23.11.2017
Cinema Moralia – Folge 166

Freie Fahrt für freie Filme?

High and Low
Herr Graf, jetzt aber keine Experimente mehr!
(Foto: ARD, »Tatort« von Dominik Graf, »Der rote Schatten«)

Oder digitaler Stacheldraht? Freiheit für den Tatort, aber Filme nur für Bayern, und freie Worte nur für die Bavaria – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 166. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Es gibt wenige so hinter­ge­dan­ken­reiche Denker, wie die Sophisten-Cultur, will sagen die Realisten-Cultur, ... diese unschätz­bare Bewegung inmitten des eben aller­wärts losbre­chenden Moral- und Ideal-Schwin­dels der sokra­ti­schen Schulen.«
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung (Nietzsche Werke Band. 2, S. 1029)

Mehr Aufmerk­sam­keit verdienen die inein­ander verzahnten Debatten um die Auswei­tung des Tele­me­di­en­auf­trags des öffent­lich-recht­li­chen Rundfunks und das Terri­to­ri­al­prinzip in Europa. Dazu hier nur ein paar kurze Gedanken – aber auch wenn ich viele Seiten geschrieben hätte, würden manche sagen, dass ich gar nichts verstanden habe.

Arg drama­tisch klingt jeden­falls das Gezeter, mit dem die deutschen Lobbys die »uferlose Auswei­tung des Tele­me­di­en­auf­trags des öffent­lich-recht­li­chen Rundfunks zulasten einer viel­fäl­tigen Medi­en­land­schaft in Deutsch­land« beklagen. Der Haken liegt daran, dass die, die da klagen, im Prinzip komplett am Tropf der ach so bösen Fern­seh­sender hängen, die sie angreifen.
Hinzu kommt, dass schwer zu begreifen ist, warum die Filme, die der Bürger mit seiner Haus­halts­ab­gabe längst bezahlt hat, denn dann nicht diesen Bürgern in den Media­theken auch gren­zenlos zur Verfügung stehen sollen?

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Ähnlich schräg ist die Kampagne der deutschen Produ­zenten gegen die EU, wofür sie sogar FAZ-Autoren instru­men­ta­li­sieren. Ausge­rechnet jene, die immer gegen Quoten fürs europäi­sche Kino waren und das Hohelied der freien Wirt­schaft singen, fordern nun Schutz­zölle und Barrieren, um deutsche Filme nicht euro­pa­weit in den Media­theken zu haben. Aber warum soll für Filme eigent­lich nicht gelten, was für alles andere in Europa gilt?

Nach der Logik der Produ­zenten, die auf dem Terri­to­ri­al­prinzip beharren, könnte man auch folgern: Was der BR alleine produ­ziert hat, soll man auch nur in Bayern sehen dürfen. Die Nord­lichter sollen gefäl­ligst extra bezahlen.
Warum gibt es eigent­lich kein »Terri­to­ri­al­prinzip« für Bayern und für das Saarland, Hessen nicht zu vergessen?
Weil Klein­staa­terei Unsinn ist! Genau!! Und die EU gibt es, um die Klein­staa­terei in Europa abzu­schaffen.

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Grund­sätz­lich gilt einmal: Dem Bürger gehört, was er bezahlt hat. In den deutschen Film­de­batten liegt die Lösung der Funk­ti­onäre aber immer nur in einer Einschrän­kung der Freiheit. Im Erhalt des Status quo statt Visionen.
Die Frage darf nicht sein, wie man den freien Film­ver­kehr und Film­ge­nuss in Europa (der auch dem Zusam­men­halt dienen könnte) möglichst stark weiterhin einschränken kann, die Frage müsste sein, wie die Produ­zenten in Zukunft im verei­nigten Europa genug und ange­mes­senes Geld verdienen. Fällt da den deutschen Funk­ti­onären nicht etwas anders ein als Grenzen und digitaler Stacheldaht?

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Poli­ti­sche Hygiene überall. Kaum ist etwas inter­es­sant, muss es einge­fangen werden: Tatsäch­lich ist die ARD ausge­rechnet in den Wochen der Debatten über Gebüh­ren­ver­wen­dung und Auswei­tung der Media­the­ken­nut­zung durch die Zuschauer dumm genug, sich gleich mehrere Blößen zu geben. »Schluss mit den Expe­ri­menten« lautete der Marsch­be­fehl für die Zukunft. Offiziell begründet wurde die Order mit »Tatorten«, bei denen kein Täter überführt wurde, oder gar wie im Horror­film Geister auftreten. Denn diese »expe­ri­men­tellen« Tatort-Folgen sorgen immer wieder für Diskus­sionen – weshalb sie zukünftig auf zwei pro Jahr reduziert werden sollen.

Den aus dem Osten stam­menden Berliner Kollegen Matthias Dell – »Der 'Tatort' wird genauso grau und mutlos werden, wie der größte Teil der vor sich routi­nie­renden ARD-Filme und Serien schon ist« – erinnerte dies gleich an das blutige Erbe des Stali­nismus. Ich würde da eher von Popu­lismus sprechen, das ist ja fast noch schlimmer. Denn die Zuschauer in ein Umer­zie­hungs­lager zu stecken, aus dem sie gehirn­ge­wa­schen mit besserem Geschmack wieder heraus­kommen, das wäre doch etwas. ARD-Programm­di­rektor Volker Herres dagegen schlägt sich in seiner Pres­se­er­klärung auf die Seite all der Couch-Potatos, die schon vier Helle intus haben, wenn bei der Tages­schau die Wetter­karte kommt, sich dann wundern, wenn sie den »Tatort«-Ermitt­lungen nicht folgen können, und darum nur noch den Müns­te­raner Tatort mit Liefers und Prahl lustig finden. Oder die gleich derart grenz­debil sind, dass sie auch der Bild­schirm­text in »leichter Sprache« über­for­dert. »Wir wollen«, so Herres »den 'Tatort' nicht kreativ beschneiden und eindampfen. Aber er muss den Marken­kern des Sonn­tags­krimis aufrecht­erhalten und darf sich nicht in Spie­le­reien verirren, die kein Zuschauer mehr versteht.«

Derar­tiges beweist wieder, dass die ARD selbst den »Tatort« und seinen Erfolg nicht begreift. »Tatort« war immer Expe­ri­ment: Kressin, Haferkamp, Schi­manski waren zu ihrer Zeit Provo­ka­tionen. Es beweist auch, wie extrem kunstfern die Leitungs­gre­mien der ARD sind – und leider finan­zieren die gleichen Leute der ARD-Sender ja auch das deutsche Kino mit.

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Manches, »wovon man in Deutsch­land pein­li­cher­weise immer noch glaubt, es sei 'expe­ri­men­tell'«, gehöre längst zur inter­na­tio­nalen Film­sprache, sagte auch Regisseur Dominik Graf, der eine neue Lange­weile befürchtet. Um Filme und Qualität beur­teilen zu können, brauche es »sehr viel Kino­er­fah­rung und sehr präzises, objek­tives Stil­ge­fühl«.

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Ob es nicht andere Gründe für den Kontroll­wahn der ARD-Oberen gibt? Dominik Grafs Stutt­garter »Tatort« Der rote Schatten drehte sich um die RAF und die bekannten Speku­la­tionen und Verschwörungs­theo­rien, nach denen die Stamm­heimer Häftlinge vor vierzig Jahren vom Staat ermordet wurden.
In der »Bild«-Zeitung schimpfte Stefan Aust, nicht weniger popu­lis­tisch als Herres: »Ich kann nicht verstehen, dass zur Haupt­sen­de­zeit im öffent­lich-recht­li­chen Fernsehen so ein gefähr­li­cher Unsinn verbreitet werden kann.« Mit anderen Worten: Aust versteht nicht, warum der Graf-»Tatort« nicht zensiert wurde. Um Zensur nämlich geht es. Wieder mal, wie immer bei guter Zensur, im Namen des Volkes, im Namen der Zuschauer, die die Handlung nicht verstehen oder sie moralisch, politisch nicht akzep­tieren.
Willi Winkler spottete dazu ange­messen im Deutsch­land­funk: »Herr Aust … hat seine Karriere auf dem Mythos RAF aufgebaut. Und er hat die Vorlage geliefert für den Baller-Film Der Baader Meinhof Komplex. Also: Wer ist er, um das zu sagen?«

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Gegen die ARD-Ideen protes­tiert auch Michael Kötz, einst Film­kri­tiker und seit langem Direktor des Festivals von Mannheim-Heidel­berg und des »Festival des deutschen Films« in Ludwigs­hafen (für die ich arbeite, um das nicht ungesagt zu lassen), fordert »Freiheit für den Tatort!« gegen »diese Haltung der Indok­tri­na­tion des Publikums«, gegen die Absicht der ARD, die Freiheit der Kunst zu beschneiden und eine Ober­grenze einzu­führen. »Es steht in einer ganz schlechten poli­ti­schen Tradition, wenn der ARD-Koor­di­nator Jörg Schö­nen­born, Poli­to­loge und Jour­na­list, mit seinem ›Kontroll­kom­mitee‹ festlegen möchte, wann ein 'Tatort' zu expe­ri­men­tell sei für den Zuschauer und wie oft man ihm dies zumuten könne. Der ›Tatort‹ ist Kunst und keine sozio­lo­gi­sche Reportage. … Schö­nen­born … und die Koor­di­na­ti­ons­runde der ARD werden damit zu Mithel­fern einer konser­va­tiven gesell­schaft­li­chen Rück­wärts­be­we­gung, die sie poli­to­lo­gisch vermut­lich zugleich beklagen würden. Denn sie bestärken die Menschen darin, fremd­ar­tige ästhe­ti­sche Erfah­rungen so wenig zuzu­lassen wie manche die Fremd­ar­tig­keit zuge­wan­derter Menschen ablehnen.«

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Zu solchen Versuchen der Kontrolle, der Zensur, der Indok­tri­na­tion gehört auch ein Vorgang bei der kleinen feinen Bavaria. Gegängelt werden soll in diesem Fall zunächst die Presse, dann, mittelbar dadurch, die Öffent­lich­keit. Durch das, was im Jargon »Embargo-Regelung« genannt wird.

Nach­fol­gendes Dokument wurde zunächst an die Pres­se­ver­treter geschickt, dann nach Protesten zurück­ge­zogen. Aber es illus­triert, welcher Geist in PR-Etagen zu oft waltet:
»Ich, [NAME EINSETZEN], nehme hiermit zur Kenntnis, dass die Inhalte aller Inter­views, die am Tag des Set Visits / Pres­se­tags für DAS BOOT geführt werden, nur in Absprache mit BAVARIA FICTION und zu einem im Vorfeld verein­barten Termin veröf­fent­licht werden dürfen. Dazu zählen sowohl Round­table-Gespräche als auch die an diesem Tag geführten Einzel­in­ter­views mit dem Cast und Produk­ti­ons­team.
Ohne schrift­lich einge­holte Erlaubnis der BAVARIA FICTION werde ich weder Zitate, noch andere Teile der Inter­views, an andere Publi­ka­tionen oder Jour­na­listen weltweit weiter­geben oder verkaufen.
Weiterhin nehme ich zur Kenntnis, dass vor Ort aufge­nom­menes Bild­ma­te­rial nicht veröf­fent­licht oder verkauft werden darf. Offi­zi­elle Pres­se­fotos werden von BAVARIA FICTION zur Verfügung gestellt.
Ich garan­tiere hiermit die Einhal­tung der oben genannten Punkte.«

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Lauter gute Nach­richten: In Leipzig haben sie beim Dok-Festival eine Frau­en­quote einge­führt. Nur für deutsche Filme. Ob das hilft? Tatsäch­lich geht es bei der Frage der Gleich­be­rech­ti­gung von Frauen nicht um Extra­plätze für Frauen, egal was für schlechte Filme sie auch gedreht haben mögen (das heißt nämlich »Quote« im Klartext), sondern um viel profaners: Geld.

Einen inter­es­santen Text schrieb dazu Gary Susman im ameri­ka­ni­schen »Rolling Stone«: »Where Are All the Female Film­ma­kers?«, fragte er. Nur neun Prozent der einnah­me­träch­tigsten Filme in Hollywood stammen von Frauen – ein unglaub­li­ches Ungleich­ge­wicht.
Regis­seu­rinnen, so der Autor, können Produ­zenten gar nicht mit ihren Erfolgen an der Kasse beein­dru­cken, weil sie das Geld nicht bekommen, um solche Erfolge zu erzielen.

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Wer jetzt an dieser Stelle eine weitere Fort­füh­rung der von der „Me-too-Debatte“ zur „Sexismus-Debatte“ gewor­denen „Weinstein-Debatte“ erwartet, den muss ich enttäu­schen. Oder zumindest vertrösten. Natürlich juckt es mich, auf die liebe­vollen Zeilen der »Frau von artechock« letzte Woche post­wen­dend zu antworten. Kommt schon noch. Aber die Frau findet ja auch, dass es Wich­ti­geres gibt, und erstmal soll sie meinet­wegen das letzte Wort haben. Sonst heißt es ja wieder…

Beruhigen können wir aller­dings jenen bangen Leser, der wissen wollte, ob es wirklich nur eine einzige Frau bei artechock gäbe? Nein, es gibt mehrere Auto­rinnen. Und viel­leicht sollten wir bald mit geschlechts­neu­tralen Pseud­onymen arbeiten, oder ich mich Theodora Tigerin und sie sich Pedro Panther nennen, um die Leser ein wenig zu verwirren. Denn Verwir­rung, da verstehe man mich nicht falsch, ist ein guter Zustand. Er hält das Hirn in Bewegung.

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Vorvorige Woche war »das Thema« dann zunächst Sujet bei »Maisch­berger«, nachdem die ARD die ungemein geschmack­volle Idee hatte, einen recht dünnen Fern­seh­film über einen Mann auszu­strahlen, der zu Unrecht der Verge­wal­ti­gung beschul­digt wird und daran zugrunde geht. Zu Unrecht! Das gibt es, aber was hatte das mit »Me Too« zu tun? Hannes Jaenecke spielte das Opfer und gab dann bei Maisch­berger den gaaanz vers­tänd­nis­vollen Muster­mann, der seinen Geschlechts­ge­nossen mal so richtig die Meinung geigte. Da rutschten dann mehrere Frauen in der Runde schon etwas nervös auf den Leder­ses­seln.

Bei Anne Will erlebte man Freundin und Film­kri­tiker-Kollegin Heike-Melba Fendel, großartig wie immer und um Diffe­ren­zie­rung bemüht, aber leider so heiser, dass sie von der ihr intel­lek­tuell nicht eben­bür­tigen Sitz­nach­barin immer wieder unter­bro­chen und talk­show­mäßig nieder­ge­redet werden konnte – eine Illus­tra­tion, dass Macht, nicht Testos­teron böse macht.

Wenn dann so eine wie Ursula Schele (Bundes­ver­band Frau­en­be­ra­tungs­stellen und Frau­en­not­rufe) dann mit ihrem halbgarem, intel­lek­tuell unter­le­genen Ressen­ti­ment ein Monopol auf den Begriff »Femi­nistin« erheben darf, dann müssen wir alle doch aufpassen, dass Femi­nismus nicht zum Wort wird für verbit­terte, verbies­terte Männer­feind­lich­keit und Verach­tung aller Frauen, deren Selbst­be­stim­mung den selbst­er­klärten Hohe­pries­te­rinnen der Frau­en­rechte nicht in den Kram passt.

Nachdem ich die Sendungen gesehen habe, verstehe ich die Wut und den Charakter des Protests schon wieder ein bisschen besser – allein die Einla­dungs­liste, Anmo­de­ra­tion der Gäste und die Fragen sprachen in ihrer offenen Tendenz Bände. Und über die Kamera-Bewe­gungen entlang der Beine von Verona Pooth haben schon alle geschrieben. Nur waren halt für beide Sendungen Frauen leitend verant­wort­lich. Immerhin lädt man Alice Schwarzer nicht mehr ein, vermut­lich weil sie die Talk-Shows dann in eine Plattform für anti­is­la­mi­sche Hetze umfunk­tio­nieren würde.
Die Tatsache, dass der von Harvey Weinstein ausgelöste öffent­liche Aufruhr nun auch die ARD-Talkshows erreicht hat, zeigt aber vor allem, wie es um diese Debatte steht. Maisch­berger und Anne Will binnen einer Woche – das ist das Ende.

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Inhalt­lich hat das »artechock – Pro&Contra« der Vorwoche zum Kinofilm Fikke­fuchs ja schon alles gesagt. Im Zuge der neuesten Aufre­gungen erscheint der Film aber in nochmal neuem Licht: In Frankfurt und München darf nämlich mit dem dazu­gehö­rigen Film­plakat nicht geworben werden. »Zu sexis­tisch« heißt es.
Denn das Plakat ist eine recht abstrakte Zeichnung, die dennoch deutlich die Konturen eines Fuchs im Schoß einer Dame zeigt.
Das ist politisch offenbar nicht korrekt genug für die Stadt Frankfurt sowie die SWM/MVG München. Beide Insti­tu­tionen weigern sich, das Film­plakat auf ihren Werbe­flächen zu plat­zieren. Motiv und Filmtitel verstoßen angeblich gegen »die guten Sitten«. Der Film­ver­leih Alamode Film verweist auf die Freiheit der Kunst und will das Verbot nicht akzep­tieren. Bei dem Film handle es sich um ein künst­le­ri­sches Projekt und somit Kulturgut.

(to be continued)