08.05.2008

»Darf man indische Elefanten nach Afrika setzen?«

Valentina Llazicani
Preisgekrönt: Draußen bleiben auf dem DOK-Fest 2008

Ein Gespräch mit Alexander Riedel über seinen neuen Film Draußen bleiben, über Inszenierung im Dokumentarfilm und seine Moral als Filmemacher

Der Münchner Regisseur Alexander Riedel zeigt jetzt nach Nacht­schicht, einem Film über die letzten Tage der Arbeiter im SZ-Druckhaus, mit Draußen bleiben bereits einen zweiten Film über den Alltag normaler Menschen und die Schat­ten­seiten im nach außen glamourösen München gedreht. Draußen bleiben, eine Produk­tion des »Kleinen Fern­seh­spiel« des ZDF, für den Riedel soeben den FFF-Förder­preis beim Münchner Dok-Festival erhielt, erzählt von der Freund­schaft zweier Mädchen in einem Flücht­lings­heim im Münchner Norden, ihrem Alltag, und zeigt unge­kannte Seiten der baye­ri­schen Landes­haupt­stadt.

Mit dem Regisseur sprach Rüdiger Suchsland.

artechock: Ich fang' mal an wie bei Robert Lemke: »Gehe ich recht in der Annahme…«, dass Deine Filme immer am Ende ganz anders aussehen, als Du es zunächst erwartet hattest, dass Du ein Filme­ma­cher bist, der eher tastend vorgeht, ohne zu Beginn absolute Gewiss­heiten zu haben? Zumindest macht Draußen bleiben auf mich diesen Eindruck. Man kann diesen Film auf sehr unter­schied­liche Art beschreiben. Man kann natürlich sagen: Das ist ein Film über Migran­ten­schick­sale, über Flücht­lings­schick­sale, man kann sagen, das ist ein Fußball­film, ein Frau­en­f­uß­ball­film, man kann sagen, das ist ein Mädchen­film, man kann sagen, das ist ein München-Film, man kann sagen, dass ist ein Film über das soge­nannte Prekariat oder bestimmte Formen des soge­nannten Preka­riats – und solche Beschrei­bungen. Das alles ist da drin.
Der Film hat einer­seits eine ganz klare Linie, es ist keines­falls als Vorwurf der Unklar­heit gemeint, jetzt viele Facetten zu nennen, aber gleich­zeitig macht es auch den Eindruck, dass da am Anfang die Richtung noch nicht völlig klar war. Sondern dass Du sozusagen die Wirk­lich­keit die Richtung bestimmen lässt…

Riedel: Bedingt, ja. Ich würde sagen: Das ist ein Freund­schafts­film. Der Film erzählt die Geschichte einer Freund­schaft zweier Mädchen. Und all das, was Du genannt hast, spielt da hinein und gibt auch den Druck auf diese Freund­schaft, bestimmt vor allen Dingen den Druck auf die Haupt­figur.
Du hast insofern recht, als das sich bei dem Draußen bleiben sehr viel doch während der Dreh­ar­beiten ergeben hat. Gerade die Geschichte dieser Freund­schaft hat sich an den ersten Drehtagen unglaub­lich in den Vorder­grund geschoben – was ich aber begrüßt und aufge­nommen habe. Ich habe einfach gemerkt, dass die Zusam­men­ar­beit mit der Valentina und der Suli unglaub­lich gut funk­tio­niert. Ich hatte ein Drei­vier­tel­jahr im Vorfeld recher­chiert, und hatte die immer wieder getroffen, hatte das Umfeld, die Familie, die Freunde, die Schule usw. abge­klap­pert, und spürte, dass da bei der Valentina ein unglaub­li­ches Potential da ist. Und ich wollte das auch in den Film hinein bringen.
Aber das die Zusam­men­ar­beit dann so gut funk­tio­niert, war mir vorher nicht klar. Das ist aber dann der Fall gewesen, und insofern ist es so, dass die Valentina die unan­ge­foch­tene Haupt­figur dieses Films geworden ist, und der Film jetzt die Freund­schaft zwischen ihr und ihrer besten Freundin erzählt.

artechock: Wie hat das Ganze ange­fangen? Es gab eine Foto­aus­stel­lung dazu in München...

Riedel: Ja, es gab eine sehr lange Vorbe­rei­tungs­zeit. Ich arbeite im Vorfeld meiner Filme immer sehr stark mit der Foto­ka­mera. Hier habe ich viele viele Bilder gesammelt. Die lege ich mir dann zuhause zu einer Art Fotoroman. Ich habe also eine ästhe­ti­sche Annähe­rung an das Thema mit dieser Foto­grafie. Aber auch eine inhalt­liche Heran­ge­hens­weise: Es lassen sich so visuelle Verbin­dungen leicht erkennen, die ich später verwende und umsetzen kann. Ich bin dann kurz vor der Drehzeit darauf ange­spro­chen worden, man könne ja mit den Bilder auch noch mehr machen. So kam es parallel zu der Ausstel­lung.
Es war also nicht geplant. Es gab aber eine Unmenge von Bildern, und ich bin dann auch speziell noch losge­zogen, und habe Portraits dazu gemacht und die Ausstel­lung konzi­piert. Aber diese doku­men­ta­ri­sche Foto­grafie ist die Grundlage gewesen für diesen Film. Und das ist auch meine Heran­ge­hens­weise: Mit der Foto­ka­mera Orte zu suchen, Konstel­la­tionen zu bauen. Insofern gibt es bei mir den Wunsch nach einer genauen Vorbe­rei­tung. Das wird bei mir auch von Film zu Film stärker. Ich möchte jetzt bei meinem nächsten Film sehr viel mehr im Vorfeld bestimmen und sehr viel mehr defi­nieren, und weniger die Spon­ta­n­eität zum Zuge kommen lassen.
Aber diese Spon­ta­n­eität, die jetzt in diesem Film drin ist, die gehört auch dazu. Das habe ich bewusst aufge­nommen und das gibt dem Film ja auch den Drive.

artechock: Wie lang hat die Vorbe­rei­tung gedauert

Riedel: Ein gutes halbes Jahr habe ich immer wieder alle Prot­ago­nisten getroffen, bevor die Kamera und jemand vom Team hinzukam.

artechock: In der Zeit hast Du die Fotos gemacht?

Riedel: Genau. aber das geht auch weiter. Ich foto­gra­fiere bis heute.

artechock: Und was stand am Anfang? Was war die Idee über die Du diese Prot­ago­nisten gefunden hast?

Riedel: Ganz am Anfang stand der Wunsch, einen Film mit Jugend­li­chen zu machen – nach Nacht­schicht meinem Film über die letzten Tage der Arbeiter im SZ-Druckhaus. Der Wunsch, mit Jugend­li­chen zu arbeiten.
Und mich hat das Thema der Verwei­ge­rung inter­es­siert. Was heißt Verwei­ge­rung? Dieses Thema hat sich unglaub­lich in den Vorder­grund gedrängt. Ich habe gesell­schaft­liche Verwei­ge­rung jeder Art reflek­tiert. Damit bin ich auch auf Schul-Verwei­ge­rung gekommen, habe in Schulen recher­chiert, und über diese Verwei­ge­rung kam ich letztlich auf diesen Mädchen­fuß­ball-Bolzplatz, wo ich die Valentina kennen­ge­lernt habe. Da handelt es sich um so ein Projekt, mit dem man Jugend­liche von der Straße holt, dass die gegen­ein­ander Fußball spielen, und nicht blöd abhängen, und sich dann irgend­wann irgend­welche Dinge antun.
Da habe ich im Grunde genommen alle Jugend­li­chen, die jetzt im Film sind, kennen­ge­lernt.

artechock: Das klingt tatsäch­lich, als hätte der Zufall Regie geführt, in dem Sinn, dass Du eher zufällig auf dieses Projekt gekommen bist, und dann hat sich heraus­ge­stellt, dass die Valentina gut ist, und dann hattest Du quasi Dein Filmthema

Riedel: Naja, ganz so ist es nicht. Ich habe schon mit einem starken Egoismus nach meinem Thema Verwei­ge­rung gesucht. Und das habe ich dann in diesem Mädchen gefunden. Es ist mir sehr schnell sehr klar geworden, dass ich mit diesen Mädchen das Thema auch erzählen kann. Die lebt seit über 14 Jahren unter einem unglaub­li­chen Druck, hat immer noch keine Aufent­halts­ge­neh­mi­gung in Deutsch­land, und Verwei­ge­rung wird hier sehr viel­schichtig: Die Gesell­schaft verwei­gert sich gegenüber diesen Mädchen,
ihre eigene Verwei­ge­rung: Sie geht kaum in die Schule, ist fast gar nicht in der Lage, zuhause Haus­auf­gaben zu machen, und all diese Varianten. Und dazu kommt diese unglaub­liche Kraft, die in diesem Mädchen ist, und diese fast anar­chis­ti­sche Lebens­weise. Das habe ich sehr schnell verstanden, und fand ich unglaub­lich spannend, und so ist sie zur Haupt­figur im Film geworden.
Und so bin ich ein drei­viertel Jahr später wieder zu meinen ersten Gedanken zurück­ge­kommen. Auch wenn im Treatment das breiter recher­chiert und breiter angelegt war.
Da stand aller­dings auch schon drin: Das ist kein Fußball­film.
Man kann das Filme­ma­chen in mehrere Phasen einteilen. Es wäre falsch, sich immer wieder in der Drehphase auf dieses Treatment zu beziehen. Aber der Film entspricht im Ergebnis ganz meiner ursprüng­li­chen Intention.

artechock: Würdest Du sagen, dass das die ausführ­liche Vorbe­rei­tung ist, die sich da auszahlt? Oder ist es das genaue Nach­denken, das dazu führt, dass man sich aus der Wirk­lich­keit auch immer das heraus­holt, was zu der Grundidee passt?
Die Frage, die dahinter steht, ist ja die, wie man mit Wirk­lich­keit umgeht. Als Regisseur eines Films, der zumindest Doku­men­tar­film heißt. Wir haben uns in den letzten Jahren immer wieder darüber unter­halten, was eigent­lich der wesent­liche Unter­schied eines Doku­men­tar­films zum Spielfilm ist. Weil ja auch Doku­men­tar­filme gestalten.
Nach wie vor ist das für mich eine der inter­es­san­testen Fragen überhaupt: Welche Vorstel­lung von Wirk­lich­keit hat man als Regisseur? Als Spiel­film­re­gis­seur erfindet man eine fiktio­nale Wirk­lich­keit – die ist dann unter Umständen über­prüfbar, muss es aber nicht sein. Der Betrachter kalku­liert Ausbrüche und Umge­stal­tungen, Fiktion, auto­ma­tisch mit ein. Als Doku­men­tar­film­re­gis­seur hat man erstmal nach außen hin den Anspruch, etwas zu »zeigen, was es wirklich gibt«. »Ich doku­men­tiere etwas.« Es ist mehr zeigen, als herstellen.
Und gleich­zeitig geht man an die Wirk­lich­keit ja doch so heran, dass man nicht nur ein Seis­mo­graph ist, mit dem die Wirk­lich­keit etwas macht, und man ist ganz passiv, und lässt die Wirk­lich­keit dann den Film schreiben. Es gibt ja solche Konzepte: »Cinema Stylo«, »Cinema Verité« und ähnliche Ideen, die ja aus der Autoren­film­tra­di­tion kommen, die sind ja so gedacht.
Aber das ist ja nicht Deine Auffas­sung…

Riedel: Ne, ne! Draußen bleiben ist ein insze­nierter Doku­men­tar­film. Das würde ich sofort unter­strei­chen. Und dieses Zeigen, von dem Du gespro­chen hast, das findet nur in der Vorbe­rei­tung statt. Für mich selbst, zum Script­führen und für die Kamera. Dann ist es vorbei, dann wird gebaut und gesetzt und verdichtet – dieses doku­men­ta­ri­sche Verdichten ist mir sehr sehr wichtig. Es wird auch in meinen nächsten Filmen immer mehr in diese Richtung gehen. Das spüre ich richtig. Ich möchte in meinen nächsten Filmen immer mehr insze­nieren und verdichten.

Um noch mal auf die Orte zurück­zu­kommen: Ich hatte kurz vor Dreh­be­ginn nach dieser langen Foto­re­cherche Tage mit dem Kame­ra­mann, an denen wir die Motive gesucht haben. Es gab also eine richtige Motiv­suche, so, wie man es auch beim Spielfilm macht. Diese Motive müssen auch nicht unbedingt eine hundert­pro­zen­tige Deckung mit dem Alltag haben, es müssen nicht die Orte sein, wo die Jugend­li­chen, die dann im Film später in diesen Motiven agieren, sich sonst wirklich treffen, wo sie wirklich wohnen und leben.
Ich kann Dir ein Beispiel nennen: Da gibt es im ersten Akt des Films einen Streit beim Fußball­spielen. Da ist das Motiv von mir gewählt worden. An dem Bolzplatz haben die Mädchen noch nie gespielt, und auch die Mann­schaft gab es in dieser Konstel­la­tion nicht. Ich habe also den Ort für die Szene gesucht. Der ist sehr entspre­chend dem, was ich erzählen möchte, aber er ist in Milberts­hofen.
Spielen tun sie norma­ler­weise ganz woanders, in Allach oder derglei­chen. Das heißt, wir haben uns dort verab­redet. Ich habe die Mann­schaft so zusam­men­ge­führt, wie ich es richtig fand. Also die Gruppen zusam­men­ge­führt. Insofern kann man von einer Insze­nie­rung sprechen im Vorfeld.
Ich habe die Kadrage mit dem Kame­ra­mann fest­ge­legt. Dass wir auf Super 16 drehen, dann ranspringen, dann nur noch mit der Hand­ka­mera und das beob­achten, und erst dann entsteht dieser spontane und doku­men­ta­ri­sche Moment.
Was passiert? Natürlich haben wir den Streit nicht insze­niert, aber wir haben alles drumherum insze­niert, und dann geschaut.

artechock: Ihr wusstet ja auch nicht, dass ein Streit kommen würde?

Riedel: Nein. Wir wussten, dass es eine Spannung zwischen diesen zwei Gruppen gibt. Ich hatte, wenn Du so möchtest während der Drehzeit andauernd einen unglaub­li­chen Input. weil die Mädchen dauernd die neuesten Geschichten erzählt haben, hatte ich immer wieder den neuesten Update, was gerade ansteht. Das konnte ich nutzen, und konnte es ein, zwei Tage später einsetzen.

artechock: Wie würdest Du denn Deine Moral als Filme­ma­cher beschreiben?

Riedel: In keiner Weise ange­kratzt. Das Insze­nieren im Doku­men­tar­film ist absolut zulässig.

artechock: Ja. Naja. Man könnte jetzt sagen: Erstens weiß das der Zuschauer nicht, man denkt, das ist deren normale Umgebung. Und zweitens finde ich, dass man Spiel­filmen anmerkt, wenn sie nicht da gedreht werden, wo sie vorgeben zu spielen. Ich glaube, dass es zur Moral des Spiel­films gehört, und zwar zur künst­le­ri­schen Moral, also dass es sich auf das Kunstwerk auswirkt. Es geht mir nicht darum, sich gegenüber der Realität moralisch zu verhalten, sondern darum, einen guten Film zu machen. Also: was macht 'nen guten Film? Das ist die Moral. Und da würde ich immer denken, dass die Menschen sich in fremder Umgebung anders bewegen. Man könnte ja sagen: erst recht, wenn Du mit Laien arbeitest. Du holst sie aus ihrer natür­li­chen Umgebung. Du setzt indische Eleph­anten nach Afrika. Geht das?

Riedel: Ja, aber so ist es ja nicht. Erstens agieren sie immer nur in ihrer eigenen Rolle. Sie sind keine Laien, die etwas anderes spielen müssen.
Und dann gibt es ein Phänomen dieser Jugend: Es gibt keine Verortung in München. Die Jugend­li­chen leben eben nicht alle irgendwo im Norden am Stadtrand, sondern sie sind den ganzen Tag in der U-Bahn in allen Stadt­teilen unterwegs und zuhause. Ihre Schule liegt am Haupt­bahnhof, die besten Freunde am Hasen­bergl, eine ganze Clique aber in Milberts­hofen. Die Freund­schaften gehen über die Stadt­teile hinweg.