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magazin

"Nochnicht", 120 x 96 cm, 1999

besprechung
nochnicht - oder am ursprung unseres ichs
am ursprung der donau

eine ausstellung in der rathausgalerie
von 14.4.2000 bis 7.05.2000

Hartmut Riederer ist Literat.
Mitte der achtziger Jahre begann er mit der Arbeit seines groß angelegten Donau-Romans, in dem er seine Heimatverbundenheit ("Ich wurde 1942 im Bayerischen Wald geboren, wo ich die sieben ersten Jahre meines Lebens blieb. Was hernach kam ist unerheblich..." ) und seine frühen Kindheitserinnerungen zu verarbeiten und zu verbinden sucht. So entstand die Figur des NochNicht - ein Embryo der nicht geboren werden möchte und die äußere Welt in der Geborgenheit des Mutterleibes passiv erhorcht und erschaut. "Meine Mutter ging schwanger mit mir an die Donau" - in diesem Strom, welchen er mit den Sprach- und Bewußtseinsstrom gleichsetzt, hört und sieht NochNicht sein zukünftiges Leben. Aber auch die Spuren längst vergangener Ereignisse kann er im Fluß erkennen: Wollust, Habgier, Kriege, Geniestreiche.
Von vielen interessanten Geschichten erfährt der Besucher der Ausstellung, wenn er sich den Texten im rechten Nebensaal der Rathausgalerie bzw. in der kleinen Begleitbroschüre widmet - er sollte sich die Zeit nehmen, denn die literarischen Aussagen des Künstlers sind der Schlüssel zu seinem bildnerischen Schaffen.

   
ein neues
schaffensgebiet
Wie das Schauen aus dem Horchen entsprang, 1997

Hartmut Riederer ist Maler.
Bei der sprachlichen Umsetzung seiner frühkindlichen, d.h. vorsprachlichen Eindrücke, die in seinem Unterbewußtsein verborgen sind, wurde dem Künstler klar, daß sein Bestreben eventuell besser in der Malerei zu verwirklichen ist. "Ich träume oft von der Donau" so seine Aussage. Doch sind Träume nicht in erster Linie Bilder - warum diese nicht in die Realität umsetzen?
So wurde NochNicht auch auf der Leinwand lebendig. Laut Riederer tauchen die Bilder des Unterbewußtseins im direkten Schaffensprozeß aus dem Malgrund auf :

Beim Malen:
Ich tauchte in die eigenen Tiefen
Hinunter und schaute
Wie aus dem Horchen das Schauen entsprang
Für Gott gehen wir rückwärts;
denn jeder Anfang ist ein zweiter Moment.
Ein Ozean von Schlaf
große Ohren horchen im Wind -
und draußen vor der Horchwand
rauscht der Mutterstrom Donau
Gedanken werden Flügel
wenn die Stimme der Sprache
im Sinn des Denkens sich spiegelt.
Und drüben am Ufer rufen die Bilder
Dich in den Ursprung zurück.

Es ist spannend, Riederers Gedanken und Geschichten über seinen Protagonisten (d.h. über sich selbst) in den großformatigen Kohle- und Kreidezeichnungen zu suchen und wiederzufinden. NochNicht ist meist mit einem vergrößerten Ohr dargestellt, denn das Hören kommt früher als das Schauen. Unvergessene Kindheitserlebnisse visualisiert der Künstler vor allem in den Bildern "Im Schwarzwald"- 2000 (mit der Märchenfigur des Fridolins), "Ach hätt' ich Dich doch bloß damals an' Zirkus verkauft" - 1997 (ein erziehungstechnisch eingesetzter Ausspruch seiner Mutter) und "Im Ludwigswald" - 1998.
Besonders beeindruckend jedoch sind drei Werke, die sich mit dem Holocaust beschäftigen ("Dort drüben" - 2000; "Und in den Lüften ein Grab" - 1996; "Die Toten fressen kein deutsches Brot"- 1996). NochNicht blickt auf Krematorien, deren Rauchwolken den Himmel verdüstern und in deren Inneren die Schatten der zum Tode verurteilten Opfer zu sehen sind. In Erwartung ihres Todes stehen weitere Opfer nackt vor Soldaten, auf der Donau treiben Särge. Harmlos erscheinende Züge bringen neues "Menschenmaterial". Gerade hier ist Riederers expressiver, skizzierender Stil und der Verzicht auf Farbe besonders passend.
Daß der Künstler jedoch auch als ein Meister der Farbe gelten kann, beweist das etwas unglücklich plazierte Bild "Im Osten" (1997) - ein Selbstbildnis in strahlendem Blau.

   
jeder begann
als nochnicht

NochNicht steht nicht nur für den Künstler - sind wir nicht alle als ein NochNicht ins Leben gerufen worden, und beeinflussen nicht gerade unsere frühesten Erlebnisse - ob bewußt oder unbewußt - unser ganzes Leben? So finden wir uns selbst wieder in den Geschichten und Bildern des Künstlers.

Hartmut Riederer ist Literat und Maler. Er ist aber auch Schauspieler - was wäre, wenn wir NochNicht im Film oder auf der Bühne wiederbegegnen würden?

(Die Broschüre zur Ausstellung kostet DM 2,--)

angelika steer





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