21.06.2018
Cinema Moralia – Folge 178

Frischer Wind aus dem Süden

Familienfest
Morgen wird es offiziell…

Doppelspitze in Berlin: Carlo Chatrian wird der neue künstlerische Leiter der Berlinale – der Beginn eines überfälligen Umbruchs – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 178. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Bei einer solch bedeu­tenden Perso­nalsch­ei­dung braucht man Sachkunde. Wenn man die nicht aus eigener Anschauung hat, muss man sie sich holen. Und man braucht Empathie, man sollte ein Gefühl haben für die Häuser, ihre Tradition und die Stimmung in deren Mitar­bei­ter­schaft, wenn man sich auf die Suche nach einer neuen Leitung macht. An alledem hat es in diesem Fall gefehlt. Deshalb ist es schief­ge­gangen.«
Monika Grütters, Kultur­staats­mi­nis­terin, am 19.04.18 über die Inten­dan­ten­be­set­zung an der Berliner Volks­bühne

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Plötzlich ging alles ganz schnell. Nach einer über ein Jahr andau­ernden Hänge­partie, mit diversen verstri­chenen offi­zi­ellen wie inof­fi­zi­ellen Fristen, und nach Gesprächen mit über 40 Kandi­daten lud das Kultur­mi­nis­te­rium (BKM) am Dienstag Mittag zu einer Pres­se­kon­fe­renz: Am kommenden Freitag werde bekannt­ge­geben, wer im nächsten Frühjahr die Nachfolge des schei­denden, im 18. Jahr amtie­renden Berlinale-Chefs Dieter Kosslick antreten wird. Doch bereits am gleichen Abend meldete die Berliner »BZ« einen Namen, und im Minu­ten­takt zog die Konkur­renz nach, bald auch die inter­na­tio­nale Fach­presse. An diesem Mittwoch bestä­tigten es dann auf Nachfrage jene »infor­mierten Kreise«, die sich nicht offiziell zitieren lassen, auf deren Auskunft aber Verlass ist: Der 46-jährige Italiener Carlo Chatrian, seit 2012 Leiter der Film­fest­spiele von Locarno, wird der neue künst­le­ri­sche Leiter der Berlinale. Chatrian wird damit der wich­ti­gere Teil einer Doppel­spitze, auf die die viel­fäl­tigen Aufgaben Dieter Kosslicks in Zukunft aufge­teilt werden. Den kauf­män­ni­schen Teil der Direktion soll eine Frau über­nehmen, deren Name am Freitag bekannt­ge­geben wird. Dem Vernehmen nach handelt es sich um niemanden, deren Name in den letzten Monaten gehandelt wurde, sondern um »eine Über­ra­schung«.

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Die Entschei­dung für eine Doppel­spitze ist über­zeu­gend: Die Zeiten der großen Zampanos und ihrer One-Man-Shows à la Kosslick sind schon lange vorbei – kein großes A-Film­fes­tival außer Berlin wird heute von nur einer Person geführt – schon weil kein Mensch gleich­zeitig einen derart großen, weit­ver­zweigten Apparat wie die Berlinale kontrol­lieren, gleich­zeitig über 1000 Filme sichten und überdies noch Kontakte zu den Film­szenen der ganzen Welt pflegen kann.
Eine Auftei­lung in die kura­to­ri­sche Programm-Verant­wor­tung und in die kauf­män­ni­sche Geschäfts­füh­rung ist daher einleuch­tend.

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Auch die Entschei­dung für die Person Chatrian ist spannend und gut. Mit dem Italiener hat nun auch die Berlinale endlich das, was alle anderen großen europäi­schen Festivals schon lange haben – einen echten Cine­philen an der Spitze, einen Direktor, der als Film­wis­sen­schaftler ausge­bildet wurde, und der als Autor und Film­his­to­riker gear­beitet hat.
Unter den großen Festivals der Welt ist Locarno der Berlinale am ähnlichsten. Mit 300 Filmen gibt es auch hier ein bisschen zu viele Filme und Sektionen – unab­hängig davon, dass eine Verschlan­kung dringend wünschens­wert ist, hat Chatrian schon bewiesen, dass er den Spagat eines solchen Riesen­fes­ti­vals zwischen zarter Filmkunst und grobem Main­stream spielend bewältigt. Denn die »Piazza Grande« von Locarno, das größte Frei­luft­kino Europas, ist mit ihren bis zu 8.000 Sitz­plätzen viermal so groß wie das größte Berlinale-Kino. Solch ein Ort will erstmal gefüllt werden.
Mit Locarno hat Berlin schon früher gute Erfah­rungen gemacht: Der beste und erfolg­reichste Direktor der Berlinale-Geschichte, der Schweizer Moritz de Hadeln (Leiter von 1980-2001) war zuvor ebenfalls Direktor von Locarno.

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Nun ist Berlin bekannt­lich ein sehr spezi­elles, schwie­riges Pflaster, und gerade kultur­po­li­tisch vermintes Terrain – man denke nur an die jüngsten Pleiten um Volks­bühnen-Chef Chris Dercon, die diversen Probleme bei der inhalt­li­chen Gestal­tung des sünd­teuren Humboldt­forum und die schwie­rige Nachfolge der Film­schule DFFB.
Doch auch davor dürfte dem aus dem nord­ita­lie­ni­schen Turin stam­menden Chatrian nicht bange werden. »Wer mit der Tessiner Tourismus-Mafia zurecht­kommt«, so ein lang­jäh­riger Beob­achter, »wird auch im Berliner Kulturs­umpf nicht unter­gehen.«

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Im Gegenteil könnte es für Chatrian zum Vorteil werden, dass er von außen kommt. Denn in der deutschen Filmszene hat er keine Feinde, aber auch keine falschen Freunde, denen er irgend­etwas schuldig ist, oder sich verpflichtet fühlen muss. Das gleiche gilt auch für die Berlinale selbst, wo die unter Kosslick knapp zwei Jahr­zehnte lang fröhlich erstarrten Struk­turen dringend frischen Wind brauchen, und auch Chatrian nicht darum herum­kommen wird, unbequeme Entschei­dungen zu treffen – sprich erstarrte Struk­turen umzu­krem­peln, lieb­ge­wor­dene Schre­ber­gärt­chen einzu­ebnen und Personen auszu­tau­schen.
Am schwie­rigsten dürfte es für Chatrian werden, die provin­zi­elle, notorisch frem­den­skep­ti­sche und hoch­ver­filzte Berliner Medi­en­land­schaft auf seine Seite zu bringen. Viele Haupt­stadt­blätter sind Kosslick seit Jahren in inniger Medi­en­part­ner­schaft verbunden, und tun sich schwer mit einer unab­hän­gigen – und das heißt manchmal auch kriti­schen – Bericht­erstat­tung über die Berlinale. Alles was anders sein wird, als unter dem geliebten Show-Man mit dem Roten Schal dürfte dort erstmal miss­trau­isch beäugt werden.
Um so mehr darf man Chatrian eine faire Chance wünschen.

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Dass er sie erhält, das ist aller­dings auch dringend nötig. Es wäre viel zu einfach, würde man glauben, die Probleme der Berlinale wären nur Perso­nal­fragen. Ganz im Gegenteil müssen sich bei der Berlinale die Struktur ändern, die Art der Program­mie­rung, die Kriterien der Film­aus­wahl, die ganze Haltung und Auffas­sung, die das Festival von sich selber hat, wie es wahr­ge­nommen werden will. Zusam­men­ge­fasst: Die Berlinale braucht mehr Schärfe. Mehr Kontur. Mehr Mut, sich von anderen Festivals, A-Festivals zu unter­scheiden – aber zugleich mehr Mut, mit ihnen in Wett­be­werb zu treten. Kosslicks Lieb­lings­wort »Publi­kums­fes­tival« ist längst zur Floskel geworden, mit der jede Frage vermeint­lich beant­wortet wird.
Dazu hat man an dieser Stelle schon vieles lesen können und wird das auch in Zukunft tun.

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Aber der Satz, der gar nicht so selten an gewissen Berlinern Film­stamm­ti­schen fällt – »bei der Berlinale müssen Köpfe rollen« – der stimmt irgendwie eben auch. Man muss solche martia­li­schen Worte nicht mögen, aber klar ist: Sach­fragen sind von Perso­nal­fragen nicht eindeutig zu trennen. Der Berlinale-Fisch stinkt zwar vom Kopf her, aber Fäulnis ist an vielen Stellen erkennbar. Denn zum Regiment Kosslicks gehören die Spuren, die er in den Köpfen seiner Mitar­beiter und der Öffent­lich­keit hinter­lässt – eine grund­sätz­liche Praxis, mit Filmen und Filme­ma­chern und Gästen und Medi­en­ver­tre­tern und nicht zuletzt mit dem Publikum umzugehen, die ungut ist. Die keinen Spaß macht. Die nicht sympa­thisch ist.

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Inter­es­sant ist es aller­dings gerade zu beob­achten, dass jenes Köpfe­rollen in vielen Fällen offenbar gar nicht nötig sein wird, da sich die betref­fenden Personen (um mal im Bild zu bleiben) im Augen­blick schon selbst entleiben. Über den Ausstieg des Forums­lei­ters Christoph Terhechte hatten wir bereits berichtet. Im kommenden Jahr wird das Forum von einer Drei­er­spitze geleitet, die viel­ver­spre­chend besetzt ist: Der Arsenal-Vorstand, nament­lich Stefanie Schulte Strathaus (Leiterin des Forum Expanded), Milena Gregor und Birgit Kohler, die schon seit Jahr­zehnten auch im Forum mitar­beiten, über­nehmen ab dem 1. Juli die Leitungs­auf­gaben für das Forum 2019. Warum sollte diese Konstel­la­tion nicht auch über das kommende Jahr hinaus Bestand haben?

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Dies schreibe ich im Wissen, dass eine andere viel­ver­spre­chende Drei­er­kom­bi­na­tion bereits wieder zerbro­chen ist: Im Panorama wurde im Vorjahr ebenfalls ein Trio zum Nach­folger des ebenfalls auf eigenen Wunsch zurück­ge­tre­tenen lang­jäh­rigen Leiters Wieland Speck benannt: Paz Lázaro als Leiterin, der frühere Assistent von Speck, Michael Stütz, und der ehemalige Programm­be­rater Andreas Struck wurden neben Lázaro als Kuratoren benannt. Mit dieser auch struk­tu­rellen Erneue­rung ist es nach einem Jahr offenbar bereits wieder vorbei – aus Berlinale-Kreisen war jeden­falls zu hören, das Trio habe sich zerstritten und Lázaro sei jetzt alleinige Leiterin. Wie gewohnt war bei der Berlinale dazu keine offi­zi­elle Stel­lung­nahme zu bekommen.
Gerade auf Lázaros Zukunft bei der Berlinale darf man gespannt sein. Sie kam mit Kosslicks Amts­an­tritt zum Panorama, und war über zehn Jahre als Programm-Managerin der Sektion in der wich­tigsten Schalt­stelle, aber auch gut gedeckt im Hinter­grund. Das wird nunmehr nicht mehr möglich sein, was für die sehr zurück­hal­tend, geradezu öffent­lich­keits­scheu auftre­tende Lázaro fraglos eine große Umstel­lung bedeuten wird.

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Entschei­dend für die kommende Führung der Berlinale wird aber etwas anderes: Wenn am Freitag auch eine kauf­män­ni­sche Direk­torin berufen wird, haben wir erstmal zwei Berlinale-Chefs. Wie werden Chef A und Chefin B zusam­men­ar­beiten? In den Pres­se­be­richten dieser Tage ist gele­gent­lich zu lesen, es werde die von Grütters gewünschte Doppel­spitze wohl doch nur in einer abge­schwächten Form geben. Aber das sind Speku­la­tionen – von besser infor­mierter Seite hört man, da sei nichts dran. Die »deutsch­spra­chige« Frau sei keine derer, »deren Name im Umlauf ist, oder die sich selbst ins Gespräch gebracht haben«.

Die wich­tigste Frage für die Zukunft der Berlinale ist daher, wer welche Entschei­dungs­be­fug­nisse bekommt, und wie die Zusam­men­ar­beit zwischen den verschie­denen Bereichen laufen soll. Klarer­weise kann man Zustän­dig­keiten aufteilen. Aber ebenso klar ist, dass es bestimmte Fragen gibt, die solche Zustän­dig­keits­grenzen über­schreiten. Zwei Beispiele: Wenn der künst­le­ri­sche Leiter eine Sektion streichen will, oder eine andere neu schaffen – darf er dann darüber entscheiden? Denn die Entschei­dung kostet Geld, könnte Einnahmen redu­zieren, oder Ausgaben erfordern.

Oder: Wenn einer der beiden Direk­toren aus bestimmten Gründen den Termin der Berlinale verlegen will, betrifft das das komplette Festival? Wer entscheidet solche Fragen, falls sich die beiden Chefs nicht sowieso einig sind? Die Kultur­staats­mi­nis­terin?
Vom Film­fes­tival Locarno kann man jeden­falls lernen, dass man Kompe­tenzen auch nicht auf zu vielen Schultern verteilen sollte. Nur eine Handvoll Menschen ist dort beispiels­weise für die Film­aus­wahl zuständig – also für fast genauso viel Filme, die in Berlin von ganzen Auswahl­kom­mis­sions-Kohorten ausge­wählt werden.

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Anderes Thema. Dem Filme­ma­cher Wim Wenders scheint in den letzten Jahren in vieler Hinsicht die Gelas­sen­heit abhanden gekommen zu sein. Denn in den Inter­views zu seinem neuen Film entpuppt sich Wenders, zumindest früher ein Darling der deutschen Film­kritik, jetzt als Verächter unab­hän­giger Kritik.
Zum Beispiel diese Passage: »Wenn Sie sich meine Doku­men­tar­filme angucken, handeln die alle von Menschen, die ich mag und deren Kunst oder Arbeit ich so schätze, dass ich meine Freude oder Begeis­te­rung daran teilen will.Ich bin keiner, der etwas infrage stellen will. Das finde ich ziemlich unpro­duktiv. Heute ist das leider das Haupt­ge­schäft, vor allem von inves­ti­ga­tivem Jour­na­lismus und letzten Endes auch viel zu oft der Kritik.Als junger Mann habe ich mein Studium unter anderem mit Film­kri­tiken verdient. Dabei habe ich fast ausschließ­lich über Filme geschrieben, die ich mochte. Ich fand es eine Zeit­ver­schwen­dung, über Filme zu schreiben, die ich nicht mochte.«
Was für blöde Aussagen, was für ein erbärm­li­ches Verhältnis zur Kritik! Und wie verlogen. Denn natürlich hat Wenders auch Filme verrissen, wie man leicht nachlesen kann.

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Siegfried Kracauer Preis. Auch in diesem Jahr schreibt der »Verband der deutschen Film­kritik« (VDFK) gemeinsam mit den Film­för­de­rungen von NRW und Baden-Würt­tem­berg wieder den mit insgesamt 15.000 Euro dotierten »Siegfried Kracauer Preis« für Film­kritik aus – und erinnert damit an den inter­na­tional wohl wich­tigsten deutschen Film­kri­tiker, Film­his­to­riker und Film­theo­re­tiker Siegfried Kracauer.
Bewer­bungs­schluss ist der 1. September 2018, genaue Infor­ma­tionen gibt es unter der Inter­net­seite www.siegfried-kracauer-preis.de.

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Der Extre­mismus-Tourist Markus Söder, haupt­be­ruf­lich Wahl­kämpfer, im Neben­beruf Baye­ri­scher Minis­ter­prä­si­dent, ist offenbar unaus­ge­füllt. So unter­nimmt er nun eine Auswei­tung der Wahl­kampf­zone in die Film­po­litik, die er Medi­en­po­litik nennt. Am Freitag gibt es eine Pres­se­kon­fe­renz im Gasteig, bei der Söder höchst­per­sön­lich, flankiert von der Leiterin des Filmfests München Diana Iljine und dem stv. Aufsichts­rats­vor­sit­zenden des Filmfests, Medi­en­mi­nister Georg Eisen­reich, »über die geplante Weiter­ent­wick­lung des Münchner Filmfests zu einem Medi­en­fes­tival« infor­mieren will. Ziel der Weiter­ent­wick­lung sei es, »das Münchner Filmfest für Festi­val­be­su­cher noch attrak­tiver zu gestalten und so den Medi­en­standort Bayern insgesamt zu stärken«.
Diese Formu­lie­rungen lassen in ihrer Vagheit erstmal nichts Gutes ahnen. Statt einfach mehr Geld zu geben, soll aus dem Filmfest womöglich die neueste Spiel­wiese für die ober­gä­rige Landes­po­litik werden.
Und der Begriff »Medi­en­fes­tival« lässt darauf schließen, dass die Bedeutung des Kinos und des Films beim Filmfest eher margi­na­li­siert werden soll – dabei könnte man gerade von Medi­en­wis­sen­schaft­lern lernen, dass es Medien gar nicht gibt.

(to be continued)