Großbritannien 2015 · 119 min. · FSK: ab 16 Regie: Ben Wheatley Drehbuchvorlage: J.G. Ballard Drehbuch: Amy Jump Kamera: Laurie Rose Darsteller: Tom Hiddleston, Jeremy Irons, Sienna Miller, Luke Evans, Elisabeth Moss u.a. |
||
Groteske Schnittmenge aus Uhrwerk Orange und Brazil |
Nur den wenigsten Künstlern ist jemals die große Ehre der Adjektivierung ihrer eigenen Namens widerfahren. Einer von ihnen ist der britische Schriftsteller J.G. Ballard. Das im Englischen gebräuchliche Adjektiv »ballardian« (dt. »ballardesk«) wird laut Collins English Dictionary wie folgt definiert: »Resembling or suggestive of the conditions described in J. G. Ballard’s novels and stories, especially dystopian modernity, bleak man-made landscapes and the psychological effects of technological, social or environmental developments«. Wer jemals einen von Ballards Büchern – ausgenommen sein semiautobiografisches von Steven Spielberg verfilmtes Buch über den Zweiten Weltkrieg in Shanghai, – wer also jemals einen von Ballards eigenartigen, bizzaren, sprachlich wie inhaltlich provokativen, auch Genre-Grenzen überschreitende Science Fiction-Romane gelesen hat, wird sofort wissen, was gemeint ist. Dabei muss man nicht einmal an seinen kontroversen, von David Cronenberg adaptierten, die Grenzen der Sexualität auslotenden Crash denken, nein, es reicht schon, sich einen Roman wie Crystal World (1966) vor Augen zu führen, in dem unsere technoide Zivilisation langsam in einen kristallinen Zustand überführt wird – eine dystopische Bestandsaufnahme, die nicht nur provokativ poetisch, sondern auch zutiefst doppeldeutig ist. Ballards Bücher üben dabei einen ambivalenten Sog aus, der am ehesten mit dem Gefühl zu vergleichen ist, das einen auf hohen Häusern beim Blick in den Abgrund überkommen kann: ein gefährlichen Ziehen nach unten, in einen süßen Suizid, der gerade deshalb so süß ist, weil die faszinierende Höhe einen nicht nur hinabzieht, sondern gleichzeitig auch »beflügelt«.
Auch Ballards 1975 erschienener Roman »High Rise« verhandelt den Preis, den wir für unsere techno-humanoiden Gratwanderungen zahlen und variiert dabei Ballards Kernthema aus Crash mit Themen seiner dystopischsten Bücher. In dieser Melange aus sich transformiernder menschlicher Psychologie und Materie liest sich »High-Rise« deshalb auch heute noch brandaktuell und gilt in der SF neben anderen Werken von Ballard als Vorläufer des Cyberpunks eines Sterling und Gibson. Wohl auch deshalb lag es auf der Hand, diesen lange als unverfilmbar geltenden Stoff nun endlich in einen Film zu überführen.
Die größte Schwierigkeit für Regisseur Ben Wheatley und seine Dehbuchautorin Amy Jump scheint dabei vor allem die Umsetzung von Ballards Grundannahme zu sein, dass nichts eindeutig ist. Denn in der ballardesken Vision vom Zusammenleben und der Degeneration einer Gruppe von Menschen in einem Hochhauskomplex der nahen Zukunft kommt einem kein Protagonist wirklich nah, weder in seiner Bösartigkeit, noch in seinen vermeintlichen Versuchen, etwas Gutes zu tun. Wheatly versucht diese Annahme mit überspitzten Dialogen seines immer wieder mit britischem Understatement überreagierenden Personals (u.a. Tom Hiddleston und Jeremy Irons) zu erfüllen, gerät dabei aber zunehmend in eine groteske filmische – und moralische – Schnittmenge aus Stanley Kubricks Uhrwerk Orange und Terry Gilliams Brazil. Eine Schnittmenge, die zwar reich an ästhetischen Accessoires (der 1970er) ist und mit dem von Portisheads ABBA Cover von »S.O.S« eine elegante Brücke in die Gegenwart schlägt, aber dennoch nicht überzeugt.
Denn zu sehr sind Wheatleys Charaktere lose Hülsen, deren Handeln nicht einmal dann groß aufregt, wenn sie zu gewalttätigen Exzessen neigen. Dieses gravierende Missverständnis von Ballards Grundidee, dessen Charaktere immer Fleisch und Blut haben, denen erst ihr verstörtes Versinken in unsere alles andere als eindeutige Gegenwart und Zukunft ihren moralischen Impetus nimmt, dieses Missverstehen führt weit weg von der Faszination, die Ballards Romane auch heute noch ausstrahlen. Immerhin erinnert High-Rise an Ballard und seine düsteren Visionen, gibt es zwischen langatmigen, repetetiven Design- und architekturlastigen Einstellungen dann und wann auch faszinierende Momente prekärer Amoralität, gelingen Wheatley Symbiosen aus moderner Betonarchitektur und archetypischen menschlichem Wahnsinn, Momente, die allerdings – komprimiert und auf mehrere Leinwände gebrochen – besser in einer Videoinstallation aufgehoben wären.