­s­ebenen: Es gibt auch die des Horror­kinos, in der Indi­vi­duen zu »Wolfs­men­schen« mutieren. Und eine letzte ist die der Utopie der Befreiung aus dem Korsett des Gesell­schaft­li­chen, die Eman­zi­pa­tion von der Kontrolle hin zur Freiheit.